In seinem als Video-Mitschnitt dokumentierten Eingangsstatement vor dem Untersuchungsausschuss erklärte Christian Drosten, „Schutz- und Vorsichtsüberlegungen“ seien „ganz wichtige Elemente“ gewesen „bei frühen Entscheidungen zum Thema Schulschließungen“. Es sei unklar gewesen, ob Kinder „Folgesymptome“ nach einer Infektion entwickeln, „die einzelne Organsysteme betreffen oder die Entwicklung von Kindern beeinträchtigen“. Bei anderen Viren komme das vor. Wie Velázquez berichtet, habe Drosten in der anschließenden Fragerunde ausgeführt, dass derartige „Drohszenarien“ nur politischen Entscheidungsträgern mitgeteilt worden seien und nicht der breiten Öffentlichkeit, um diese nicht zu verängstigen.
Velázquez argumentiert, dass Drosten mit seinen eigenen Empfehlungen (1, 2, 3, Youtube-Video) „maßgeblich“ zu den Schulschließungen in Deutschland beigetragen habe, was er allerdings bis heute abstreite. Anders als in seinen jetzigen Ausführungen vor dem Untersuchungsausschuss habe Drosten in der Vergangenheit aber an „keiner Stelle“ Schulschließungen „mit einer Sorge um mögliche Covid-19-Folgeerkrankungen der Kinder“ begründet. Im Zentrum der öffentlichen Begründungen habe vielmehr die Annahme gestanden, offene Schulen würden wesentlich zum Infektionsgeschehen und zur Übertragung „zwischen Altersgruppen“ beitragen, wie Drosten etwa in einer Folge seines NDR-Podcasts im Dezember 2020 ausführte.
Vor dem Untersuchungsausschuss habe Drosten die Corona-Maßnahmen in der ersten und zweiten Welle unter anderem damit begründet, dass es in der Bevölkerung „gar keine“ Immunität gegen das Virus gegeben habe. Velázquez weist in ihrem Bericht darauf hin, dass dieser Behauptung „namhafte Immunologen“, wie etwa Andreas Radbruch, widersprechen. Sie verweist zudem auf eine Studie, die im April 2020 im Wissenschaftsmagazin „Nature“ erschien und an der Drosten selbst beteiligt war. Die Studie konnte bei 35 Prozent der Probanden, die noch nie mit dem Corona-Virus in Kontakt gekommen waren, reaktive T-Zellen gegen das Virus feststellen. Drosten selbst sprach in seinem Podcast im gleichen Monat davon, „dass eine gewisse Hintergrundimmunität in der Bevölkerung besteht“.
Velázquez Ausführungen zufolge, spielte Drosten seinen politischen und medialen Einfluss während der Corona-Krise vor dem Untersuchungsausschuss herunter: „Die Wahrnehmung der Abgeordneten, er sei medial ‚sehr präsent gewesen‘ teile er nicht.“ Vielmehr sei sein Podcast beim NDR lediglich viel zitiert worden. Seine intensive Politikberatung sei insbesondere in die erste Phase der Pandemie gefallen und habe „vielleicht bis hin zum Herbst 2020“ angedauert. Die Beratung habe er dann erst wieder im Expertenrat von Olaf Scholz im Dezember 2021 aufgenommen. Velázquez schreibt, diese Aussage sei „nicht korrekt“. Sie zitiert aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der AfD vom September 2021. Demnach beriet Drosten noch am 4. und 18. Januar 2021 die Ministerpräsidentenkonferenz. Velázquez führt aus, Drosten habe mit der Betonung auf Herbst 2020 möglicherweise andeuten wollen, „er hätte mit dem zweiten Lockdown wenig zu tun gehabt – doch gleich zwei seiner drei Auftritte vor der Ministerpräsidentenkonferenz fielen genau in die Zeit des zweiten Lockdowns“.
Zugleich habe Drosten Velázquez’ Einschätzung nach vor dem Untersuchungsausschuss ein „autoritär geprägtes Wissenschaftsverständnis“ präsentiert. Er habe sich dafür ausgesprochen, dass bestehende Wissenschaftsinstitutionen „fachkompetente Experten aus den eigenen Reihen“ benennen sollten, um eine wissenschaftliche „Kakophonie“ in der öffentlichen Diskussion zu vermeiden. Velázquez beobachtete zudem, dass Drosten „entweder aggressiv oder auffallend defensiv“ reagiert habe, sobald die Fragen im Ausschuss „kritischer“ geworden seien.
Lediglich zwei Fehleinschätzungen aus der Corona-Zeit habe Drosten in der Anhörung zugegeben. Dazu gehört die Befürwortung einer einrichtungsbezogenenen und allgemeinen Impfpflicht in einer Leopoldina-Stellungnahme vom 27. November 2021, an der er beteiligt gewesen war. Hintergrund des Papiers sei laut Drosten gewesen, „dass man als Mediziner vorangehen müsse, sonst würde die Politik das nie in der gesamten Bevölkerung ‚verargumentieren‘ können“. Inzwischen halte er die Stellungnahme für die „größte Fehleinschätzung“, an der er beteiligt gewesen sei.
Velázquez weist darauf hin, dass Drosten noch im Oktober letzten Jahres in einem Interview mit „T-Online“ behauptet hatte, er habe „nie eine Impfpflicht gefordert“. Nachdem die „Berliner Zeitung“ dies mit Hinweis auf die Leopoldina-Stellungnahme als Falschaussage nachgewiesen hatte, präsentierte Drosten vor dem Untersuchungsausschuss nun ein „leicht angepasstes Narrativ“. Demnach habe er „in den Medien“ nie eine Impfpflicht gefordert. Auch das ist Velázquez’ Recherchen zufolge jedoch „nur teilweise richtig“. Die Journalistin erinnert daran, dass Drosten das sogenannte 1G-Modell empfohlen hatte, falls Kontaktbeschränkungen nicht die erhoffte Wirkung zeigen sollten, dem „Tagesspiegel“ sagte Drosten damals: „und das G heißt dann geboostert“.
Drostens zweite Fehleinschätzung beziehe sich auf die Prognose hoher Corona-Todeszahlen im Globalen Süden und die Erwartung, die Situation in Afrika werde „sehr schlimm“. Dem Magazin „Stern“ hatte Drosten im März 2020 gesagt: „Wir werden noch erleben, dass die Leute daran auf den Straßen sterben in Afrika“. Die Anhörung soll am 21. August um 10 Uhr fortgesetzt werden.
*Dieser Beitrag erschien zuerst im Online-Magazin Multipolar. Der erste Absatz (Anlauf) wurde leicht gekürzt.
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