11. 07. 2021 | Hören | Die ehemalige Vorsitzende der Linkspartei, Katja Kipping, sieht sich bemüßigt, bei ihrer Kritik an Negativzinsen für Bankguthaben die Europäische Zentralbank (EZB) ausdrücklich in Schutz zu nehmen. Diese erstaunlich naive Zuneigung zu einem Sturmgeschütz des Neoliberalismus in Europa ist leider nicht untypisch für Linkspolitiker.
Negativzinsen seien Diebstahl, hatte Kipping provokant getwittert und diese Provokation dann zum Thema einer längeren Kolumne auf dem Nachrichtenportal n-tv.de gemacht. Darin betont sie, dass ihre Kritik sich nicht auf die EZB erstrecke, die diesen Trend zu Negativzinsen auf Bankeinlagen herbeigeführt hat. Schon indem sie schreibt, „die Negativzinsen, die Banken gegenüber Privaten erheben, hängen auch mit der Niedrigzinspolitik beziehungsweise Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zusammen“, relativiert sie die Rolle der EZB. Es gibt keinen in seiner Bedeutung vergleichbaren zweiten Grund für die Negativzinsen. Das „auch“ ist beschönigend. Weiter schreibt sie:
„„Rein ökonomisch betrachtet dient die Niedrigzinspolitik in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise dazu, Unternehmen und öffentlichen Haushalten Anreize zu geben, Geld zu investieren anstatt anzulegen. Und diese Investitionen beziehungsweise Ausgaben können die schwächelnde Wirtschaft ankurbeln. Diese Politik ist richtig und notwendig.“
Das mit den Anreizen für Unternehmen und öffentliche Haushalte zu investieren ist im Prinzip richtig, aber es ist nur eine Nebenwirkung der Niedrigzinsen, jedenfalls wenn man „investieren“ als „investieren in Produktionsanlagen“ versteht. Es gibt noch eine andere Bedeutung von investieren, die bei dieser gebräuchlichen Rechtfertigung der EZB-Politik ausgeblendet wird, nämlich Finanzanlagen in Aktien, Anleihen, Immobilien, Gold, Kunst, Bitcoin etc.
Diese Art des „Investierens“ wird in viel größerem Umfang durch die Geldpolitik der EZB und anderer Notenbanken gefördert. In riesigem Umfang kaufen Unternehmen Aktien zurück, anstatt in mehr oder bessere Produkte zu investieren, leihen sich Investoren Geld um Aktien, Immobilien, Rohstoffe oder gleich ganze Unternehmen zu kaufen.
Das treibt die Preise von all diesen Vermögenswerten nach oben, trotz der desolaten Wirtschaftslage, und macht die Reichen immer reicher. Denn es sind nun einmal die Vermögenden, die die große Masse der Vermögenswerte besitzen. Ganz abgesehen davon wird so die nächste gefährliche Finanzblase aufgeblasen, nach der New-Economy-Blase, die um die Jahrtausendwende und der Immobilienblase, die 2008 platzte.
Kipping und die vielen, die ähnlich argumentieren, haben allenfalls Recht, solange man annimmt, das es zum von der EZB gewählten Instrumentarium und ihrer geldpolitischen Strategie keine grundsätzliche Alternative gibt.
Es gibt bessere Alternativen
Es gibt aber genügend bessere Alternativen zu der Strategie, den Banken ohne Verwendungsauflagen massenhaft Geld zu schenken, das diese nutzen, um Aktienrückkäufe von Unternehmen, Unternehmensübernahmen, Aktienkäufe von Investoren und Ähnliches zu finanzieren.
Eine Möglichkeit ist das sogenannte Helikoptergeld. Anstatt das Geld in einen schlecht funktioierenden Bankensektor zu pumpen, könnte die EZB das Geld direkt den Bürgern und Unternehmen aufs Konto überweisen. Für Nachfrage wäre so gesorgt, ohne eine Vermögenspreisblase zu riskieren.
Eine andere Alternative wäre, dass die Notenbank nur die Finanzierung produktiver Investitionen mit Negativzinsen fördern würde, nicht aber Finanzinvestitionen. Die Banken bekämen nur Geld geschenkt, um Investitionskredite und Kredite für den Bau neuer Häuser zu finanzieren.
Es gibt jede Menge andere Möglichkeiten. Aber leider sind sogar die meisten Politikerinnen der Linken in dem von der EZB propagierten Denkmuster gefangen und haben die Fähigkeit verloren, sich etwas anderes vorzustellen. Kritik gibt es eigentlich nur von Seiten der Rechten, von der FDP und der AfD, aber meist mit falschen oder mindestens schiefen Argumenten.
Sturmgeschütz des Neoliberalismus
Dass Kipping und andere Linke so bereitwillig und kritiklos den Denkrahmen der EZB übernehmen, erstaunt vor allem deshalb, weil die EZB in der Vergangenheit oft genug deutlich gemacht hat, dass sie nicht auf Seiten der Arbeitnehmer, sondern allein auf Seiten des Kapitals steht.
Die Strategie der Inflationssteuerung ist im Kern eine Strategie der Lohnbegrenzung. Den Gewerkschaften wurde verdeutlicht, dass sie keine Chance haben würden, die Verteilung des Produktionsergebnisses zu Gunsten der Beschäftigten zu verändern. Denn höhere Lohnsteigerungen würden, so die Grundannahme, zu höherer Inflation führen, auf die die Notenbank mit höheren Leitzinsen reagieren würde, um höhere Arbeitslosigkeit und damit Lohnzurückhaltung zu erreichen.
Die Annahme, dass höhere Lohnsteigerungen zu höherer Inflation führen würden, ist gerechtfertigt, soweit man die Höhe der Gewinne und die Vergütungsansprüche des Kapitals als unabhängig gegeben annimmt. Das tut die EZB nicht nur, sondern sie trägt mit ihrer Strategie und Politik maßgeblich dazu bei, die Vergütungsansprüche der Kapitalbesitzer vor konkurrierenden Ansprüchen zu schützen.
Man braucht aber nicht einmal solche volkswirtschaftlichen Zusammenhänge zu durchdringen, um zu sehen, dass die EZB eine Feindin der Arbeitnehmerinteressen ist. Nachdem sie nichts getan hatte, die gefährliche Immobilienblase in Spanien, Griechenland, Italien, Irland und anderen Ländern zu verhindern, tat sie alles, um dafür zu sorgen, dass die Banken teuer vom Staat gerettet wurden und dass den Arbeitnehmern die Kosten in Form von Rentenkürzungen, zusammengestrichenen Sozialleistungen und Abbau von Arbeitnehmerrechten aufgebürdet wurden.
Regierungen, die das nicht mitmachen wollten, erpresste die EZB, indem sie entweder ihren Banken den Geldhahn zudrehte (Griechenland), damit drohte (Irland), oder indem sie den Regierungen brieflich androhte, deren Anleihen von EZB-Kaufprogrammen auszunehmen und dadurch einen Käuferstreik der Anleiheinvestoren zu provozieren, der diese Regierungen in den Ruin getrieben hätte.
Schön dass Katja Kipping so besorgt ist, diese Institution von jeglicher Kritik freizuhalten. In eine Linke, die zwar eine sozialere Politik fordert, aber davor zurückscheut, eine der mächtigsten Verhinderer sozialer Politik in Europa zu kritisieren, braucht man keine Hoffnung zu setzen.
Ausführlicher beleuchte ich diese Zusammenhänge in Teil 2 meines im Oktober erscheinenden Buches zum „Endspiel des Kapitalismus“. Er ist überschrieben mit „Das Wesen des heutigen Kapitalismus“ und hat Unterkapitel zur Rolle des Finanzsektors und zu „Notenbanken im Dienste des Kapitals. “ Das Buch ist vorbestellbar.