Dirk Löhr.* Leben wir in einer Marktwirtschaft, in einer Leistungsgesellschaft? Folgt man Ökonomen wie Joseph E. Stiglitz, Michel Hudson oder Matthew Rognlie, steuern wir immer mehr auf einen Rentier-Kapitalismus zu.
Wo die Jagd nach ökonomischen Renten dominiert, ist der marktwirtschaftliche Wettbewerb auf dem Rückzug. Brutstätten ökonomischer Renten sind vor allem Finanzbranche und Immobiliensektor.
Doch auch geistige Eigentumsrechte und nicht zuletzt das Privateigentum an Grund und Boden spielen eine große Rolle. Schon vor rund 200 Jahren prophezeite der britische Ökonom David Ricardo, dass die großen Profiteure von Bevölkerungszunahme und landwirtschaftlicher Produktivität nicht die „kapitalistischen“ Pächter, sondern die Grundeigentümer sein würden.
Freilich, Ricardo hatte eine Agrargesellschaft vor Augen. Handelt es sich bei seiner These also um „Schnee von gestern“, und ist sie für eine digitalisierte Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft bedeutungslos?
Eigentlich sollte die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) diese Frage beantworten können. Aber: Fehlanzeige. Nach dem Vorbild der Neoklassik, welche die Produktionsfaktoren Boden und Kapital zusammenrührt, bildet auch die VGR nur zwei Töpfe: in dem einen stecken die Arbeitnehmereinkommen.
Der zweite, die „Unternehmens- und Vermögenseinkommen“, ist ein Eintopf: Er enthält kalkulatorische Unternehmerlöhne, Risikoprämien, Boden- und Kapitaleinkommen sowie Monopolrenten.
Nun verlor jedoch die Vergütung für den Faktor Kapital schon vor Mario Draghis „whatever it takes” in der Einkommensverteilung relativ an Bedeutung. Beschleunigt wurde dies durch die Druckbetankung der Finanzmärkte durch die Europäische Zentralbank (EZB) mit Liquidität.
Der Faktor Arbeit gewann zwar in der letzten Dekade hinzu, aber nicht dramatisch. Ein Beitrag aus der März-Ausgabe der Fachzeitschrift „Wirtschaftsdienst“ kürt den Sieger: Es ist der dritte Faktor, Boden. Er zieht mittlerweile den größten Teil der Unternehmens- und Vermögenseinkommen an sich. Doch auch andere ökonomische Renten dürften an Bedeutung gewonnen haben.
Die Grundsteuerreform hätte die Chance geboten, diesen Trend wenigstens zu bremsen. Über eine Bodenwertsteuer hätte man die steigenden Bodenrenten gezielter abschöpfen können. Das Komplementärprogramm: eine Absenkung herkömmlicher Abgaben, die vor allem Verbrauch, Arbeit und produktive Investitionen belasten, die anreizhemmend wirken und kostspielige Ausweichreaktionen provozieren.
Nicht so bei der Bodenwertsteuer – auch der beste Steuerberater kann den Boden nicht nach Luxemburg bringen. Für den liberalen Ökonomen Milton Friedman war die Bodenwertsteuer daher „die beste von allen schlechten Steuern“. Eine Steuer-Umschichtung hin zur Bodenwertsteuer bedeutet daher weniger Sand im Getriebe der Volkswirtschaft, und damit ein Netto-Plus.
Beispiel Singapur: Der Boden in dieser sehr liberalen, meritokratisch orientierten Volkswirtschaft gehört größtenteils dem Staat. Dieser speist einen erheblichen Teil seines öffentlichen Haushalts aus Bodenerträgen. Herkömmliche Steuern wurden hingegen stark heruntergefahren. Auch dies dürfte ein Grund dafür sein, dass Singapur seine ehemalige Kolonialmacht Großbritannien in wirtschaftlicher Hinsicht innerhalb weniger Jahrzehnte überholen konnte.
Die Chance auf ein „Umsteuern“ wurde in Deutschland mit der Grundsteuerreform 2019 jedoch in fantasieloser Weise vertan. Man fährt offenbar lieber mit angezogener Handbremse.
*Dirk Löhr ist Professor für Steuerlehre und Ökologische Ökonomik an der Hochschule Trier.