Von Albert F. Reiterer
Rezensionen sind gewöhnlich fad. Und wenn eine Polemik daraus wird, tritt man den meisten Lesern zu nahe: Es gibt allerdings Publikationen, an denen man nicht vorüber gehen sollte. Manchmal wegen des Inhalts, manchmal wegen der Herausgeber. Letzteres gilt für Die 10 Mythen der Eurokrise. Herausgeber ist das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Gegründet vom DGB, darf man es wohl als Sprachrohr der deutschen Gewerkschaften bezeichnen. Man sieht also mit Interesse hin, welche Positionen diese gewerkschaftsnahen Ökonomen vertreten.
Als Linker ist man heute stets geneigt, den Gewerkschaften einen Vertrauensvorschuss zu geben, weil sie im Schussfeld der ultrakonservativen Ideologen stehen. Zu Unrecht. Die Eliten selbst wissen durchaus, was sie an den Gewerkschaften haben. Sie gehören zu den wichtigsten Stabilisatoren des Systems. Aber sie haben eben auch höchst ambivalente Züge. Manchmal wollen sie hartnäckig mehr Lohn…
Seit einem Jahrhundert bilden Gewerkschaften im deutschen Sprachraum den rechten Flügel der Sozialdemokratie. Seitdem diese zum Transmissionsriemen neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik wurde, gilt dies für die Gewerkschaften in noch viel stärkerem Ausmaß. Die komplexe hegemoniale Struktur der EU, mit ihrem Zentrum in Brüssel, welches von einem anderen Zentrum, Berlin-Frankfurt, teilweise abhängt, erzeugt immer größere Unzufriedenheit, und zwar selbst bei der Bevölkerung des Hegemonialstaats. Aber Die Linke in Deutschland ist nicht bereit, diesen Unmut aufzugreifen. Zu sehr ist sie auf Regierungsbeteiligung und ihren „Weg nach Godesberg“ beschäftigt. So wenden sich erhebliche Teile der Bevölkerung an ein anderes Anbot, an die Alternative für Deutschland (AfD). Aber die positioniert sich gesellschaftspolitisch eindeutig rechts.
Was liegt für die Eliten näher als jene einzusetzen, die aus der Tradition heraus noch immer in gewissem Maß als die Vertreter der Arbeitenden gelten? Der DGB muss her. Der schickt nun seine Experten los. Sie sollen offenbar eine umfassende Schulungs-Unterlage für die Betriebsräte und Mitglieder erstellen und diesen auch schon skeptischen Personenkreis pro Euro indoktrinieren.
Ob das mit dieser Broschüre gelingt? Die Zweifel sind erheblich. Nicht nur geht sie zu sehr gegen die Erfahrungen des Zielpublikums. Das Niveau ist überdies so angesetzt, dass sich nicht wenige davon verhöhnt fühlen dürften. In der Einleitung diagnostizieren die zwei Editoren eine „Demokratiekrise“. Aber sie benennen nicht die EU, die Kommission, den EuGH, den Rat oder auch das Parlament. Die bauen systematisch alle Möglichkeiten nicht affirmativer Beteiligung an Entscheidungen, an der Selbstbestimmung der europäischen Bevölkerungen ab. Sie rücken die Partizipation weit weg von den Menschen und machen sie damit unmöglich. Die „Demokratiekrise“ sehen die Herren dagegen im Sinken der Wahlbeteiligung an einer Wahl zum EP. Haben doch die meisten Menschen längst die Vergeblichkeit eingesehen, über eine solche Wahl irgend etwas zu bewegen. Also bleibt die Nichtbeachtung die einzige rationale Alternative.
Sodann erklärt uns Thomas Fricke leicht fasslich, dass die Krise keine Staatsschuldenkrise sei. Die Euro-Krise ist vielmehr eine nervöse Zuckung ängstlicher, dem Herdentrieb folgender „Anleger“, nicht Spekulanten, einer „typisch-tückischen Eigendynamik von Finanzmärkten“ (15), wo „der Virus“ (13) im „Dominoeffekt“ (12) wegen der No-bailout-Klausel (18) ganz unmotiviert von einem Peripherie- Land zum anderen springt. Und er erklärt es mit der „modernen Theorie“ (13): Das „tiefere Phänomen“ ist die „Dysfunktionalität der Finanzmärkte“ (12) angesichts „multipler Gleichgewichte“ (14). Damit ist das Niveau der Broschüre vorgegeben.
Die wachsenden Divergenzen in der Produktivität und die Unmöglichkeit, mit Ab- oder Aufwertungen darauf zu reagieren? Nie gehört! Die Finanzkrise hat als Bankenkrise wegen der ständig wachsenden Ungleichheit und den kriminellen Versuchen (nicht nur) in den USA, das zu vertuschen, begonnen? Aber geh, wen interessiert dies schon! Die Maastricht-Kriterien und die No-bailout-Klausel waren der wohlüberlegte Versuch, die anderen Wirtschaften auf deutsche Art zu disziplinieren und eine eigenständige Wirtschaftspolitik unmöglich zu machen? Aber das war doch nur ein kleines Versehen! Das Modell Genickbruch, seinerzeit von Kohl und Köhler der DDR gegenüber erfolgreich angewandt, sollte auf ganz Europa übertragen werden? Wer denkt denn so was! Richtig ist allerdings, dass dieses Modell Genickbruch sich in seinem verführerischen Charme für die deutsche Regierung so verselbständigte, dass nicht wenige deutsche Politiker es auf einen Zerfall der Währungsunion ankommen lassen wollten. Erst Ende 2012 realisierte einige aus der deutschen Elite, dass der politische Schaden z.B. eines „Grexit“ auch für sie hoch sein würde. Da gab die Merkel-Regierung Gegensteuer. Aber da hatte die Krise ihre Wirkung ohnehin schon getan, und besser als erwartet. Jene Regierungen, die man schocken wollte, vor allem die Berlusconi-Partie, hatten schon aufgegeben. Dort saß bereits ein Reichkommissar namens Monti. Und der Fiskalpakt und das Europäische Semester war beschlossene Sache.
Der nächste Artikel von Henning Meyer ist nicht besser. Er bemüht sich, weit offene Scheunentore einzurennen. Dass Steuererhöhungen „oft“ die breite Masse treffen (29), ist ja wahrlich eine Überraschung. Aber die Troika, welche diese „Sparpolitik“, die Rückentwicklung zur Dritten Welt, in Südeuropa durchsetzt, und die jetzt auch vor den Toren Italiens und Frankreichs steht, kommt kein einziges Mal vor. Das ist eine Konstante des Buchs. Wir werden auf einen „europäischen Neustart … mit einer neuen Kommission“ (31) vertröstet, einen Neustart mit einem Kommissions-Präsidenten, welcher als Eurogruppen-Vorsitzender die alte Politik maßgeblich durchgesetzt hat.
Sebastien Dullien meint, auf die paar Milliarden komme es wahrlich nicht an, bei den Geschenken an die Banken. Und damit er die Belastung der deutschen Bevölkerung, nicht der Eliten, wirklich herunter rechnen kann, verteilt er sie auf die Jahre von 1999 bis 2014. Macht doch eh nur einen Milchkaffe pro Woche aus! Genau dasselbe meinte vor Jahren eine höhere Tochter in Österreich, als die Pensionen gekürzt wurden: Macht eh nur eine Wurstsemmel pro Woche aus! Und für diese damals Vorsitzende der Jungkonservativen traf das ja auch zu. Sie hat als Studentin wahrscheinlich monatlich einen doppelt so hohen Scheck von den wohlhabenden Eltern erhalten, als die Mindestpensionen betragen.
Der deutsche Exporterfolg wurde nicht etwa durch die akute Unterbewertung des Euro für die deutsche Exportwirtschaft erreicht. Nein, es war „der Wegfall des Wechselkursrisikos“ (44). Im Übrigen ist die Argumentation auf den Ausspruch des Mannes aufgebaut, der vom Dach eines Hochhauses fällt, und beim zweiten Stock wiederholt er sich noch einmal: „Bis jetzt ist es gut gegangen!“ Durchgehend wird für ein systematisches bail out plädiert. Denn Deutschland sei der große Gewinner des Euro. Die Verwendung der nationalen Kategorie ist einfach Manipulation. Dass die deutschen Exporteure die großen Gewinner sind, wissen wir. Die deutsche Bevölkerung aber berappt ohnehin schon die Kosten dafür, durch niedrigere Löhne und höhere Preise im Inneren. Diese Bevölkerung soll also jetzt noch einmal die Gewinne der abenteuerlichen Geschäfte der Banken und ihrer kriminellen Spitzen auffetten. Für Gewerkschaftsleute ist dies eigentlich ein starkes Stück.
Einigermaßen verwundert nimmt man zur Kenntnis, dass Peter Bofinger (Modell Deutschland?) nüchtern doch einen schon fast kritischen Ton anschlägt, in Maßen natürlich. Die „Lohnmoderation“ ab 2000 habe direkt in die Stagnation der Binnenwirtschaft geführt. Die Akteure, die SPD-Grüne-Regierung benennt er nicht. Die BRD hat eine Politik der „Inneren Abwertung“ geführt und damit ihren Exporterfolg auf Kosten der anderen Wirtschaften in der Eurozone erreicht. Dass diese Politik der „Inneren Abwertung“ durch eine Politik der realen äußeren Abwertung für die BRD ergänzt wurde; dass die Kursentwicklung des Euro zur Abwertung für die BRD, aber zur Aufwertung für den Süden wurde und werden musste, also zur wirklichen Umkehrung notwendiger Maßnahmen, das kann natürlich der Verfasser des Bofinger-Manifestes nicht schreiben. Die BRD kann, wie er meint, durchaus kein Modell für die Krisenländer darstellen. Was er nicht sagt: Genau als das wurde sie von der Troika dem Süden aufgezwungen. Alles, was er als kontraproduktiv beurteilt, wurde in Athen, Madrid und Lissabon den allerdings höchst willfährigen Regierungen aufgedrückt. Aber die Troika kennt Bofinger ebenso wenig wie vorher Meyer. Damit man aber bei diesen leicht kritischen Tönen nicht etwa auf die Ideen kommt, die Währungsunion wäre ein Schaden für ganz Europa, nicht nur für den Süden, schreibt der nächste Beitrag eines gewissen Andrew Watt gegen diesen „brandgefährlichen Mythos“ an. „Der deutsche Wettbewerbsvorteil wurde … dank des Euro nicht von Währungsaufwertungen wieder zunichte gemacht“ (61). Für einen Moment ist man sprach- und fassungslos. Das war genau das Argument des BDI über Jahrzehnte: Wir sehen nicht ein, dass unsere Gewinne durch eine Aufwertung geschmälert werden sollen. Bofinger kritisiert noch die beggar-my-neighbour-Politik der BRD hier, 3 Seiten weiter, wird sie offen befürwortet. Und die anderen Wirtschaften? Der Crash ist „nicht im engeren Sinn die Schuld der Währung“, und der Wechselkurs ist sowieso belanglos, denn „zu sehr wird er von der Spekulation weg hin zum Gleichgewicht getrieben“ (62), alles wörtlich. Diese Länder hätten ja auch sonst Probleme gehabt. Und da sie den Crash-Kurs durchgemacht haben, ist das jetzt ohnehin wurscht, da wird es wieder aufwärts gehen. Dieses Argument kommt dreimal. Man fragt sich, wer der Mann ist. Und da kommt der nächste Schock: Er präsentiert sich als „verantwortlich für die operative Leitung“ des Gewerkschaftsinstituts.
Nach diesem Tiefpunkt wirkt der nächste Artikel von einem Zeit-Journalisten, Mark Schieritz, schlichtweg belanglos. Niemand fürchtet eine „Weimarer“ Hyper-Inflation. Ansonsten wiederholt er die gängigen Phrasen der Oligarchen-Presse: Die Banken „müssen (!) mit Steuergeldern gestützt werden“, etc.
Und schon wieder schreibt einer, der das Institut „leitet“, ein Klaus Horn. Der bemüht sich, mit advokatischen Phrasen die EZB gegen den Vorwurf zu verteidigen, auch des deutschen Verfassungs-Gerichts, sie überschreite ihre Kompetenzen. Advokat ist im Deutschen inzwischen ein Schimpfwort. Nun ist die Frage, wie sehr sich die EZB am „stillen Putsch“ (Roth), am permanenten Staatsstreich bzw. dem Verfassungsbruch beteiligt, aus rechtsstaatlicher Sicht alles andere als eine Lappalie. Aber die ökonomisch zentrale Frage ist es nicht. Es zeigt hingegen, dass die Konstrukteure der Währungsunion ihrer eigenen Ideologie von der vollkommenen Regulierungsfähigkeit des Markts aufgesessen sind. Denn sie wollen ganz gern legal bleiben, wenn sie schon die Legitimität ständig missachten. Aber sie haben die EZB schlecht aufgestellt, und nun sind sie in der Zwickmühle. Das Argument ist aber wichtig. Es bildet den inhaltlichen Zentralpunkt dieser Kritik (vgl. später) und darf daher nicht Teil einer Polemik gegen einen x-beliebigen Ideologen sein. Dasselbe gilt für die Frage souveräner Staaten (Stephan Collignon).
Im Grund könnte man hier aufhören. Doch der Vollständigkeit halber seien die restlichen zwei Beiträge erwähnt. Da schreibt eine Gesine Schwan über europäische Demokratie. Der Beitrag lebt von Illusionen über die EU, aber er hat zumindest einen Impuls: Sie schlägt eine stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente vor. Sodann kommen abschließend eine Autorin direkt im Dienst eines Großspekulanten zu Wort (Ulrike Guerot von der Open Society des George Soros). In wilhelminischer Sprache („Rechenschiebermentalität“, attackiert sie mit ihrer Ko-Autorin die Opposition, wie seinerzeit die preußischen Militaristen „Krämer-Mentalität“ gegen England schimpften) befürworten sie eine aggressive deutsche Außenpolitik. Der imperialistische Angriff auf Libyen im Jahr 2001, der zum Zerfall des Staats und der Herrschaft der warlords heute geführt hat, wird bei ihnen zur „humanitären Aktion“ (111). Dieser Beitrag zeigt, dass SPD und Grüne und offenbar auch die Gewerkschaften heute deutlich rechts von der CDU stehen.