Vom völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der einen Großmacht, deren berechtigter Verurteilung, den Sanktionen und der Anklage gegen den Regierungschef hören wir viel und wissen Bescheid. Darüber brauche ich hier nicht viel zu schreiben. In holzschnittartiger Kurzform sagt die russische Regierung, die Regierung in Kiew sei voller Nazis. Sie bedrohe und bekämpfe die russischsprachige Bevölkerung im Osten der Ukraine und sie bedrohe Russland, vor allem durch die bestehende und potentiell immer mehr zunehmende Präsenz der Nato im Land. Deshalb habe man einmarschieren und Teile des Landes besetzen müssen, um sich und die Menschen in der Ostukraine zu schützen, die Nazis aus der ukrainischen Regierung zu entfernen und Nato-Truppen dauerhaft aus der Ukraine fernzuhalten. Es heißt, russische Truppen stehlen Getreide und anderes aus der Ukraine. Russland bombardiert regelmäßig auch außerhalb der besetzten Gebiete ukrainische militärische und nicht-militärische Einrichtungen.
Über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg des anderen Landes hört man sehr wenig. Zunächst auch hier die holzschnittartige Kurzfassung:
Die USA haben seit 2015 eigene Soldaten in Syrien. Sie halten Teile des Landes besetzt, weil Regierungschef Assad ein Teufel sei, der das eigene Volk terrorisiert und die Alliierten der USA in der Region angreifen könnte. Zu Anfang gab es auch noch den Einmarsch-Grund, dass eine (von den USA aufgepäppelte) Terrorgruppe namens IS und eine andere Namens Al Quaida von dort aus nicht nur wie gewollt gegen die syrische Regierung kämpften, sondern auch weltweit Terroranschläge verübten. Die US-Soldaten in Syrien sollen erklärtermaßen die im Land gegen die Regierung kämpfenden Alliierten der USA schützen, vor allem aber verhindern, dass den USA und Israel feindlich gesonnene Mächte wie Iran und Russland die alleinige Kontrolle über das Territorium Syriens bekommen. Es heißt, die US-Truppen stehlen in großem Maßstab Öl aus Syrien und brächten es in den Irak. Immer wieder hat das US-Militär Einrichtungen der syrischen Regierung bombardiert und häufig mit der syrischen Regierung verbündete iranische Milizen in Syrien angegriffen.
Die Fakten, in den Worten regierungsnaher US-Quellen
Weil ich mich hier auf potentiell vermintem Gelände bewege und mich nicht hinreichend auskenne, um Vorwürfe der Gegenseite auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, will ich für die Darstellung des zweiten, bei uns totgeschwiegenen Angriffskriegs im wesentlichen regierungsnahe US-Quellen nutzen.
Dieser Tage hat es die Besetzung von Teilen Syriens durch US-Truppen mal wieder vereinzelt in die Nachrichten geschafft. Die US-Nachrichtenagentur AP berichtet auf Basis einer Pressekonferenz des Verteidigungsministeriums vom 24. März (durchgängig meine Übersetzungen):
„Der Angriff einer iranischen Drohne auf einen US-Stützpunkt im Nordosten Syriens, bei dem ein Auftragnehmer getötet und mehrere US-Soldaten verwundet wurden, war nur der letzte in einer wachsenden Zahl von Angriffen auf amerikanische Streitkräfte in Syrien. (…) Er löste eine Reihe von Vergeltungsangriffen aus, und der oberste US-Befehlshaber für den Nahen Osten, General Erik Kurilla, warnte umgehend, dass die USA darauf vorbereitet seien, bei Bedarf weitere Angriffe zu starten. Amerikanische Truppen sind seit 2015 in Syrien. Die jüngsten Opfer unterstreichen die konsequente, aber oft stille US-Mission zur Terrorismusbekämpfung, die darauf abzielt, die vom Iran unterstützten Milizen zu bekämpfen und das Wiedererstarken der Gruppe „Islamischer Staat“ zu verhindern.“
Das US-Kriegsministerium lies wissen, dass laufend 900 US-Soldaten und eine geheime Anzahl Auftragnehmer in Syrien stationiert seien. Außerdem reisten Kräfte für Spezialoperationen immer wieder für Einsätze in das Land. Den Islamischen Staat erklärte die US-Regierung 2019 für besiegt.
Nirgends in dem Beitrag, der vielen Medien auf der sogenannten westlichen Welt als Basis für eigene Berichterstattung diente, wird auch nur angedeutet, dass die US-Truppen widerrechtlich in Syrien sein könnten und dass die syrische Regierung und deren Alliierte ein Recht haben könnten, sich gegen diese Besetzung militärisch zur Wehr zu setzen.
Daniel L. Magruder Jr., Colonel der U.S. Air Force, schreibt in einem Beitrag für die Brookings Institution von November 2020 über die hohen Kosten und Reputationsschäden durch die Besatzer in Syrien am Beispiel der US-Basis von Al Tanf im Südosten Syriens:
„Derzeit gibt es mindestens drei Rechtfertigungen für die Aufrechterhaltung der US-Präsenz in Al Tanf: die Unterbindung (eines Erstarkens) von ISIS-Überresten, die Schwächung der syrischen Wirtschaft und des iranischen Einflusses sowie das Potenzial für ein politisches Druckmittel bei Verhandlungen. (…) Die stichhaltigste Begründung ist, dass Al Tanf für die Aushandlung eines akzeptablen Ergebnisses in Syrien genutzt werden könnte. Das Festhalten an der Immobilie erschwert die russischen, iranischen und syrischen Pläne. Alle drei Akteure wollen die US-Präsenz zurückdrängen, um mehr Spielraum für die Ausweitung ihres Einflusses zu haben.“
Falls Sie vier potentielle Begründungen gezählt haben sollten, geht es Ihnen wie mir, aber darauf kommt es hier nicht an. Zu den Reputationsschäden schreibt Magruder unter anderem:
„Erstens beherbergt das Vertriebenenlager an der jordanisch-syrischen Grenze in Rukban, etwa 35 Meilen von Al Tanf entfernt, bis zu 60.000 Menschen. Viele in der internationalen Gemeinschaft sind der Meinung, dass die Vereinigten Staaten, da sie das Gebiet durch ihre Präsenz in Al Tanf effektiv kontrollieren, dafür verantwortlich sind, sich um diese Menschen zu kümmern. (…) Zweitens empfinden einige Amerikaner es als Ironie, dass sich die USA auf die Achtung der Souveränität berufen, aber Teile Syriens gegen den Willen der Regierung und ohne eindeutige völkerrechtliche Begründung besetzen; das liefert den Russen reichlich Argumente.“
Tess Bridgeman war beigeordnete Rechtsberaterin des US-Präsidenten und stellvertretende Rechtsberaterin des Nationalen Sicherheitsrats (NSC) und arbeitete im US-Außenministerium im Büro für politisch-militärische Angelegenheiten. Brianna Rosen war ein Jahrzehnt lang in der US-Regierung tätig, unter anderem im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses und im Büro des Vizepräsidenten. Die beiden argumentieren in einem gemeinsamen Beitrag von April 2022:
„Die rechtliche Rechtfertigung für diese Antiterrorkriege, die von Anfang an auf wackligen Füßen stand, ist mit der Verlagerung der Konflikte, der territorialen Niederlage des IS sowohl in Syrien als auch im Irak und dem Eintritt neuer Akteure in die Auseinandersetzungen, noch fragwürdiger geworden. Vor allem hat sich der Konflikt auf US-Feindseligkeiten gegen vom Iran unterstützte Milizen ausgeweitet, die das umkämpfte Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad unterstützen, ohne ausdrückliche Ermächtigung durch den Kongress oder ein klares militärisches Ziel, das über die Abschreckung künftiger Angriffe hinausgeht.“
Die beiden Juristinnen setzen sich ausführlich sowohl mit der Rechtfertigung der Besatzung nach US-Recht als auch mit der völkerrechtlichen Basis auseinander. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Autorisierung seit dem Sieg über den IS und den geänderten Besatzungszielen obsolet sein dürfte, und dass die völkerrechtlichen Rechtfertigungsversuche der Regierung eigenwillig und von sehr fragwürdiger Überzeugungskraft seien.
Zur Rolle der USA zu Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 schreiben sie:
„Die Vereinigten Staaten reagierten zunächst auf den Bürgerkrieg zwischen dem Assad-Regime und den Rebellen in Syrien, indem sie die Rebellen der Freien Syrischen Armee mit nicht-tödlicher Hilfe und geheimdienstlicher Unterstützung versorgten. Später wurde berichtet, dass die CIA auch ein umfangreiches Programm zur Ausbildung und Ausrüstung der gegen Assad kämpfenden Rebellen eingerichtet hatte, das Berichten zufolge Jahre später von Präsident Donald Trump eingestellt wurde.“
Wir erfahren auch, dass Donald Trumps Außenminister Rex Tillerson im Januar 2018 ankündigte, die USA würden auch nach dem Sieg über den IS in Syrien weiterkämpfen um sicherzustellen, dass weder Assad, noch Iran die befreiten Gebiete in Besitz nehmen können. Trumps Kehrtwende im Dezember 2018, alle Truppen aus Syrien abzuziehen, wurde in einer weiteren Kehrtwende wieder einkassiert:
„Während sich US-Soldaten aus Syrien zurückzogen, wurden neue Soldaten im Norden und Südosten des Landes stationiert, um Ölfelder, kurdische Verbündete in Syrien und strategische Landwege vor dem IS und pro-syrischen Regierungstruppen zu schützen.“
Viele, die sich weniger höflich ausdrücken, nennen das Beschützen der Ölfelder vor der syrischen Regierung schnöden Diebstahl, andere sprechen von Plünderung. So etwa der US-Sender ABC News, der Ende 2019 berichtete:
„Nachdem Präsident Donald Trump am Montag sagte, die USA würden „das Öl“ im Nordosten Syriens „behalten“, prüft seine Regierung nach Angaben eines hochrangigen Beamten des Außenministeriums die „Einzelheiten“ – aber das hat zu erneuten Rufen geführt, dies sei ein Kriegsverbrechen. Trump fordert schon seit langem, dass sich die USA das Öl im Nahen Osten, insbesondere im Irak und in Syrien, „holen“. Aber jegliches Öl in beiden Ländern gehört den jeweiligen Regierungen, und nach amerikanischem Recht und den von den USA ratifizierten Verträgen wäre die Beschlagnahmung des Öls eine Plünderung, ein technischer Begriff für Diebstahl in Kriegszeiten, der nach amerikanischem und internationalem Recht illegal ist. „Wir werden das Öl behalten“, sagte Trump am Montag auf einer Konferenz von Polizeichefs in Chicago. „Ich habe das immer gesagt – wir behalten das Öl.“
Und weiter:
„Plünderungen sind nach internationalem Recht illegal und ausdrücklich durch die Vierte Genfer Konvention verboten, die die USA 1955 als Vertrag ratifiziert haben. Nach dem US-Kriegsverbrechergesetz von 1996 ist auch ein „schwerer Verstoß“ gegen eine der Genfer Konventionen „innerhalb oder außerhalb der Vereinigten Staaten“ strafbar.“
Die syrische Regierung verurteilte denn auch die von den US-Truppen als Vergeltung für den jüngsten Drohnenangriff durchgeführten Bombardierungen als ein Ablenkungsmanöver, um die Plünderung syrischen Öls noch zu intensivieren. Sie verlangte „ein sofortiges Ende der Präsenz amerikanischer Besatzungstruppen und die Beendigung der Unterstützung und Förderung separatistischer und terroristischer Gruppen durch Washington“.
Folgen für die Bevölkerung und Haltung Deutschlands
Das deutsche Auswärtige Amt schrieb über die Folgen des Konflikts für die Bevölkerung schon im März 2021:
„Die humanitäre Lage in Syrien ist indessen katastrophal. Nach Angaben der Vereinten Nationen hat sich die Zahl der auf humanitäre Hilfe angewiesenen Menschen 2021 von 11 auf über 13 Millionen erhöht. Erschwerend kommen die desolate wirtschaftliche Situation und die Corona-Pandemie hinzu. Besonders dramatisch ist die Lage für die knapp drei Millionen Binnenvertriebenen in Nordwest-Syrien.“
Seither hat sich die Lage noch einmal dramatisch verschlechtert, vor allem seit dem verheerenden Erdbeben am 6. Februar. Die des größten Teils ihrer Einnahmen von den USA und ihren Verbündeten im Land beraubte Regierung ist kaum in der Lage, den zigtausend Opfern wirkungsvoll zu helfen. Dasselbe gilt für die Opfer des Bürgerkriegs und des wirtschaftlichen Ruins des Landes durch den Krieg und durch Sanktionen, auch der EU.
Als Schlüssel für eine Beilegung des Konflikts sieht das Auswärtige Amt die Resolution des UN-Sicherheitsrats 2254 von Dezember 2015, als US-Truppen schon in Syrien waren. Diese beginnt mit einem nachdrücklichen Bekenntnis „zur Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territorialen Unversehrtheit der Arabischen Republik Syrien“ und enthält den „eindringlichen Aufruf“ an alle Beteiligten, also auch die USA, diese Grundsätze zu respektieren.
Das Auswärtige Amt schildert allerdings die Lage in Syrien und die Not der Syrer ohne die Rolle der USA zu erwähnen. Für die katastrophale Wirtschaftslage seien „Korruption und Missmanagement“ verantwortlich, eine Beendigung des „bewaffneten Konflikts mit internationaler Dimension“ scheitere allein daran, dass „das syrische Regime weiterhin darauf setzt, mit Unterdrückung und militärischen Mitteln den Konflikt für sich zu entscheiden und den von den Vereinten Nationen geführten politischen Prozess verschleppt.“
Damit ist auch klar, wer und was nicht gemeint ist, wenn das Auswärtige Amt schreibt, dass „Deutschland ganz konkret internationale Initiativen und Mechanismen gegen Straflosigkeit im Syrien-Konflikt unterstützt“.
Um die Regierung einer militärischen Großmacht für einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu bestrafen, beziehen wir kein günstiges Gas mehr von diesem Land und kaufen stattdessen zum vielfachen Preis umweltschädliches Fracking-Gas von einer anderen Großmacht, die einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ein anderes Land führt. Man nennt das wertegeleitete, feministische Außenpolitik, wenn ich das richtig verstanden habe.
Nachtrag (28.3.): UN-Sprecher hört, sieht und sagt nichts
Als ein Journalist nach dem Drohnenangriff auf US-Truppen in Syrien den stellvertretenden Pressesprecher des UN-Generalsekretärs fragt, ob er die Anwesenheit von US-Soldaten in Syrien für legal oder illegal hält, versucht dieser auszuweichen. Auf wiederholtes Nachfragen behauptet er schließlich, es gäbe seines Wissens keine in Syrien stationierten US-Soldaten, weshalb sich ein Vergleich mit Russland in der Ukraine verbiete. Das verträgt sich allerdings schwer mit der Tatsache, dass fünf von diesen bei dem Angriff in Syrien verletzt wurden.