Ein leergefegter Arbeitsmarkt ist normal, wenn die Wirtschaft längere Zeit boomt. Aber wenn die Wirtschaft gerade aus einem pandemiebedingten Abschwung kommt und der Ukraine-Krieg eine neue Rezessionsgefahr schafft, ist solch ein Arbeitskräftemangel ungewöhnlich.
Die deutsche Wirtschaftsleistung lag im ersten Quartal 2022 preisbereinigt gerade einmal ein knappes Prozent höher als im ersten Quartal 2020, vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Ein halbes Prozent pro Jahr ist wenig. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat im gleichen Zeitraum doppelt so stark zugenommen, um knapp 700.000 oder 2,1 Prozent. Von März 2020 bis April 2021 betrug die Zunahme sogar 713.000 Beschäftigte.
Die Beschäftigung hat sich also in zwei Pandemiejahren erstaunlich gut entwickelt und trotz der mauen Wirtschaftslage und schlechten Konjunkturaussichten fehlen den Unternehmen in vielen Branchen Arbeitskräfte. Was ist da los? Etwas ist anders als früher.
Sind es vielleicht vor allem Minijobs, die zugenommen haben? Im Gegenteil: Die Anzahl der Beschäftigten, die ausschließlich in einem (oder mehreren) Minijobs beschäftigt sind, ist um gut 300.000 gesunken. Die Anzahl der nicht geringfügig entlohnten Stellen ist also nicht nur um 700.000, sondern um annähernd eine Million gestiegen.
Zugenommen, und zwar um knapp 280.000 hat die Anzahl derer, die neben einem regulären Job noch eine geringfügige Beschäftigung ausüben. Sie sind bereits über ihren Hauptjob bei den versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen erfasst. Dass die Minijobs als Zusatzjob zunehmen und die Minijobs als einzige Einkommensquelle abnehmen, ist ein Zeichen für große Arbeitskräftenachfrage.
Insgesamt ist allerdings die Zunahme des Arbeitsvolumens hinter der Zunahme der Beschäftigung zurückgeblieben. Die durchschnittliche Arbeitszeit hat sich verkürzt, was nicht an tariflichen Arbeitszeitverkürzungen lag. Laut Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) hat die Arbeitsstundenzahl das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht.
Alterung und weniger Zuwanderung?
Die Erwerbstätigenquote, also der Anteil der Erwerbstätigen an den Einwohnern im erwerbsfähigen Alter ist im Verlauf von 2021 gestiegen, die Arbeitslosigkeit gesunken. Die Menschen haben sich also nicht massenhaft vom Arbeitsmarkt zurückgezogen.
Sind vielleicht viele der während der Pandemie freigesetzten ausländischen Arbeitskräfte abgewandert und kommen nicht zurück? Hat die Pandemie den Zustrom ausländischer Arbeitskräfte unterbrochen oder gedämpft?
Letzteres trifft zu, Ersteres nicht.
Obwohl zum 1. März 2020 mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz liberalere Regelungen für die Arbeitsmigration beschlossen wurden, ging die Nettozuwanderung aus dem Nicht-EU-Ausland zu Beschäftigungszwecken deutlich zurück. Auch die Nettozuwanderung insgesamt gab nach.
Schaut man allerdings auf die Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von Ausländern, so zeigt sich ein anderes Bild. Von März 2020 bis September 2021 nahm diese nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit um um fast 400.000 auf 4,7 Millionen zu. Die Zunahme war damit rund 30 Prozent stärker als in den eineinhalb Jahren zuvor. Die Beschäftigtenzahl der Deutschen nahm im gleichen Zeitraum nur um 280.000 zu, sodass der Ausländeranteil an der Gesamtbeschäftigung von 12,8 auf 13,7 Prozent stieg. Das dürfte damit zusammenhängen, dass zunehmend Zuwanderer aus früheren Jahren in Deutschland eine Beschäftigung finden und aufnehmen dürfen.
Demographisch bedingt sinkt dagegen die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, insbesondere der Deutschen. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung schätzt den Rückgang für dieses Jahr auf 300.000.Das ist allerdings kein Abzugsposten beim Arbeitskräftepotential, der plötzlich aufgetreten wäre und den akuten Personalmangel in vielen Branchen erklären könnte.
Da die Beschäftigung insgesamt deutlich gestiegen ist, und die Ausländerbeschäftigung besonders deutlich, sind
Demographie und Zuwanderung also keine Erklärung für die derzeitige Arbeitskräfteknappheit in vielen Branchen.
Verlierer- und Gewinnerbranchen
Eine oft angeführte Erklärung ist, die während der Pandemie von Lockdown- und Krisenbranchen Freigesetzten hätten sich Arbeit in anderen Branchen gesucht und seien nun schwer zurückzugewinnen.
Für einen Beitrag im Handelsblatt (Bezahlschranke) habe ich mir die Beschäftigungsentwicklung (sozialversicherungspflichtig) von März 2020 bis April 2022 nach Wirtschaftsbereichen näher angeschaut. Dabei zeigte sich: Es gibt wenige große Verlierer und einige Gewinner. Viele der expandierenden Branchen haben etwas gemeinsam. Es handelt sich um staatliche oder staatsnahe Arbeitgeber. Hier ein Kurzfassung:
Die Verliererbranchen
Die Industrie (verarbeitendes Gewerbe) hat mit 145.000 die meisten Beschäftigten abgebaut. Ein Minus von zwei Prozent.
Das Gastgewerbe hatte zeitweise ein Minus von bis zu 12 Prozent, das sich aber bis April 2022 auf ein Minus von 35.000 oder etwa dreieinhalb Prozent reduzierte. Allein im März und April baute die Branche 40.000 Beschäftigte auf. Sonstige Dienstleistungen, zu denen Sport, kulturelle Veranstaltungen und Erholung gehören, schrumpften in den beiden Pandemiejahren um 50.000 oder gut vier Prozent.
Die Krisenbranche Luftfahrt gehört zum Wirtschaftszweig Verkehr und Lagerei, der während der Pandemie Beschäftigung zugelegt hat. In tieferer Gliederung, für die Zahlen bis September 2021 vorliegen, zeigt sich, dass die Personenluftfahrt bis dahin um 7500 Beschäftigte oder fast 14 Prozent geschrumpft ist. Die Bahn dagegen, die derzeit ebenfalls über Personalmangel klagt, hat zwischen März 2020 und September 2021 im Personenfernverkehr um 2300 Beschäftigte zugelegt.
Die Gewinnerbranchen
Die mit der Erbringung von freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen Beschäftigten verbuchten in der Pandemiezeit ein Plus von 142.000 Beschäftigten oder gut fünf Prozent. Dazu gehören unter anderem Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung und Buchführung, Unternehmensberatung und -verwaltung, Ingenieur- und Architekturbüros und Werbeagenturen.
Unternehmen der Branche Information und Kommunikation, die wegen des pandemiebedingten Digitalisierungsschubs noch gefragter wurden als ohnehin schon, legten um 106.000 oder knapp neun Prozent zu. Das Baugewerbe legte um 72.000 Beschäftigte oder gut vier Prozent zu. Verkauf und Instandhaltung von KFZ beschäftigten im April 2022 rund 62.000 Menschen mehr als zu Beginn der Pandemie, ein Plus von eineinhalb Prozent. Verkehr und Lagerei legten um 60.000 oder drei Prozent zu. Das geht überwiegend auf Gewinne bei Post, Kurier- und Expressdiensten und in der Lagerei zurück.
Noch mehr Beschäftigungsaufbau verzeichneten die staatlichen und staatsnahen Arbeitgeber. Sie kommen zusammen auf über 400.000 zusätzliche Beschäftigte während der Pandemiezeit. Das Gesundheitswesen verzeichnete 123.000 oder fünf Prozent Zuwachs. Davon entfiel etwa die Hälfte auf Krankenhäuser, der Rest auf Arztpraxen und auf das sonstige Gesundheitsweisen, das prozentual am stärksten zulegte. Hier dürften vor allem Test- und Impfzentren zu Buche schlagen. Öffentliche Verwaltung, Verteidigung und Sozialversicherung bauten insgesamt 121.000 oder sechseinhalb Prozent Beschäftigung auf. Der Löwenanteil davon entfiel auf die Verwaltung, die auch prozentual am stärksten zulegte. Heime und Sozialwesen legten um 92.000 Beschäftigte oder knapp vier Prozent zu. Erziehung und Unterricht wuchsen um 71.000, etwas mehr als fünf Prozent.
Resümee
Es ist also tatsächlich so, dass die meisten der Beschäftigten, die während der Pandemie Krisenbranchen verlassen haben, in anderen Branchen Beschäftigung fanden. Branchen, die schlecht bezahlen und womöglich noch ungünstige Arbeitszeiten aufweisen, wie etwa die Luftfahrt und das Gastgewerbe, haben daher nicht von ungefähr große Schwierigkeiten die benötigten Arbeitskräfte wieder an sich zu ziehen, auf jeden Fall kurzfristig.