Auch der Spiegel bedient sich in Sachen Nato-Hauptquartier Methoden aus „1984“

Nachtrag 28. 10. 2024 | Wie die ARD-Tagesschau hat auch das ehemalige  Nachrichtenmagazin Der Spiegel seine Berichterstattung zur Einweihung eines Nato-Hauptquartiers in Rostock nachträglich und ohne Kennzeichnung an die geänderte Sprachregelung der Regierung angepasst. Dabei führte das Magazin eine Neuerung ein, die die Entdeckung der Lesertäuschung massiv erschwert.

Am 22.10.2024 mit Zeitstempel 16:34 Uhr erschien auf Spiegel Online unter der Überschrift „Neues Nato-Hauptquartier in Rostock – Moskau bestellt deutschen Botschafter ein“ ein Artikel, in dem im ersten Absatz Folgendes ausgeführt wird:

„Aus Protest gegen die Einweihung des maritimen Nato-Hauptquartiers in Rostock hat die russische Regierung den deutschen Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff, einbestellt.“

Der Artikel wurde nachträglich an mehreren Stellen verändert. In der neuen Version wurde im Titel aus dem „Nato-Hauptquartier“ ein „Ostsee-Hauptquartier“. Im ersten Absatz heißt es nun:

„Aus Protest gegen die Einweihung des neuen Hauptquartiers der deutschen Marine in Rostock hat die russische Regierung den deutschen Botschafter in Moskau, Alexander Graf Lambsdorff, einbestellt.“

Die nachträglichen Änderungen wurden entgegen journalistischen Standards nicht kenntlich gemacht. Der Zeitstempel weist unverändert den 22.10.2024 16:34 Uhr aus und ist damit klar falsch. Auch die Berichterstattung wurde durch die Änderung falsch. Denn ausweislich der offiziellen Mitteilung der russischen Botschaft zur Einbestellung des deutschen Botschafters wurde dieser nicht aus Protest gegen ein deutsches, sondern gegen ein Nato-Hauptquartier einbestellt.

Hätte der Spiegel sich diese Sprachregelung nicht zu eigen machen wollen, wäre das journalistisch richtige Vorgehen gewesen, ein „angeblich“ vor „Nato-Hauptquartier“ zu setzen oder einen eigenen Satz dazu zu schreiben, dass die Bundesregierung das nach ihrer geänderten Sprachregelung anders sieht. Aber zu behaupten, dass die russische Regierung gegen ein Hauptquartier der deutschen Marine protestiere, ist einfach falsch. In ihrer Pressemitteilung zur Ankündigung des Termins hatte das Verteidigungsministerium verlautbart, gemäß einem Beschluss der Nato von 2017 werde in Rostock ein „Hauptquartier für die Nato“ eingeweiht.

Die Botschaft der Russischen Föderation in Berlin schrieb am 23.10. auf X:

„… Auf der Hand liegt ein eklatanter Verstoß gegen Geist und Buchstaben des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 (des sog. „Zwei-Plus-Vier-Vertrags“), der unter Artikel 5.3 Deutschland dazu verpflichtet, keine ausländischen Streitkräfte auf dem ehemaligen Territorium der DDR zu stationieren bzw. dorthin zu verlegen. In diesem Zusammenhang wurde von der Bundesregierung eine unverzügliche und erschöpfende Positionierung gefordert. An der Stelle drängen sich tragische Parallelen zur Remilitarisierung des Ruhrgebiets durch Deutschland im Jahr 1936 [auf], was unter Verletzung des Vertrags von Versailles von 1919 geschah. Von der russischen Seite wurde betont, dass die historische Amnesie nicht nur Politiker in den europäischen Hauptstädten infizierte, sondern auch deren Betreuer in Washington, da dort vergessen wurde, welche Katastrophe für die Völker Europas und für Deutschland das stillschweigende und vom blinden Hass auf die UdSSR genährte Einverständnis von Paris und London mit den Handlungen der Führung des Dritten Reiches herbeiführte. (…) Die Regierungen in Washington, Brüssel und Berlin müssen sich darüber im Klaren sein, dass die Ausdehnung der militärischen Infrastruktur der NATO auf das ehemalige Territorium der DDR die negativsten Konsequenzen haben wird und nicht ohne angemessene Reaktion der russischen Seite bleibt.“

Wenn so viel auf dem Spiel steht, ist kein Wunder, dass die Regierung alle ihre Einflussmöglichkeiten auf die Medien geltend macht, um eine allgemeine Sprachregelung zu erreichen, die ihr erlaubt eine Nichtverletzung des Vertrags zu behaupten, ohne für die Bevölkerung allzu leicht erkennbar zu lügen. Damit die heimlichen Änderungen nicht auffallen, passte der Spiegel entgegen dem bisher üblichen Vorgehen die URL (Internetadresse) des Artikels an die neue Überschrift an. Der Link zum ursprünglichen Artikel lautete: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nato-hauptquartier-in-rostock-russland-bestellt-deutschen-botschafter-ein-a-5dbfe87c-d0b2-48d9-9390-acce13ee7823. Der neue Link lautet: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ostsee-hauptquartier-in-rostock-russland-bestellt-deutschen-botschafter-ein-a-5dbfe87c-d0b2-48d9-9390-acce13ee7823

Findet man den Artikel mit Stichworten mit einer Internet-Suchmaschine, so wird die neue Version mit neuer URL angezeigt. Früher konnte man oft an der Diskrepanz von Titel und URL erkennen, wenn eine Überschrift ohne Hinweis nachträglich geändert wurde. Das geht jetzt nicht mehr, bzw. nur noch wenn man über die ursprüngliche URL verfügt und darüber den Artikel aufruft. Außerdem kann man nicht mehr wie früher mit dem Internet-Archiv (www.archive.org) überprüfen, ob der Artikel, der auf der Netzseite des Magazins steht, früher anders lautete. Denn unter der neuen URL ist die frühere Version im Internet-Archiv nicht auffindbar. Allerdings vergaß man wohl die Social-Media Aktivitäten des Spiegel. Dort ist der oben abgebildete X.com-Post mit Hinweis auf den Spiegel-Artikel heute (11 Uhr) noch abrufbar, der in der Bildbeschreibung explizit von einem neuen „NATO-Hauptquartier“ spricht.

NDR lässt Falschaussagen zum 2+4-Vertrag stehen

Beim für die Tagesschau zuständigen ARD-Sender NDR tut man sich sehr schwer damit, eine grob falsche Behauptung zum Zwei-plus-Vier-Vertrag zu korrigieren. In einem ironischerweise „Faktencheck“ genannten Beitrag hatte der Sender behauptet, der Vertrag schließe die Stationierung ausländischer Streitkräfte (der Sender sprach von „Truppen“) nur bis 1994 aus. So steht es im ersten Absatz von Artikel 5 des Vertrags. Obwohl die russische Botschaft in ihrem Protest auf X.com darauf hinweist, dass es auch noch einen dritten Absatz gibt, der die Stationierung ausländischer Streitkräfte in Ostdeutschland dauerhaft verbietet, steht der hochnotpeinlich falsche Beitrag des NDR vom 23.10. heute, am 28.10. um 11 Uhr immer noch unverändert auf der Netzseite des NDR.

Verteidigungsministerium verheddert sich

Das Bundesverteidigungsministerium postete am 22.10. auf X.com:

Weil wir viele Kommentare zum #CTFBaltic in Verbindung mit dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag erhalten haben: Der CTF Baltic ist keine NATO-Dienststelle. Darum:

Verstößt CTF Baltic gegen den 2+4 Vertrag? NEIN. Es ist ein deutsches Hauptquartier. Die 27 Soldatinnen und Soldaten die Austausch- und Verbindungsoffiziere stehen unter deutschem Kommando.“

Im Fernsehbericht der Tagesschau vom 21.10. um 20 Uhr hieß es, die Führung der Kommandozentrale werde alle vier Jahre rotieren  Auch Schweden und Polen würden sie künftig übernehmen. Nur die ersten vier Jahre ist demnach ein deutscher Offizier Kommandant des Stützpunkts. Man fragt sich, von wem die Tagesschau diese Information wohl hatte, wenn nicht vom Verteidigungsministerium, an dessen Verlautbarungen sich die Berichterstattung eng orientierte. Offenbar war also mindestens bisher nicht vorgesehen, dass die ausländischen Nicht-Streitkräfte dauerhaft unter deutschem Kommando stehen.

Danksagung: Recherchiert und aufgeschrieben hat die Informationen zu diesem Beitrag F. Eilers. 

Nachtrag: Änderungshinweis wird nachgereicht

Nachdem ich über die Zuschauertäuschung geschrieben habe, hat  hat Spiegel Online dem Beitrag im Lauf des Nachmittags (vor 18 Uhr) einen Änderungshinweis hinzugefügt:

Anmerkung: In einer früheren Version wurde der Marineposten in Rostock als Nato-Hauptquartier bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich um ein nationales Hauptquartier, das im Austausch mit Nato-Partnern den Ostseeraum überwachen soll. Wir haben die entsprechenden Passagen korrigiert.“

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