Die Mär von der transatlantischen Entfremdung und die Aufrüstung Deutschlands zur Kriegsmacht

6. 06. 2018 | Die Regierung Trump ärgert Deutsche und Europäer wo sie nur kann. Wenn man unsere Politiker und Kommentatoren so hört, könnte man meinen, wir hätten eine Phase der Entfremdung im transatlantischen Verhältnis; Deutschland und Europa könnten sich womöglich freischwimmen vom übermächtigen Einfluss der Schutzmacht. Dabei folgt das alles einem raffinierten Kalkül um durchzusetzen, was Trump schon vor Amtsantritt mit markigen Worten gefordert hat: dass die Deutschen (und Europäer) einen größeren Teil der Kriegsaufgaben übernehmen.

Strafzölle für europäische Waren, ein neuer US-Botschafter, der vom ersten Tag an provoziert, Europa aufgezwungene, völkerrechtswidrig durchgesetzte, einseitige Sanktionen gegen Iran: Trump spielt Hardball. Das hat zwei Funktionen:

Es gibt denen, die in Europa die Aufrüstung und „Übernahme von Verantwortung“, also Beteiligung an Kriegen zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen, bewerben und durchsetzen sollen, ein neues schlagkräftiges Argument an die Hand. Es lautet: „Wir können uns nicht mehr auf den Schutz Amerikas verlassen, also müssen wir selber aufrüsten und ‚unsere‘ Interessen verteidigen.“ Dabei wird nur noch am Rande so getan, als ob es um Landesverteidigung ginge. Seit der damalige Bundespräsident Köhler das Tabu gebrochen und von der Verteidigung von Deutschlands Rohstoffzufuhr am Hindukusch geredet hat, ist es salonfähig geworden, Verteidigung als Verteidigung von Wirtschaftsinteressen zu propagieren.

Die zweite Funktion der Zumutungen aus den USA besteht darin, eine Währung für die Belohnung von Rüstungsanstrengungen und Verantwortungsübernahme zu schaffen, die nichts kostet. Den Europäern wird signalisiert, dass man auch wieder etwas weniger ruppig mit ihnen umgehen könnte, wenn sie aufrüsten und beim Krieg führen helfen, sodass die USA ihre erklärte Absicht verfolgen können, das eigene Militär stärker für Einsätze in Asien zu reservieren.

Und so trommeln sie alle, Merkel, der BDI, Ischinger und viele mehr, dass wir das tun sollen, was Trump von uns verlangt, angeblich weil man sich auf Trump nicht verlassen könne. Nebenher werden die Medien mit jeder Menge saftiger Geschichten über nicht funktionierendes Gerät unserer Friedensarmee bespielt, sodass jedem stolzen Deutschen klar wird: Die Bundeswehr braucht mehr Geld.

Es ist eine äußerst raffinierte Strategie, die gut funktioniert. So zu tun also tue man das, was die USA von uns verlangen, gegen die US-Regierung, verwirrt das Lager der Aufrüstungs- und Kriegsgegner und nimmt ihnen die gewohnten, einfachen und populären Argumentationsmuster.

Man kann den Provokationskurs der Trump-Regierung als die Intensivierung einer Strategie betrachten, mit deren Umsetzung schon 2013 begonnen wurde. Henrik Paulitz von der Akademie Bergstraße hat das in seiner aktuellen Broschüre Kriegsmacht Deutschland prägnant beschrieben:

Unmittelbar im Vorfeld der Bundestagswahl im September 2013 wurde von zwei einflussreichen Think Tanks ein Papier mit dem Titel „Neue Macht Neue Verantwortung“ veröffentlicht.  Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und der German Marshall Fund of the United States (GMF) schreiben darin: „Deutschlands Bürger genießen eine Phase lange nicht gekannter Sicherheit. Ihr Land lebt in Frieden mit seinen Nachbarn in Europa (…)“ Doch die Welt bleibe „voller Ungewissheit und Gefahren“. Für einen globalisierten Staat wie Deutschland seien die Sicherheit der Welt und deutsche Sicherheit untrennbar miteinander verknüpft.  Schließlich heißt es wörtlich, fast drohend: „Wenn Deutschland die eigene Lebensweise erhalten und schützen will, muss es sich folglich für eine friedliche und regelbasierte Weltordnung einsetzen; mit allen legitimen Mitteln, die Deutschland zur Verfügung stehen, einschließlich, wo und wenn nötig, den militärischen.“ Aus Deutschlands angeblich „gewachsener Macht“ und seinem „gestiegenen Einfluss“ folge dabei auch „ein Mehr an Verantwortung. Jahrzehntelang war Deutschland Konsument von Sicherheit, garantiert von der NATO und insbesondere von den USA. Heute erwarten Verbündete und Partner, dass Deutschland selbst Sicherheit produziert; und nicht nur für sich selbst.“

Die Strategie und ihre durchschlagende Wirkung beschrieb Paulitz etwas ausführlicher auch schon in der ungemein hellsichtigen, bereits kurz nach Trumps Wahl erschienen Broschüre mit dem Titel Trump und der Weg Deutschlands zur Weltordnungsmacht:

Die Stiftung Wissenschaft und Politik und der German Marshall Fund of the United States erklären, dass Deutschlands Erfolg als Handels- und Exportnation auf eine liberale Weltordnung angewiesen sei: „Deutschland braucht die Nachfrage aus anderen Märkten sowie den Zugang zu internationalen Handelswegen und Rohstoffen (und) eine liberale, normengestützte Weltordnung mit freien, offenen Staaten (…). Deutschlands überragendes strategisches Ziel muss es daher sein, diese Weltordnung zu erhalten, zu schützen und weiter zu entwickeln.“  Die so genannte neue Verantwortung Deutschlands besteht also darin, als globale Ordnungsmacht eine Weltordnung mit durchzusetzen, die dem „Freihandel“ dient, was unter anderem auch bedeutet, multinationalen Konzernen einen exklusiven Zugang zu Rohstoffen, Märkten und Handelswegen zu erhalten bzw. zu verschaffen. Notfalls gegen den Willen von souveränen Staaten und mit militärischen Mitteln.

Und das waren die unmittelbaren Folgen:

Die erpresserische Logik des Projekts „Neue Macht Neue Verantwortung“ von 2013 blieb nicht ohne Folgen. Im Koalitionsvertrag zur Bildung der Bundesregierung vom 16. Dezember 2013 steht: „Die überragende Bedeutung der Außenwirtschaft für die deutsche Volkswirtschaft, die zunehmende Verflechtung mit Auslandsmärkten, (…) verlangen einen stärkeren Einsatz der Politik für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen. (…) Wir sehen mit Sorge die zunehmende Zahl von Maßnahmen, mit denen der freie Handel begrenzt oder sogar verhindert wird. (…) Deutschland ist bei vielen wichtigen Rohstoffen (…) auf Importe angewiesen.“  Im Kapitel „Verantwortung in der Welt“ des Koalitionsvertrages bietet sich die deutsche Bundesregierung – den Erwartungen entsprechend – als „verlässlicher Partner in der Welt“ an. „Deutschland stellt sich seiner internationalen Verantwortung. Wir wollen die globale Ordnung aktiv mitgestalten“, heißt es da. „Wir stehen bereit, wenn von unserem Land Beiträge zur Lösung von Krisen und Konflikten erwartet werden. (…) Wir stehen für Verlässlichkeit und Bündnistreue. Wir wollen ein guter Partner bei der Gestaltung einer gerechten Weltordnung sein.“

Liest man diese Argumentation von 2013, kann man die fortgeschrittene Dialektik der heutigen Aufrüstungspropaganda würdigen. Um den freien Handel weltweit zu verteidigen, muss man, wenn die Regierung der Führungsmacht dem Freihandel den Rücken kehrt, in Bündnistreue mit eben dieser Führungsmacht, Verantwortung übernehmen und den freien Handel mit Rohstoffen und mit den Waren unserer Konzerne wenigstens im Rest der Welt verteidigen – wenn es sein muss mit Waffengewalt, zumindest aber unter glaubwürdiger Androhung derselben.

Doch weiter mit den Konequenzen von damals für die regierungsamtliche Politik:

Der internationale Einfluss wirkt sich auch unmittelbar auf die deutsche Militärdoktrin aus. Das „Weißbuch“ der deutschen Bundeswehr von 2016 entstand mit Beteiligung des Royal Institute of International Affairs (Chatham House). Der unter der Schirmherrschaft von Elisabeth II. stehende mächtige Londoner Think Tank wird u. a. von 75 Banken, Energiemultis und sonstigen Großkonzernen getragen. Während der Auftaktveranstaltung für den Weißbuchprozess 2016 am 17. Februar 2015 trug Chatham House-Direktor Robin Niblett im Beisein der deutschen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen die „internationalen Erwartungen an Deutschland“ vor.  In den USA wie auch in Großbritannien sei der nationale Zusammenhalt durch die Kriege in Afghanistan und Irak substanziell zerstört worden. Aufgrund der Zurückhaltung bei diesen Kriegen habe Deutschland im Gegensatz dazu noch die Kapazität, breite Zustimmung zu mobilisieren, „falls es entscheidet zu handeln“.  Die Ausführungen Nibletts lassen sich wohl nur so interpretieren: Großbritannien und die USA haben ihre Gesellschaften in jahrzehntelanger Ausübung ihrer Funktion als Weltordnungsmächte gründlich zerrüttet. Daher können sie in ihrer Bevölkerung nicht mehr in hinreichendem Maße Zustimmung für die Weltordnungskriege im Interesse der Konzerne organisieren. Vor diesem Hintergrund wird nun unter anderem von Deutschland verlangt, diese Funktion in Teilen der Welt zu übernehmen.  Deutschland sei nicht nur eine Mittelmacht, sondern eine mittlere Großmacht. Das Land habe nicht die Möglichkeit zu wählen, es sei so, und Deutschland habe die Verpflichtungen zu erfüllen, die aus dieser Position erwachsen würden und müsse die damit verbundenen Kosten tragen. Die deutsche Bevölkerung müsse wissen, dass sie keine Wahl habe, als Europa und somit der Weltwirtschaft zu dienen.  Energiesicherheit sei das absolut zentrale Element für Europas künftigen Wohlstand und seine Sicherheit, wobei Deutschland eine Schlüsselrolle zukomme.  In militärischer Hinsicht müsse sich Deutschland zwar nicht in Asien engagieren. „Es wird von Deutschland aber erwartet, und es sollte dies auch selbst von sich erwarten, mitzuhelfen, Sicherheit in Europa herzustellen.“  Er glaube, der Führung Deutschlands werde es gelingen, der skeptischen Öffentlichkeit die „Verpflichtungen des Landes“ als Großmacht nahe zu bringen, sofern sie übereinstimmend die Botschaft „der Unausweichlichkeit von Deutschlands anteiligen Verpflichtungen“ zur Abwendung der Gefahren der heutigen, wechselseitig abhängigen Welt verbreite.

Jeder, der dieser Tage die Medien nutzt, begegnet den zitierten Floskeln von internationaler Verflechtung, Übernahme von Verantwortung und Sicherung des freien Handels auf Schritt und Klick. Nur dass es die wie ehedem loyal der Führungsmacht verpflichtete Wirtschafts- und Politikelite nun leichter hat, mit diesen alten Floskeln ein skeptisches Volk auf den Weg der Hochrüstung und der kriegerischen Verteidigung von Wirtschaftsinteressen zu führen.

[6.6.2018]

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