Hören | Leserbrief | 23. 01.2024 | Ich hatte kürzlich auf den Kommentar von Richter i.R. Manfred Kölsch zum Digital Services Act (DAS) der EU in der Berliner Zeitung verlinkt. Da dieser Kommentar inzwischen nicht mehr allgemein zugänglich ist, hat mir Dr. Kölsch freundlicherweise erlaubt, seine ebenso wichtige wie kundige Analyse auch hier zu veröffentlichen.
Zuvor sei noch erwähnt, das es auf der Netzseite von Kritische Richter und Staatsanwälte (KRiSta) eine Langfassung dieser Analyse gibt, aus der im Detail hervorgeht, wie Dr. Kölsch zu seinen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Beseitigung der freien Meinungsäußerung durch den DSA kommt.
Momentan (24.1.) scheint auch der Beitrag von Dr. Kölsch in der Berliner Zeitung wieder in ganzer Länge frei zugänglich zu sein.
Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit – ein Auslaufmodell?
Dr. Manfred Kölsch
Der Digital Services Act (DSA) tritt am 17.2.2024 in vollem Umfang als EU-Verordnung 2022/2065 in Deutschland in Kraft. An der öffentlichen Wahrnehmung vorbei soll vorher noch durch den Bundestag das den DSA konkretisierende Digitale Dienste Gesetz (DDG) beschlossen werden.
Diese Gesetzgebung über digitale Dienste ist ein trojanisches Pferd: Es trägt eine Fassade zur Schau, die demokratischen Grundsätze zu achten. So verkündet die EU-Kommission, mit dem DSA sollen „strenge Regeln zur Wahrung europäischer Werte“ festgeschrieben werden.
Direkt bestimmt Art. 1 DSA: „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung“. Hinter dieser rechtsstaatlichen Fassade geschieht jedoch das genaue Gegenteil: Es ereignet sich ein Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung, der weitgehend unbemerkt bleibt – wahrscheinlich aufgrund der hohen Komplexität der Materie.
Hinzu kommt, dass dieser Angriff mit dem DSA schleichend geschieht. Wegen der Komplexität der Materie, der wie ein Ablenkungsmanöver wirkenden allgemeinen Informationsflut, bleibt der Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung unbemerkt. Der DSA eröffnet die Möglichkeit, auch nicht rechtswidrige Eintragungen auf sehr großen Onlineplattformen und Suchmaschinen für löschungspflichtig zu erklären.
In den zur Auslegung des DSA heranzuziehenden Erwägungsgründen der EU-Verordnung wird säuberlich zwischen der Verbreitung rechtswidriger und „anderweitig schädlicher Informationen“ unterschieden (Erwägungsgrund Nr. 5). Den Plattformbetreibern wird aufgegeben „besonders darauf (zu) achten, wie ihre Dienste zur Verbreitung oder Verstärkung von nur irreführendem oder täuschendem Inhalt einschließlich Desinformationen genutzt werden könnten“ (Erwägungsgrund Nr. 84). Auch Art. 34 DSA unterscheidet genau zwischen rechtswidrigen und Informationen mit nur „nachteiligen Auswirkungen“.
Der Begriff „Desinformation“ ist aber im DSA nicht definiert. Die EU-Kommission hat allerdings schon 2018 klargestellt, dass Desinformationen u.a. solche Informationen sind, die „öffentlichen Schaden“ anrichten können. Dabei bestimmt sie (S.4), unter öffentlichem Schaden seien zu verstehen „Bedrohungen für die demokratischen politischen Prozesse und die politische Entscheidungsfindung sowie für öffentliche Güter wie den Schutz der Gesundheit „der Umwelt und der Sicherheit“.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass falsche, irreführende oder gar unbequeme Eintragungen nicht rechtswidrig sein müssen. Dennoch können sie auf der Grundlage des DSA jederzeit als rechtswidrig erklärt werden. Das Maß, an dem die Beurteilung als Desinformation ausgerichtet ist, wird von der EU-Kommission gesetzt. Das aber heißt, dass politisch unliebsame Meinungen, ja wissenschaftlich argumentierte Positionen gelöscht werden können.
Und nicht nur das: Bei einer Einstufung als rechtswidrig drohen soziale Konsequenzen. Der Bürger unterwirft sich selbst der inneren Vorzensur. Er wird dazu gedrängt, seine Inhalte an dem auszurichten, was in den aktuellen politischen Meinungskorridor passt. Er wird das Risiko immanenter sozialer Nachteile nicht eingehen. Das Lebenselement freiheitlicher Grundordnung – die ständige geistige und demokratische Auseinandersetzung auch mit gegenteiligen Meinungen – wird deshalb verkümmern. Betreutes Denken wird eingepflanzt.
Hinzu kommt die praktisch ausgeübte Zensur: Die großen Plattformen haben Eintragungen auf darin enthaltene „systemische Risiken“ zu analysieren, diese entsprechend zu bewerten und dann „Risikominderungsmaßnahmen“ zu ergreifen. Systemische Risiken liegen dann vor, wenn „voraussichtlich (oder absehbar) nachteilige Auswirkungen“ auf „die gesellschaftliche Debatte“, die „öffentliche Sicherheit“ oder die „öffentliche Gesundheit“ zu erwarten sind. Diese Eintragungen sind zu löschen bzw. zu sperren.
Diesen Begriffen fehlt jedoch, auch unter Berücksichtigung eines dem Gesetzgeber zuzubilligenden Ermessensspielraums, die vom rechtsstaatlichen Bestimmtheitsgebot geforderte inhaltliche Begrenzung. Eine gesetzliche Ermächtigung an die Exekutive muss nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt sein. Nur dadurch wird das Handeln der Ermächtigten messbar und in erträglichem Ausmaß für den Bürger voraussehbar und berechenbar.
Die Herrschaft des Verdachts wird jetzt nach dem Ausklingen der Coronazeit auf alle möglichen Felder des öffentlichen Lebens ausgedehnt. Den betroffenen Plattformen steht wegen der im DSA verwendeten Generalklauseln jederzeit ein Grund zur Löschung zur Verfügung, dem Koordinator eine Möglichkeit, Sanktionen anzuordnen und die Hinweisgeber haben unbeschränkte Möglichkeiten, Anzeigen zur Löschung vorzubringen.
Unberechtigten Löschungen wird zusätzlich Vorschub geleistet durch den angesichts der Informationsflut unvermeidlichen Einsatz automatischer Inhaltserkennungstechnologien. Der Europäische Gerichtshof hat kürzlich (in einem Verfahren betreffend die Datenschutzgrundverordnung; N.H.) entschieden, dass diese, bei einigen Plattformen schon zu 90% angewandten Techniken nicht in der Lage sind, die Wahrscheinlichkeit zukünftigen Verhaltens vorauszusagen.
Auch der Generalanwalt beim EuGH hat dargelegt, weshalb die zur Verfügung stehenden Techniken nicht in der Lage sind, die vom DSA geforderten wertenden Entscheidungen vorzunehmen, ob z.B. ein Eintrag absehbar nachteilige, eine Löschung rechtfertigende Auswirkung auf die „öffentliche Debatte“ oder die „öffentliche Gesundheit“ haben wird.
Wegen der für Zuwiderhandlungen angedrohten Geldbußen und Zwangsgelder von bis zu 6% des weltweiten Umsatzes im vorangegangenen Jahr werden die Plattformen schon alleine aus wirtschaftlichen Erwägungen sogenanntes Overblocking praktizieren (also das übermäßige Löschen von erlaubten Meinungsäußerungen und Informationen oder die Einschränkung von deren Verbreitung; N.H.).
Im Ergebnis wird sich der Nutzer der Plattformen stets als möglicher Störer der öffentlichen Debatte und Wahlprozesse oder als Gefährder der öffentlichen Sicherheit und öffentlichen Gesundheit sehen. Diese Unschärfemethode wird bei ihm die Befürchtung aufleben lassen, ins Visier der Kontrolleure zu geraten. Die die Demokratie tragenden öffentlichen Debatten werden zu Scheindebatten im vorgegebenen Meinungskanal degenerieren.
Die Überwachungsverpflichtungen aller Akteure sind präventiv angelegt. Es geht immer um „voraussichtlich kritische“, „voraussehbar nachteilige“ oder „absehbar nachteilige Auswirkungen“ auf die „gesellschaftliche Debatte“ die „öffentliche Sicherheit“ oder die „öffentliche Gesundheit“.
Der Generalanwalt beim EuGH hat dazu das rechtlich Notwendige gesagt: Hier handele es sich um „besonders gravierende Eingriffe in das Recht auf freie Meinungsäußerung (…) weil sie durch die Einschränkung bestimmter Informationen schon vor deren Verbreitung jede öffentliche Debatte über den Inhalt verhindern und damit die Meinungsfreiheit ihrer eigentlichen Funktion als Motor des Pluralismus berauben“ (Rz.102f). Der Generalanwalt weist zutreffend darauf hin, dass vorbeugende Informationskontrollen im Ergebnis das Recht auf die prinzipiell unbeschränkte Meinungs- und Informationsfreiheit aufheben.
Dieses Recht wird jetzt mit dem DSA obrigkeitlich zugemessen. Um, wie es der DSA vorgibt, aus den milliardenfachen, ununterbrochenen Kommunikationsvorgängen deren zukünftiges Risikopotential, z.B. für die „gesellschaftliche Debatte“, in den 27 EU-Staaten bewerten zu können, ist zumindest ein ungeheures Maß an Koordination erforderlich. Es wird deshalb ein europaweites Netzwerk der Kommunikationsüberwachungsbürokratie installiert. Zur wirksamen Überwachung und Durchsetzung bedarf es eines „nahtlosen Informationsaustauschs in Echtzeit“ (Art. 85 DSA) zwischen den Akteuren des Netzwerks.
An der Spitze steht bestimmend die Kommission, die sämtliche von ihr als wesentlich angesehenen Entscheidungen an sich ziehen kann. Die übrigen Beteiligten sind das „Gremium“ (Art. 63ff. DSA), der nationale „Koordinator für digitale Dienste“ (Art. 49ff. DSA) und die von letzterem zertifizierten zivilgesellschaftlichen „Hinweisgeber“ (Art. 22ff. DSA).
Diese Überwachungsbürokratie widerspricht dem grundgesetzlich verankerten Föderalismus. Bisher war die Medienaufsicht Ländersache.
Die Hinweisgeber sind nach dem DSA als „vertrauenswürdig“ anzusehen. wenn sie sich in der Vergangenheit bereits bei der Erkennung beanstandenswürdiger Inhalte bewährt haben (Art. 22 DSA). Im Klartext heißt dies: Die bekannten Denunzianten unter dem Regime des bisher geltenden Netzwerkdurchsetzungsgesetz werden dankbar erkennen, dass ihre Stellung Monopolcharakter gewonnen hat.
Ein aufmerksamer Blick hinter die Fassade der Rechtsstaatlichkeit offenbart, dass durch den DSA wissentlich das von Art. 11 EU-Grundrechtecharta, Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 5 GG garantierte Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ausgehöhlt wird.