Der Schweizer Ex-Banker und Finanzberater Michael Bernegger erklärt im Interview, warum eine Rückkehr zur Drachmee oder ein fortgesetzte Malaise der griechischen Banken verheerend für die Exportwirtschaft des Landes und damit seine langfristige Entwicklung sind.
Herr Bernegger, Sie haben ermittelt, dass die griechischen Exporteinnahmen viel zu niedrig ausgewiesen wurden, vor allem vor Ausbruch der Finanzkrise. Welche Bedeutung hat das heute noch?
Die Problemdiagnose hätte ganz anders ausfallen müssen. Man wäre nie auf die Idee gekommen, dass das Land eine strukturelle Exportschwäche hat, über seine Verhältnisse lebt und gesundgeschrumpft werden muss.
Aber die Regierung hat zu viel ausgegeben und sich verschuldet?
Wenn man genau auf die Zahlen schaut, sieht man, dass nicht so sehr die Ausgabenseite sich ungewöhnlich ungünstig entwickelt hat, wohl aber die Einnahmenseite. Dort hätte man von Beginn an ansetzen müssen, als die Krise ausbrach. Man hätte auf die Offshore-Konten im Ausland gehen müssen, sofern sie nicht korrekt versteuert sind. Eine intelligente Steueramnestie hätte rasch viel Geld gebracht, dazu natürlich eine rasche Reform der Steuerverwaltung.
Würde ein Austritt aus der Währungsunion die Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen?
Griechenland ist mit seinen beiden wichtigsten Exportbranchen, Reederei und Tourismus, jetzt schon äußerst wettbewerbsfähig. Die Reederei ist außerdem Dollar-basiert, einnahmen- und ausgabenseitig. Ein Austritt und eine Abwertung schaden nur, genauso wie die interne Abwertung, weil sie diese kapitalintensiven Sektoren mit hohen Zinsen und einer Kreditsperre belasten.
Was sehen Sie als Priorität?
Griechenland steht wirtschaftlich vor dem Zusammenbruch, weil die Deflation die Banken durch notleidende Kredite enorm schwächt. Der Bankensektor müsste sofort gerettet werden. Dies setzt ein Bündel von Maßnahmen voraus. Verstärkte Eigenmittel, Übertrag der faulen Kredite in eine intelligent konzipierte Bad Bank. Griechische Gelder aus dem Ausland müssen wieder ins Land gelockt werden, unter anderem durch Abschaffung der Steuer auf Erträge von Bankdepositen, die in der Praxis nur auf inländische Guthaben gezahlt werden. Ohne funktionierende Banken verliert Griechenland seine Exportbasis.
Die Fragen stellte Norbert Häring
Und hier mein Bericht über die zugrunde liegende, schriftliche Analyse Berneggers, die in Kurzform bei Social Europe abrufbar ist.
Griechenlands fehlende Flotte
Die Leistungsbilanz erfasst alle Exporte und Importe sowie grenzüberschreitende Kapitalvergütungen und unentgeltliche Zahlungen. Global müssten sich Einnahmen und Ausgaben zu null addieren. Tatsächlich gibt es ein riesiges Defizit in der Seefracht-Bilanz.
Ein wichtiger Grund dafür ist die fehlende Flotte Griechenlands. Das Land hat die größte Handelsflotte der Welt, aber ein großer Teil ihrer Einnahmen taucht nicht in der Statistik auf. Das geht aus einer Analyse des Schweizer Finanzexperten Michael Bernegger hervor, die als Occassional Paper in „Social Europe“ erscheint und dem Handelsblatt vorliegt. Der selbstständige Berater war Mitarbeiter der Schweizerischen Nationalbank und in leitenden Funktionen im schweizerischen Finanzsektor tätig.
Die Untererfassung der Handelsflotte verzerrt die griechischen Wirtschaftsstatistiken. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) wäre deutlich größer, wenn die Handelsschifffahrt ähnlich umfassend erfasst würde wie in anderen Ländern. Bernegger schätzt den Fehler für 2008 auf mindestens 15 Prozent. Heute sei er wohl geringer, weil es der Handelsschifffahrt nicht mehr so gutgehe.
Ein Rechenbeispiel: Würde das griechische BIP zehn Prozent höher ausgewiesen, sänke die Schuldenquote im Verhältnis zum BIP um über 15 Prozentpunkte auf rund 160 Prozent. Die Schuldenquote ist ein Maß für die Schuldentragfähigkeit.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) kennt das Problem. Bereits im sogenannten Esteva-Bericht von 1987 stellte er fest, dass die fehlenden Flotten Griechenlands und Hongkongs einen großen Teil des Welt-Leistungsbilanzdefizits erklären; er drängte darauf, die Erfassungsdefizite abzustellen. Ein Bericht von 2002 stellt fest, dass Hongkong nun einen großen Teil seiner Flotteneinnahmen melde, nicht aber Griechenland. Daran scheint sich wenig geändert zu haben.
Die statistisch erfassten Einnahmen der griechischen Flotte waren 2011 um über 40 Prozent kleiner als die der deutschen Flotte, obwohl diese gemessen an der Tonnage der Schiffe nur etwas mehr als halb so groß ist. Selbst die britische Flotte soll mit einem Zehntel der Ladekapazität der griechischen in den 2000er-Jahren mehr als diese umgesetzt haben.
Die für die Zahlungsbilanzstatistik zuständige griechische Notenbank sagte zu diesem Missverhältnis auf Anfrage: „Soweit wir wissen, werden die Einnahmen der in Griechenland ansässigen Firmen korrekt verbucht.“ Sie bestätigt, dass die Daten hauptsächlich von den heimischen Banken kommen, bei denen die Reeder Konten haben. Sie würden „soweit möglich“ mit anderen Datenquellen gegengecheckt.
Das Problem: Die Einnahmen in der Reederei gehen zu einem großen Teil direkt auf Dollar-Konten bei ausländischen Banken, von denen die griechische Zentralbank keine Daten erhält. Der griechische Reedereiverband verkündet zwar regelmäßig stolz den Größenzuwachs der weltgrößten Flotte, aber über Umsatzzahlen schweigt er beharrlich. Auch Steuerdaten gibt es nicht, da die griechischen Reeder eine reine Tonnagesteuer bezahlen und von der Einkommensteuer befreit sind.
Auf die griechische Leistungsbilanz würde sich eine Untererfassung der Reedereieinnahmen massiv auswirken, mit Folgen für die Krisendiagnose. Die gängige Diagnose ist, dass Griechenland ein Exportschwächling ist, der relativ zu den Importen viel zu wenig exportiert habe. Dadurch habe sich das Land übermäßig im Ausland verschuldet. Zumindest könnte man angesichts der Zahlen mutmaßen, dass diese Annahme falsch ist.
Für das Vorkrisenjahr 2008 schätzt Bernegger den Fehler beim Umsatz der Handelsschifffahrt auf mindestens 70 Milliarden Euro, was die Exportquote des Landes von 20 Prozent des BIP auf 50 Prozent nach oben schnellen ließe. Zieht man eine Vorleistungsquote von 30 bis 40 Prozent ab, würde das die Leistungsbilanz um 40 bis 45 Milliarden Euro verbessern. Statt eines Defizits in der Leistungsbilanz von 30 Milliarden Euro im Jahr 2008 wäre dann ein Überschuss von zehn bis 15 Milliarden Euro verzeichnet worden. Bezeichnend ist, dass der IWF 2008 in einer Wettbewerbsfähigkeitsanalyse Griechenland positiv hervorhob, weil dort das starke Wachstum durch hohe Produktivitätszunahmen gespeist werde.
Eine weitere Untererfassung vermutet der Finanzexperte auch beim Tourismus. Von 2003 bis 2010 habe es eine Vervierfachung der Übernachtungen in Fünf-Sterne-Hotels gegeben. Trotzdem zeige die Statistik stagnierende Einnahmen. Das würde zumindest nicht verwundern, denn den Zahlen liegt lediglich eine Stichprobenbefragung von Touristen zugrunde. Und die unterschätzen ihre Ausgaben gern mal.