Der letzte Digital- und Verkehrsminister, Volker Wissing von der FDP, hatte die Parole „Digital-only“ ausgegeben, ein anderes Wort für Digitalzwang. Die neue schwarz-rote Bundesregierung hat das sogar in ihrem Koalitionsvertrag verankert. Den Bürgern sollen analoge Alternativen zur Regelung ihrer Angelegenheiten mit dem Staat, mit Bus und Bahn und in anderen Lebensbereichen weggenommen werden. Das wäre schon schlimm und übergriffig genug, wenn der Staat digital wenigstens halbwegs könnte. Aber er kann es nicht.
Seit Januar gilt ein um 0,2 Prozentpunkte erhöhter Beitragssatz für die Pflegeversicherung von 3,6%. Den müssen auch Rentner bezahlen. Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) sah sich aber außerstande, das zu tun, was von jedem Arbeitgeber verlangt wird: den höheren Satz in seine Computerprogramme einzupflegen oder anderweitig dafür zu sorgen, dass der richtige Beitrag von der Rente abgezogen und abgeführt wird. Damit die Rentenversicherung beim nachträglichen automatisierten Einsammeln wenig Programmieraufwand hat, kam ihr die Regierung am 31. Dezember mit einer Verordnung zu Hilfe. Die DRV darf die zu wenig eingezogenen Beiträge des ersten Halbjahrs im Juli pauschaliert einziehen. Pauschaliert heißt, dass sie im Juli einmalig einen um 1,2 Prozentpunkte erhöhten Beitragssatz von 4,8% von der Rente abzieht und dann ab August den neuen Satz von 3,6%.
Das hat Vorteile für die Regierung und die Pflegeversicherung. Die DRV zieht den Erhöhungsbetrag für das erste Halbjahr auch von Neurentnern ein, die gar nicht im gesamten Zeitraum Rente bezogen haben. Und sie zieht den hohen Einmalsatz von 4,8% in dem Monat ein, in dem die jährliche Rentenerhöhung erstmals greift, also von einem im Vergleich zur ersten Jahreshälfte zu hohen Einkommensbetrag.
Die Regierung hat also die IT-Inkompetenz einer staatlichen Einrichtung genutzt, um der klammen Pflegeversicherung ausgerechnet zulasten der Rentner unauffällig etwas mehr Geld zukommen zu lassen. Ein weiterer Vorteil für die Regierungsparteien war, dass die Rentner vor der Bundestagswahl im Februar keine zusätzlichen Abzüge von der Bruttorente wahrnahmen.
Die DRV informiert auf einer Netzseite mit Fragen-und-Antworten. Die Fragen, warum auch Neurentner im Juli so viel abgezogen bekommen und warum für den pauschalierten Abzug ausgerechnet die zu hohe Bemessungsgrundlage von Juli gewählt wurde, kommen allerdings nicht vor. Auch in einem an alle Rentner verschickten Erläuterungsschreiben informiert die DRV über die einmalige Sonderbelastung im Juli. Ob die Erklärung aus Inkompetenz oder Vernebelungsabsicht so unverständlich geraten ist, muss offen bleiben. Sie lautet:
„Sie sind pflichtversichert in der sozialen Pflegeversicherung. Dafür müssen Sie einen Beitrag zahlen. Er beträgt 4,8% Ihrer Rente. Ihr Beitrag für die Pflegeversicherung ändert sich wegen der veränderten Höhe Ihrer Rente und wegen des geänderten Beitragssatzes.(… zwei Absätze später …) Der Beitragssatz von 4,8% gilt nur einmalig für den Monat Juli 2025. Ab dem 01.08.2025 beträgt der Beitragssatz 3,6%.“
Ko-Vorsitzender des Bundesvorstands der DRV für die Gruppe der Versicherten, die so etwas eigentlich hätte verhindern müssen, ist Anja Piel, Mitglied im Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB). Die Frage des Südkurier: „Sozialwahl: Überflüssiger und teurer Lobbyverein – oder Rückgrat der Demokratie?“ beantwortet sich nach diesem Vorgang fast von selbst.
Es geht für die Versicherten nicht um allzu viel Geld. Aber die Dreistigkeit mit der die Regierung die Pauschalierungsregel für den IT-inkompetenten Staat zu Lasten der Bürger ausgestaltet hat, legt eine problematische Grundhaltung offen. Es ist auch eine Mahnung, dass die Regierenden erst einmal ihr digitales Haus in Ordnung bringen sollten, bevor sie sich daran machen, ihre Beamten und Angestellten digital gegenüber den Bürgern abzuschotten.
Noch drastischer deutlich gemacht hat das der im Mai bekannt gewordene vertrauliche Bericht des Rechnungshofs zur IT-Infrastruktur des Bundes . Danach erfüllen weniger als zehn Prozent der Rechenzentren den Mindeststandard für IT-Sicherheit. Das gefährde staatliche Funktionen, wie die Auszahlung von Sozialleistungen,. Die meisten Behörden seien zwar mit Notstromaggregaten ausgestattet, aber die Notstromversorgung für kritische IT-Geschäftsprozesse sei dennoch nicht gesichert. Denn oft werde kein Treibstoff für die Generatoren gelagert und auch andere Vorkehrungen für Betrieb, Wartung und Pflege der Notstromversorgung fehlten. Beim BSL, das die Sicherheit der Rechenzentren überprüft, sind nur 20 von 112 Stellen besetzt. Dafür listet der Rechnungshof allein auf Bundesebene 77 Einrichtungen auf, die in Sachen IT-Sicherheit etwas zu sagen haben.
Vertreter von Regierungsparteien, die ein solches IT-Chaos zu verwalten und zu verantworten haben, sollten Begriffe wie digital-only nicht einmal in den Mund nehmen. Denn wenn Bürger durch Abbau analoger Alternativen in die Nutzung einer unsicheren und schlecht funktionierenden IT-Infrastruktur gezwungen werden und sich auf Gedeih und Verderb auf diese verlassen müssen, leidet der Service, der Datenschutz und die Datensicherheit für die Bürger und die Gesellschaft wird verwundbarer gegenüber Katastrophen und Angriffen.