Der Netzentwicklungsplan 2021-2035 prognostiziert für das Jahr 2035 eine deutsche Jahreshöchstlast, also die maximale Stromnachfrage von 106 Gigawatt (GW). Das sind 36 GW mehr als die der Planung zufolge dann installierte konventionelle Kraftwerksleistung von 71,9 GW. Ab 2023 stehen nämlich keine deutschen Kernkraftwerke mehr zur Verfügung, allerspätestens ab 2038 sollen auch alle deutschen Kohlekraftwerke stillgelegt sein.
Die erheblichen Defizite, die bei deutschen „Dunkelflauten“ auftreten, also wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht bläst, sollen durch Importe aus dem Ausland abgedeckt werden, wofür ein massiver Ausbau der grenzüberschreitenden Stromleitungen geplant ist.
Doch werden gesicherte, größere Importleistungen im Netzentwicklungsplan 2021-2035 nicht erwähnt. In den Nachbarländern werden vielmehr viele unabhängig von Sonne und Wind einsetzbare Kraftwerke stillgelegt werden, zum Beispiel mit dem Ausstieg aus der Kernenergie in Belgien bis 2025 und aus der Kohleverstromung in den Niederlanden bis 2030. Bei Stromknappheiten an kalten Wintertagen werden die deutschen Nachbarländer zuerst sich selbst versorgen, statt deutsche Defizite auszugleichen.
Zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit bei bundesweiten Dunkelflauten sind deshalb verbrauchsnah installierte Reservekraftwerke nötig, die langfristig CO2-neutral mit grünem Gas betrieben werden. Stattdessen sieht der deutsche Netzentwicklungsplan 2021-2035 keinen nennenswerten Zubau von Reservekraftwerken vor.
Der Plan setzt darauf, dass deutsche Stromversorgungsdefizite jederzeit gesichert durch Stromimporte abgedeckt werden können und deshalb „Knappheitssituationen, in denen der gesamte inländische Kraftwerkspark genutzt wird“, verhältnismäßig selten sind. Laut dem Netzentwicklungsplan bleiben dabei mutigerweise „seltene, außerplanmäßige Eventualitäten wie systematische Nichtverfügbarkeiten von Kernkraftwerken in Frankreich oder extreme Wettersituationen unberücksichtigt“.
Aber selbst wenn systematische Nichtverfügbarkeiten von Kernkraftwerken in Frankreich oder extreme Wettersituationen tatsächlich „seltene, außerplanmäßige Eventualitäten“ wären, müssten sie bei der Reservekraftwerksplanung berücksichtigt werden, da sonst für Deutschland unnötige Risiken eingegangen würden. Sie sind aber nicht einmal selten. Mittlerweile kommen Nichtverfügbarkeiten von ausländischen Kernkraftwerken und extreme Wettersituationen immer häufiger vor.
Statt verbrauchsnahe Reservekraftwerke einzuplanen, gefährdet der aktuelle Netzentwicklungsplan 2021-2035 nicht nur die im Energiewirtschaftsgesetz geforderte hohe Versorgungssicherheit der deutschen Stromversorgung, sondern riskiert längere Stromknappheiten und Stromausfälle.
Damit wird nicht nur die deutsche Wirtschaft gefährdet, sondern es werden auch Gesundheit und Leben von uns allen bedroht, wie in dem Technik-Thriller „Blackout“ von Marc Eisberg sehr anschaulich geschildert wird. Die Regierung spielt russisches Roulette.
P.S. (Norbert Häring): Lorenz Jarass veröffentlichte diesen Beitrag zuerst am 15.3. im Handelsblatt. Zwischenzeitlich hat der Bundesrechnungshof in einem Bericht an den Deutschen Bundestag über die Umsetzung der Energiewende in die gleiche Kerbe gehauen und die Energiepolitik der Bundesregierung heftig kritisiert. Das Bundeswirtschaftsministerium arbeite mit zu optimistischen und teils mit unplausiblen Annahmen, wenn es um die Versorgungssicherheit geht.
Lorenz Jarass arbeitet im Bereich erneuerbare Energien und Stromnetze für Regierungen, Netzbetreiber und Kommunen. Seine aktuelle Buchveröffentlichung: „Überdimensionierter Netzausbau behindert die Energiewende“ (als PDF herunterzuladen).