Markus Knüfermann.* Kommunen sollen Gebühren für öffentliche Leistungen so kalkulieren, dass sie die Kosten decken, aber nicht mehr. Bei dieser Kalkulation müssen sie sich an Gesetz und Rechtsprechung ausrichten. Das Kommunalabgabengesetz (KAG) NRW zählt in § 6, Abs. 2 zu den „nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ansatzfähigen Kosten“ unter anderem „eine angemessene Verzinsung des aufgewandten Kapitals“. Was unter „angemessene(r) Verzinsung“ zu verstehen ist, hat die Rechtsprechung konkretisiert. Sie hat eindeutig vorgegeben, wie der kalkulatorische Zinssatz zu berechnen ist.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts (VG) Düsseldorf vom 09. August 2010 (Aktenzeichen 5 K 1552/10) bestimmt ganz konkret als Datenbasis für den kalkulatorischen Zinssatz die „Emissionsrenditen für festverzinsliche Wertpapiere inländischer öffentlicher Emittenten“ (FN57) im Jahresdurchschnitt „der fünfzig Jahre bis zu dem Vorvorjahr des Jahres, für das die Gebühren kalkuliert und erhoben werden sollen“ (FN58). Es konkretisierte damit das grundlegende Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) NRW, das diese Datenbasis bereits mit dem Urteil vom 13. Mai 2005 (Aktenzeichen: 9 A 3120/03, FN69) festgelegt hatte.
Haben Kommunen in NRW seit 2006 zu hohe Gebühren kassiert?
Der kalkulatorische Zinssatz wird den Kommunen von der Gemeindeprüfungsanstalt Nordrhein-Westfalen (gpaNRW) bereitgestellt. Am 06. Mai 2021 waren die Zinssätze für die Jahre 2018 bis 2021 auf der gpaNRW-Website abrufbar. Sie lauteten:
5,87 % für das Jahr 2018;
5,74 % für 2019;
5,56 % für 2020;
5,42 % für 2021.
Meine Berechnungen der kalkulatorischen Zinssätze haben eine offenbar fehlerhafte Vorgehensweise der Behörde offengelegt: Die gpaNRW hat für die Jahre 2018 und 2019 jeweils die Renditen Öffentlicher Pfandbriefe und erst für die Jahre 2020 und 2021 korrekt die Renditen festverzinslicher Wertpapiere inländischer öffentlicher Emittenten herangezogen.
Öffentliche Pfandbriefe werden von Kreditinstituten emittiert also nicht, wie von der Rechtsprechung als Referenz gefordert, von „öffentlichen Emittenten“. Hierdurch ergeben sich für die Jahre 2018 und 2019 kalkulatorische Zinsen, die um 0,09 bzw. 0,12 Prozentpunkte zu hoch sind. Mit über 5 Prozent sind sie ohnehin um die fünf Prozentpunkte höher als die aktuellen Zinsen öffentlicher Anleihen.
In einer Antwort auf meine Anfrage bestätigte ein Mitarbeiter der gpaNRW indirekt die falsche Datenbasis. Er schrieb:
„In der Tat ist die Berechnung des kalkulatorischen Zinssatzes ab einschließlich dem Zinssatz für 2020 umgestellt worden hin zur Datenreihe ‚Anleihen der öffentlichen Hand – zusammen‘.“
Die Downloads der gpaNRW-Dokumente für die Jahre 2018 und 2019 benennen dagegen als Datenbasis explizit „Öffentliche Pfandbriefe“.
Es ist zu vermuten, dass auch die kalkulatorischen Zinssätze seit 2006 von der gpaNRW auf Basis der falschen Datenreihe berechnet worden sind. Kommunen, die ihre Benutzungsgebühren auf Basis der gpaNRW-Angaben zum kalkulatorischen Zinssatz berechnet haben, könnten deshalb rechtswidrig vorgegangen sein. Dabei ist es nach dem Urteil des OVG NRW vom 13.04.2005 (FN71) unerheblich, in welchem Ausmaß die kalkulatorischen Kosten das zulässige Niveau überschritten.
Zwar benennt die gpaNRW für die Berechnung der kalkulatorischen Zinssätze der Jahre 2020 und 2021 die richtige Datenbasis. Aber eigene Rechnungen konnten die gpaNRW-Angaben trotzdem nicht reproduzieren. Die gpaNRW publiziert den Zinssatz in Höhe von 5,42%; Nachrechnungen kommen jedoch auf 5,37%. Woran das liegt, ist unklar.
Das Mauern und Löschen beginnt
Die gpaNRW-Angaben zum kalkulatorischen Zinssatz scheinen falsch berechnet worden zu sein. Die Rechtsprechung gibt aber zwingend einzuhaltende explizite Höchstgrenzen vor, die teilweise deutlich überschritten worden sind. Kommunen, die mit diesen kalkulatorischen Zinssätzen ihre Benutzungsgebühren berechnet haben, zogen damit eine rechtswidrig hohe Datenbasis heran. In der Konsequenz sind alle Benutzungsgebühren, die derart berechnet wurden, juristisch angreifbar.
Eine diesbezügliche Rückfrage an den gpaNRW-Ansprechpartner zum kalkulatorischen Zinssatz, führte zu folgender Antwort seiner Teamleiterin:
„Weitergehende Auskünfte an Privatpersonen können aufgrund der Gebühren- und Entgeltfinanzierung der gpaNRW und mangels personeller Kapazitäten nicht erfolgen.“
Am selben Tag verschwanden auch die Download-Dokumente mit den Zinssätzen der Jahre 2018 bis 2020. Die gpaNRW hat demnach den Dialog zu diesem Thema abgebrochen. Wenn die aufgezeigten Überlegungen aber korrekt sind, haben alle Kommunen, die kalkulatorische Zinssätze auf falscher Datenbasis von der gpaNRW bezogen haben, juristisch rechtswidrig Zinssätze in die Gebührenkalkulationen einfließen lassen. Alle diese Gebühren hätten dann, wenn auch teilweise nur marginal, gegen die NRW-Rechtsprechung verstoßen, jedenfalls dann, wenn es keine ausgleichenden Untertreibungen anderer Kostenbestandteile gab.
Die gpaNRW ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts. Ein solches Problem unter den Teppich zu kehren, würde keineswegs das Vertrauen in die öffentliche Verwaltung fördern.
Stellungnahme der gpaNRW
Auf Anfrage von Norbert Häring nahm die Teamleitung Finanzen der gpaNRW wie folgt Stellung:
„In der Tat ist die Berechnung des kalkulatorischen Zinssatzes ab einschließlich dem Zinssatz für 2020 umgestellt worden hin zur Datenreihe „Anleihen der öffentlichen Hand – zusammen“. Der Unterschied der Datenreihen „Öffentlichen Pfandbriefe“ gegenüber den „Anleihen der öffentlichen Hand – zusammen“ macht im kalkulatorischen Zinssatz für 2018 und 2019 jeweils 0,06% aus (Jahresdaten). Darüber hinaus ist die Bereitstellung des kalkulatorischen Zinssatzes eine Serviceleistung der gpaNRW. Die Kommunen entscheiden in eigener Verantwortung über die Verwendung. Zu Ihrer Frage der Bereitstellung der kalkulatorischen Zinssätze auf unserer Homepage kann ich Ihnen mitteilen, dass in den letzten Wochen eine technische Überarbeitung unserer Webseiten stattfand. Vor diesem Hintergrund wurden die einzelnen Seiten zeitgleich auch inhaltlich aktualisiert. Ein Zusammenhang mit einer Anfrage von Herrn Prof. Markus Knüfermann ist nicht gegeben.“
Die Frage, welche Datenreihe der Berechnung der kalkulatorischen Zinsen für die Jahre 2006 bis 2017 zugrunde gelegt wurde, wurde nicht beantwortet.
Anmerkung von Norbert Häring: Das von Professor Knüfermann berechnete Ausmaß der Überschreitung des höchstzulässigen Kalkulationszinses mag gering erscheinen. Aber: Die Obergrenze wurde vom Gericht durch die Einbeziehung von 50 Jahre alten, viel höheren Zinsen ohnehin extrem großzügig gesetzt. Wenn selbst diese äußerst hohe Obergenze durch die Wahl einer falschen Berechnungsbasis noch überschritten wurde, wäre das ein Skandal, jedenfalls wenn es absichtsvoll geschehen sein sollte. Die Kommunen sollten sich nicht mit überhöhten Gebühren finanzieren. Das belastet Einkommensschwache unangemessen stark.
*Markus Knüfermann ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Mikro- und Makroökonomie und internationale Wirtschaftsbeziehungen an der EBZ Business School – University of Applied Sciences
Nachtrag (29. 05. 2021): Die Abwasserbescheide der Stadt Dortmund werden wegen der hohen kalkulatorischen Zinsen von fast sechs Prozent bereits aufgrund einer Klage verwaltungsgerichtlich überprüft. Wenn die Berechnungsgrundlage falsch war, könnte das deshalb sehr bald zu einem Präzedenzurteil führen. Das Mauern der gpaNRW und der Verweis darauf, dass man – obwohl Aufsichtsbehörde – nur eine Serviceleistung erbringe, könnte der Angst vor Regressforderungen von Seiten der Kommunen geschuldet sein.