Lorenz Jarass. Die Summe aller in Deutschland erzeugten Güter und Dienstleistungen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP), war 2020 laut Statistischem Bundesamt inflationsbereinigt fünf Prozent niedriger als 2019, die privaten Haushalte konsumierten um sechs Prozent weniger Güter und Dienstleistungen. Tatsächlich sind die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise aber weit gravierender, als die Statistik ausweist.
Laut dieser bewahrten die staatlichen Konsumausgaben mit einem Plus von 3,4 Prozent die Wirtschaft vor einem noch stärkeren Absturz. Zu den staatlichen „Konsumausgaben“ zählen alle Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst.
Wenn der Staat wegen Corona die Schulen und Kindertagesstätten weitgehend schließt, wird vielen Angestellten im öffentlichen Dienst trotz massiv reduzierter Dienstleistung ihr volles Gehalt weiter gezahlt. In diesem Umfang bleiben die staatlichen Konsumausgaben unverändert und damit auch das für Schule und Kinderbetreuung gemessene Bruttoinlandsprodukt.
Wie aber kann es sein, dass die Zahl der betreuten Kinder drastisch sinkt und trotzdem die im Bruttoinlandsprodukt für Schule und Kinderbetreuung gemessene Menge an erbrachten Dienstleistungen unverändert bleibt? Wieso bewahren Lehrerinnen und Lehrer, die keine Kinder ausbilden, und Erzieherinnen und Erzieher, die keine Kinder betreuen, die Wirtschaft vor einem noch stärkeren Absturz?
Das liegt daran, dass als Schätzung für die Produktionsleistung des Staates die Ausgaben des Staates im jeweiligen Bereich, also zum Beispiel für Schulerziehung, angesetzt werden. Diese Fehlmessung hat erhebliche Auswirkungen auf den amtlich gemessenen Rückgang des BIP bei vielen öffentlich finanzierten Dienstleistungen.
Theater und Opernhäuser, öffentliche Museen und Bibliotheken tragen mit rund 0,3 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, auch wenn sie geschlossen sind, solange der Staat die Gehälter der dort Beschäftigten bezahlt. Nur bei Kurzarbeit wird unterstellt, dass die Produktionsleistung entsprechend der niedrigeren Gehaltssumme sinkt.
Die öffentlichen Ausgaben für Kindertagesbetreuung, Schulen und Hochschulen tragen knapp fünf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei. Deshalb müsste eine Verringerung der erbrachten Betreuungs- und Bildungsdienstleistungen zum Beispiel um ein Drittel eigentlich das BIP um 1,5 Prozent senken. Doch in der offiziellen Messung bleibt das unberücksichtigt.
Wollte man richtig messen, müsste man bei der Umrechnung von der nominalen Produktionsleistung in „reale“, inflationsbereinigte Werte die Qualitätsverschlechterung öffentlicher Dienstleistungen als Preissteigerung für diese in Ansatz bringen. Als Gegenstück zu den unterstellten Qualitätssteigerungen bei Computern, Smartphones und Autos, die wie Preissenkungen behandelt werden und dadurch das reale BIP steigern. Aber das geschieht nicht.
Es wird unterstellt, dass jede Lehrerin und jeder Bühnenarbeiter pro Euro Gehalt noch ebenso viel produziert wie vor Corona. Dadurch werden die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise und der Lockdowns weit unterschätzt.
Lorenz Jarass arbeitet im Bereich erneuerbare Energien und Stromnetze für Regierungen, Netzbetreiber und Kommunen. Seine aktuelle Buchveröffentlichung: „Überdimensionierter Netzausbau behindert die Energiewende“. Er ist emeritierter Ökonomieprofessor an der Hochschule Rhein-Main.