Von Fritz Glunk.* Wir müssen Donald Trump dankbar sein. Er hat uns etwas gezeigt, das wir bisher nicht sehen wollten. Nein, nicht die Ignoranz der US-Amerikaner, sondern eine blinde Europäische Union, die ihren Gründungsauftrag freier Märkte erfüllt hat, und der jetzt nichts mehr einfällt als weiter die Lüge zu verbreiten, dass alles was gut ist für „die Wirtschaft“, auch gut ist für die Menschen – auch für die unten.
So gut wie alle Prgnosen zum US-Wahlkampf haben sich als falsch erwiesen. Und jetzt ist das Erschrecken der Medien groß. Man sieht förmlich, wie sie sich die Haare raufen und nur noch Fragen ohne Antwort zusammenbringen: „Wie konnte so etwas passieren?“. Epitheta sind in Umlauf , „Populismus“ und „postfaktisch“ vorneweg, „Xenophobie“, „Rechtsextremismus“, „Anfälligkeit für einfache Lösungen“. Also nichts Neues im Milieu der Deuter-Elite, vor allem keine Wähler-Analyse. Stattdessen wird, wie immer, das heruntergekommene Rechts-Links-Schema als Erklärungrahmen hergenommen (jedenfalls soweit unsere Parteien sich betroffen fühlen) Dabei ist links von der Mitte kaum noch eine Partei zu entdecken, auch nicht die mit der Positionierung im Namen. Und wenn jemand wie Trump gegen die Globalisierung wettert und lieber mehr heimische Arbeitsplätze möchte: Ist er dann – ja wo eigentlich? Links? Oder doch ein extremer Rechter? Oder ganz etwas anderes?
Schauen wir wir einmal nicht so fasziniert auf den Wahlsieger. Erhellender ist ein Blick auf das Wahlvolk. Fragen wir also: Warum haben so viele Menschen Trump gewählt? Es geht ja nicht an, die halbe US-Bevölkerung einfach für so anfällig oder dumm oder verrückt zu halten oder so show-besessen und geschmacklos, dass sie sich einen Lügner und Frauengrabscher als Anführer wählt. Man muss vielmehr vermuten, dass entscheidende Gründe woanders liegen, nämlich in der Antwort auf die Frage: Wie verzweifelt müssen Menschen sein, dass sie diesen Mann gewählt haben? Und weshalb sind sie so verzweifelt, dass sie oft – mangels einer ordentlichen soziologischen Kategorie – „Verlierer“ genannt werden, „die Liegengelassenen“, „die Vergessenen“, die „Betrogenen“? Für sie, wie Donald Wong meint, ist „Donald Trump a brick chucked through the window of the elites. ‘Are you assholes listening now?’.
Mit Glück wird in dieser Blickrichtung sichtbar, dass Trumps Gegenkandidatin, verglichen mit ihm, gebildet war, eleganter, liberaler, freundlicher, in gewisser Weise sogar anständiger, auf jeden Fall besser angezogen, besser vernetzt und politikerfahren. Nichts davon hat ihr genützt. Im Gegenteil: Diese guten Eigenschaften sind Merkmale der besseren Gesellschaft im Establishment, dessen Politik die „Betrogenen“ hervorgebracht hat. Nicht einmal ihr spätes Einschwenken auf Bernie Sanders’ linke Positionen hat ihr geholfen.
Haben so viele Menschen den Mann vielleicht gleichzeitig trotz und wegen seiner Ungeschliffenheit, seiner schlechten Manieren, seiner Unkorrektheit gewählt? Trotz seiner charakterlichen Mängel, weil sie selbst keine Frauenverachter und Rassisten sind. Wegen dieser Schwächen, weil sie es als Zeichen dafür nahmen, dass er nicht so ist wie die Elite an den Küsten. Und das war für sie offenbar das Wichtigere.
Wenn man sich einmal nicht die Mehrheitsverhältnisse in den einzelnen US-Staaten ansieht, sondern die Regierungsbezirke, dann hat man ein geradezu vollständig rotes, also Republikaner-Land vor sich, abgesehen von den zwei dünnen Küstenstreifen, wo die großen Städte liegen, in denen die Demokraten obsiegten. Es liegt deshalb nahe, einmal nicht Linke gegen Rechte aufzustellen, nicht Liberale gegen Fremdenfeinde, „Freihandel“ gegen „Abschottung“ oder „Aufklärung“ gegen „Populismus“, sondern eine viel einfachere Opposition : das Land gegen die Stadt. Leben diese abgeschirmten Politiker auf einem anderen Planeten? Man sieht sie jedenfalls nie in Bus oder U-Bahn, außer vielleicht im Wahlkampf. Und bitte wohin mit den Arbeitslosen vom Land, den „Modernisierungsverlierern“, die keine Ersatz-Dienstleistungs-Jobs haben – in die Küstenstädte?
Hilflose Beschwichtigungen
Die Beschwichtigung bei uns lautet: So dramatisch ist es in Europa bei weitem nicht oder noch nicht. Der Grund für den Eindruck ist vielleicht aber auch eine europäische Blindheit für unsere eigenen Vergessenen. Die wird bleiben und chronisch werden, solange wir uns mit einem Links-Rechts-Schema abplagen, statt uns mit den Menschen „unten“ zu befassen.
Brauchen wir für einen derart neuen Blick tatsächlich eine wirtschaftsfreundliche Zeitung wie die FAZ (vom 12. November 2016)? Philip Plickert präsentiert dort die objektiven Gründe für das immer weitere Auseinanderklaffen der Einkommen und den Schwund der Mittelschicht in den USA: den technologischen Wandel, Maschinen und Computer, die viele Arbeitsplätze wegrationalisieren, die Globalisierung. Keiner dieser Gründe wird psychologisch irgendwelchen „Ängsten“ zugeschrieben oder als Befindlichkeit „reicher und hysterischer“ Leute abgetan. Hinzu kommt natürlich, was in der FAZ nicht steht, die Entmachtung der Gewerkschaften als Interessenvertretung der Unteren und die Zerstörung von Solidarität und Selbstvertrauen des „White Trash“.
Die Europäische Union hat ihren Gründungsauftrag erfüllt: Der Gemeinsame Markt ist Realität. Seitdem fällt ihr – außer „Mehr! Mehr!“ – keine neue Politik mehr ein, vor allem keine für unsere eigenen Verlierer. Stattdessen verbreitet sie weiter die inzwischen offenkundige Lüge, dass alles, was für die Wirtschaft gut ist, auch für die Menschen gut sei.
Wartet sie darauf, dass auch ihr der Ziegelstein von unten durchs hohe Fenster fliegt?
*Fritz Glunk war Gründungsherausgeber und Chefredakteur des politischen Kulturmagazins Die Gazette. Der Literaturwissenschaftler und Publizist war nach dem Studium der Geschichte und der Germanistik von 1966 bis 1981 in der Auslandskulturpolitik tätig. Von ihm erschienen auf diesem Blog bereits Wider die schrecklichen Vereinfacher, TTIP-Overdrive – Die EU-Kommission hat den Verstand verloren , Öffentliche Gewalt und Das CETA-Abkommen mit Kanada ist rechtswidrig.