Von Fritz Glunk*. Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Populismus. Die Hilflosigkeit der linken Intelligenz auf diese Herausforderung zeigt, wie weit die Ideologisierung der Realität bereits vorangeschritten ist. Mit Schlagworten und Dämonisierungen wird sich die Kritik an der „Brüsseler EU“ und die Wertschätzung für einen souveränen Nationalstaat nicht beeindrucken lassen.
In der Rede der Anti-Populisten taucht immer wieder ein Muster auf: Die AfD etwa biete bei schwierigen Fragen bloß „einfache Antworten“, und die kämen nun mal gut an, so verführerisch seien sie. Das erklärt nicht, warum andere „einfache Antworten“, nicht ebenso verführerisch sind. Warum kommt zum Beispiel der doch ebenso einfache Gedanke, die Freimaurer beherrschten heimlich die Welt, nicht auch so gut an? Oder dass man die Mondlandung im Studio gedreht habe? Die Auswahl an „schrecklichen Vereinfachungen“ ohne ernstzunehmende Anhänger ist groß.
Wir-Gefühle
In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hat „unser“ Land einen Ersten Weltkrieg ausgelöst und einen Zweiten Weltkrieg begonnen: Sie kosteten rund 70 Millionen Menschen das Leben. Zu diesem Massentöten zogen Soldaten aus, weil man ihnen eingeredet hatte, das Vaterland sei in Gefahr, wenn sie nicht möglichst viele von „denen“ töteten. Das Nationalgefühl, das eigene „wir“ war derart affektiv aufgeladen (in Görings Worten: „Deutschland ist Hitler, und Hitler ist Deutschland“), dass daraus ein ausschließendes „wir“ wurde, weit hinein verschoben in ein feindseliges „wir oder die“, wo es sich zu einer nach innen und nach außen gewalttätigen völkischen Hyper-Identität verdichtete, zu einer Sache auf Leben und Tod.
Das ging Mitte des Jahrhunderts so krachend zu Ende, dass eine verdatterte Bundesrepublik ein paar Jahrzehnte lang lieber vom „Zusammenbruch“ als von einer „Befreiung“ sprach. Gründlich in die Brüche gegangen war da in der Tat ein historischer Bezug: eine Art Zugehörigkeit (eine, man traute sich das Wort schon nicht mehr zu gebrauchen, „Schicksalsgemeinschaft“) zu einer deutschen Geschichte, die hinter dem Trümmerhaufen des „Dritten Reiches“ schier unsichtbar wurde. Alles, was auch nur von fern an eine besondere deutsche Identität erinnerte, war nach den Verbrechen der Nationalsozialisten endgültig diskreditiert. Man muss sich nur mal den heutigen Ausdruck für etwas total Abgewirtschaftetes, „Das ist Geschichte!“, auf der Zunge zergehen lassen. Was nach „Herkunft“ klingt (feiner: nach „Genealogie“), ist verdächtig. Wofür wir uns gefälligst fit zu machen haben, ist die Zukunft. Und ein noch so inoffensiver Patriotismus, wenn er nicht als anämischer „Verfassungspatriotismus“ daherkommt, ist sofort in der Defensive gegen die Killer-Rüge: „Nationalismus“.
Steine statt Brot
Es wächst ein Gefühl der Enttäuschung, noch vage und unartikuliert. So vieles wurde in Aussicht gestellt, so wenig hat sich erfüllt:
• Die Globalisierung war anfangs ein Versprechen, heute ist sie nur noch eine Herausforderung.
• Europa sollte ein friedliches Zusammenleben sichern, aber wir sehen ein mörderisches ökonomisches Wettrennen, bei dem die Jugend des Südens am Straßenrand liegenbleibt, während die Stärkeren im Standortwettbewerb schuften, damit der böse Mann aus China nicht kommt.
• Das „Europa der Vaterländer“ war eine hübsche französische Idee, aber daraus wurde auch nichts. Stattdessen kam der Brüsseler Zentralismus mit dem Ölkännchen-Verbot beim „Italiener“. Was, so scheint die EU-Kommission Tag und Nacht vor sich hin zu grübeln, haben wir noch nicht durchökonomisiert?
• Die Europäer, die 1950 jubelnd an der deutschfranzösischen Grenze bei Kehl die Schlagbäume verbrannten – wo sind sie geblieben? Das damals erträumte „Europa von unten“, „ein soziales Europa“ – wo ist es?
• Gorbatschow hatte die schöne Metapher vom „gemeinsamen Haus“ in die politische Rede eingeführt. Nur: Wo steht es? Sehen wir an seiner Stelle nicht eher einen geopolitischen Machtkomplex, aus dem ein megalomanes „Wir sind die Größten!“ herausschallt?
Darf man sich nach diesen säkularen Enttäuschungen noch wundern, wenn im kollektiven Bewusstsein ein Gefühl der Leere entsteht, ein Gefühl mangelnder Nähe, Wärme, Vertrautheit? Es ist vielleicht ein Gewinn, auf Reisen in der EU (jedenfalls bis vor Kurzem) nicht einmal mehr den Pass vorzeigen zu müssen. Aber irgendwann ist man auch gern wieder zu Hause. Dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit wird weder kulturell noch von der offiziellen Politik berücksichtigt oder gar als legitim anerkannt. Den Leuten einfach immer mehr Wohlstand zu versprechen (der sich dann doch nur bei den Bestverdienenden anhäuft), genügt irgendwann nicht mehr. Man darf sich deshalb auch nicht wundern, wenn vom rechten politischen Spektrum das Angebot, diese Zugehörigkeit wiederherzustellen, mit Interesse aufgenommen und in Form von Wählerstimmen unterstützt wird. Und ist es dann noch verwunderlich, dass Globalisierungskritiker aus dem eher linken Spektrum bei einer Demo gegen die totale Ökonomisierung der Gesellschaft neben der AfD stehen?
Schreckliche Vereinfacher
Wenn man einer Antwort auf Frage nach einer differenzierenden Argumentation näherkommen möchte, ist der Vorwurf der „schrecklichen Vereinfachung“ nach zwei Seiten zu erheben. Erstens hat er sich gegen die Populisten zu wenden – das ist inzwischen Allgemeingut. Zweitens aber muss man ihn an die dumpfen Anti-Populisten richten: Deren Behauptung, alles Fremde sei uns willkommen, ist ebenso simpel und falsch wie die Gegen-Behauptung, alles Fremde sei eine Bedrohung. Beide Seiten lassen es sich bei diesem Hinwerfen der jeweiligen Maximen wohl sein im Vollbesitz hoher Selbstgerechtigkeit: die einen in ihrer Verteidigung des Eigenen, die anderen in der Verteidigung humanistischer Ideale. Beide machen denselben Fehler: Sie streichen die Gegenposition aus dem Gesprächsprotokoll, statt sie wahr- und ernst zu nehmen. Das erspart Selbstkritik, vor allem aber die Notwendigkeit, sich in die Gegenseite hineinzudenken.
Wer den Populisten gegenübertreten möchte, ist nicht allein deswegen schon ein guter Mensch. Wer mit rechthaberischem Blick nur seine Seite der Polarität im Auge hat, tut der anderen Seite schon Unrecht. Wer also, beispielsweise, immer nur die „Emanzipation“ preist und für alle „Tradition“ nur ein verächtliches Schulterzucken übrig hat, weiß einfach nicht, dass er in einem Spannungsfeld zwischen beiden steht. Er muss, um gesprächsfähig und ehrlich zu bleiben, beide Pole im Auge behalten. Die Versuchung, sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen, ist zwar immer da. Aber man muss beide Zügel in der Hand behalten, um in einer konkreten Situation, in der nichts von vornherein ausgemacht ist, einen guten Ausgleich zu schaffen. Das trifft ebenso auf viele andere Spannungsfelder zu: zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, Erbe und Aufbruch, Herkunft und Zukunft, Heimat und Begegnung, ja sogar noch zwischen Eigen- und Nächstenliebe.
Wer nicht fähig ist, zwischen beiden immer wieder neu eine vernünftige und menschenfreundliche Übereinkunft herzustellen oder wenigstens zu versuchen, der hält sich besser ganz heraus aus einer anspruchsvollen, speziell einer politisch anspruchsvollen Diskussion. Das gilt übrigens auch für Journalisten.
* Dieser Text ist die Kurzfassung eines Essays mit dem Titel „Steine statt Brot“ erschienen in der aktuellen Ausgabe des politischen Kulturmagazins Die Gazette, deren Gründungsherausgeber und Chefredakteur Fritz Glunk war. Der Literaturwissenschaftler und Publizist war nach dem Studium der Geschichte und der Germanistik von 1966 bis 1981 in der Auslandskulturpolitik tätig. Von ihm erschienen auf diesem Blog bereits TTIP-Overdrive – Die EU-Kommission hat den Verstand verloren , Öffentliche Gewalt und Das CETA-Abkommen mit Kanada ist rechtswidrig.
Weil es so schön dazu passt …
… will ich (N.H.) noch kurz Harald Martenstein aus seiner Kolumne im Zeit-Magazin zitieren. Seine Ausgangsthese:
„Sehr viele Leute sehen die Einwanderungspolitik kritisch. In einer Demokratie muss es eine Partei geben, die diese keineswegs verbotene Ansicht glaubwürdig repräsentiert. Was sollen die Merkel-Gegner denn sonst tun? Einen Guerillakrieg anfangen? Ach so, sie sllen die Klappe halten und am besten gar nicht wählen. Na dann.“
Daraus leitet er Forderungen an Medienvertreter für den Umgang mit der AfD ab:
„Ich verlange von meinen Kollegen, wenn sie sich mit der AfD auseinandersetzen, ein gewisses Maß an Faktentreue und zumindest ansatzweise den Einsatz von Intelligenz. Es hilft, wenn man mal versuchsweise für eine halbe Stunde die Phrasendreschmaschine ausschaltet. „(…) Mit Beschimpfungen und erfundenen Vorwürfen gewinnt man jedenfalls keinen Blumentopf.“