Drosten und die Kinder

10. 12. 2023 | Christian Drosten möchte, dass in einer Pandemie die Wissenschaft mit einer Stimme spricht und abweichende Stimmen von der Öffentlichkeit fern gehalten werden. Zwei Wissenschaftler mit abweichender Meinung, die letztlich Recht behielten, Ulrich Keil und Angela Spelsberg, beschreiben in diesem Gastbeitrag aus eigener Erfahrung einer Auseinandersetzung mit Drosten, was für fatale Folgen ein solch eigenwilliges Wissenschaftsverständnis haben kann.

Von Ulrich Keil und Angela Spelsberg.* Während der Corona-Pandemie war der Virologe Christian Drosten eine maßgebliche Stimme der „Wissenschaft“, die in medialer Dauerpräsenz Politik und öffentliche Meinung stark beeinflusste. Dank Drosten standen große Teile der Bevölkerung während der Corona Jahre hinter drastischen Maßnahmen der Politik wie Lockdowns und Schließung von Kitas und Schulen, wobei sich die Regierung bei ihrer Entscheidungsfindung erklärtermaßen auf die „Wissenschaft“ stützte; ganz analog zu den USA, wo Anthony Fauci von der obersten Gesundheitsbehörde (NIH) Politik und Öffentlichkeit ständig ermahnte: „follow the science“.

Auf diese Erfahrungen Bezug nehmend, forderte Drosten auf dem Weltgesundheitsgipfel in Berlin im Oktober 2023, dass „nur über die Institutionen der Wissenschaft“ Expertengremien einzurichten seien, die aus „wirklichen Experten“ bestehen; ansonsten drohe – wie schon gehabt – auch bei der nächsten Pandemie Desinformation, “und dann sind wir verloren“.

Die darin erkennbare Weigerung, sich mit wissenschaftlicher Kritik und abweichenden Auffassungen und Ergebnissen auseinanderzusetzen, ist ein Kernelement der von Drosten verfolgten Strategie. Mit einem modernen Verständnis von Wissenschaft, das die Fähigkeit zu Selbstzweifel, Hinterfragung und kritischer Diskussion voraussetzt, ist eine solche Haltung kaum vereinbar.

Drosten war zu Beginn der Pandemie einer der Verfasser des am 18. Februar 2020 im Lancet veröffentlichten Covid-19 Statements, in dem gefordert wurde, dass „alle Wissenschaftler mit einer Stimme sprechen“ und sagen, dass SARS-CoV-2 einen natürlichen Ursprung im Tierreich habe. Abweichende Meinungen seien „Verschwörungstheorien, die nichts anderes als Angst, Gerüchte und Vorurteile hervorriefen und die globale Zusammenarbeit im Kampf gegen das Virus gefährden.“

Inzwischen legen Enthüllungen vor dem US amerikanischen Kongress-Unterausschuss zu Covid-19 zumindest nahe, dass es sich dabei um eine gezielte Verschleierungs-Kampagne gehandelt hat, um die Verbindung des Ursprungs der Pandemie mit der künstlichen Erzeugung (Gain-of-Function-Forschung) von Coronaviren im Wuhan Institute of Virology (WIV) zu verdecken und alle gegenteiligen Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Entgegen der empirischen Erkenntnis, dass Schulschließungen keinen Nutzen für die Bevölkerung bringen, beharrte Drosten auf seiner frühen Hypothese, dass Kinder Hauptverbreiter des Virus seien, was er mit einer von ihm und 19 Koautoren erstellten Publikation „Estimating infectiousness throughout SARS-CoV-2 infection course“ untermauern wollte. Der im Mai 2021 in Science erschienene wissenschaftliche Artikel und ein schon im Mai 2020 veröffentlichter „Preprint“ waren sehr einflussreich in den Medien und spielten eine wichtige Rolle dabei, dass Kinder als „Superspreader“ in einem Umfang in die Pandemiemaßnahmen einbezogen wurden, der heute von fast allen mit der Materie Vertrauten als Fehler und sehr schädlich für die Kinder betrachtet wird.

In einem ausführlichen Leserbrief vom 14. Juni 2021 an den Herausgeber der Zeitschrift Science, der online unter dem Artikel abrufbar ist, haben wir zusammen mit drei weiteren Wissenschaftlern grundlegende Kritik an dem Artikel von Drosten u.a. geübt, da die weitreichenden Schlussfolgerungen nicht aus den in der Arbeit vorgelegten Tabellen und Grafiken abgeleitet werden können. Wissenschaftliche Standards in Bezug auf Design, Durchführung und Beschreibung der Studie wurden ignoriert, sodass die Datenbasis für die komplexen statistischen Modelle zur Beschreibung des Infektionsverlaufs schlichtweg nicht vorhanden ist.

So ist z.B. über die Hälfte der 4.344 für die Modellrechnungen benutzten, mehrfach RT-PCR-getesteten Fälle zwischen 65 und 84 Jahre alt, während Kinder unter 15 Jahren zumeist nur einmal getestet wurden. Es kommt hinzu, dass die Eignung des RT-PCR Tests für die Einschätzung der Infektiosität in der symptomlosen Allgemeinbevölkerung nie wissenschaftlich nachgewiesen wurde.

Dennoch schlussfolgern die Autoren, dass es sich auch bei einer niedrigen Viruslast bei der ersten Messung um ein vorsymptomatisches Stadium eines sogenannten Superspreaders – auch bei Kindern – handeln könne, bei dem in den nächsten Stunden bis zu fünf Tagen eine exponentielle Viruspartikelvermehrung eintreten kann, auch wenn keine Symptomatik vorhanden ist.

Entgegen den üblichen wissenschaftlichen Gepflogenheiten, dass sich Autoren mit der veröffentlichten Kritik an ihrem Artikel öffentlich auseinandersetzen, gab es keinerlei Reaktion auf unseren Leserbrief. Auch die Nachfrage beim Herausgeber fruchtete nicht.

Die hier von Drosten gezeigte Kritikimmunität ist mit wissenschaftlichen Standards nicht zu vereinbaren. Seine Strategie, wissenschaftliche Argumente gegen die eigene Agenda abzublocken, zeigte schwerwiegende Folgen besonders für die Kinder. Die nun sichtbaren schweren Schäden durch Schulschließungen und soziale Isolation hätten frühzeitig verhindert werden können.

Drostens beharrliches Festhalten an der Forderung, dass Wissenschaftler nur mit einer Stimme sprechen sollten, bzw. dass nur eine bestimmte Auswahl von Fachkollegen „mitten in einer Pandemie über den Kern des Problems sprechen“, ist besorgniserregend. Vor dem Hintergrund, dass der Virologe Drosten seit vielen Jahren im Bereich Biosicherheit künstlich erzeugter Viren engagiert ist und die Risiken dieser Forschung für vertretbar hält, erscheint seine Forderung noch in einem anderen Licht. Auch hier tut eine öffentliche Diskussion not.

*Ulrich Keil ist Professor em. für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Münster, Angela Spelsberg ist Epidemiologin und Ärztliche Leiterin des Tumorzentrums Aachen. 

Print Friendly, PDF & Email