Auch ich habe Angst, wenn mich die Drohkulisse steigender Corona-Zahlen zum x-ten Mal erreicht. Es gibt Corona und wir müssen etwas dagegen tun. Aber ich habe auch Angst vor Politikern, die mit Zahlen unterlegt immer genau wissen, was zu tun ist. Das erinnert mich an das Frühjahr, wo Verdopplungszeit unter zehn Tagen, dann unter 14 Tagen, dann der R-Wert unter eins, gefolgt vom korrigierten R-Wert unter eins jeweils genau die einzig richtigen Ziele waren.
Ein Irrtum jagte den nächsten, wie heute zugegeben wird. Man wusste so vieles nicht, aber die Maßnahmen wurden als alternativlos dargestellt. Wenn dann noch die Begriffe infiziert mit krank gleich gesetzt werden, die Anzahl der positiv Getesteten als Maß für die Pandemie genommen wird, Dunkelziffer und veränderte Teststrategie übersehend, dann steigt meine Angst.
Wer zusätzlich die deutsche März-Entwicklung mit der des Oktobers gleichsetzt, Altersstruktur der Infizierten und die andere Wetterlage übersehend, der hat sich in meinen Augen als Entscheider disqualifiziert. Die Zahl der Auftritte in Talkshows zeigt eben nur den Unterhaltungswert.
Ja, die Politiker berufen sich auf Wissenschaftler. Aber anstatt klar zu formulieren, was sie eigentlich wissen müssen, werden Studien ausgesucht, die das geplante Vorgehen stützen. Dabei wird dann auch nicht vor Studien zu Hotspots zurück geschreckt, trotz Warnungen der Wissenschaftler. Seit acht Monaten wird versäumt zu messen, wie viel Prozent der Bevölkerung überhaupt infiziert sind und wie gefährlich die Krankheit bei diesen ist.
Repräsentative Studien werden mit merkwürdigen juristischen Bedenken abgelehnt. Bedenken, die bei den verkündeten Maßnahmen anscheinend nicht bestehen. Viele weitere statistische Fehldeutungen lohnen ein Studium, um sie bei den nächsten Entscheidungen nicht zu wiederholen.
Maßnahmen werden verordnet, Stärke damit vorgetäuscht. Untersuchungen zur Wirksamkeit dieser Aktionen sind aber Mangelware. Dabei bieten die verschiedenen Verordnungen in den europäischen Ländern, in den verschiedenen Bundesländern, zum Teil sogar kommunal unterschiedlich bestes Datenmaterial.
Mein Vorschlag vom Juni, das bundesweite Maßnahmen-Durcheinander als geplantes Experiment zu nutzen wurde verspottet. Wir wüssten heute mehr. Warum haben die scharfen langen Lockdowns in Frankreich und Spanien langfristig so wenig genutzt? Wir können nur raten.
Jetzt heißt es, die zweite Welle brechen. Sehr nebulös und Ende November vielseitig interpretierbar. 75% der Kontakte sollen reduziert werden, wieder so eine scheingenaue Zielgröße. Die Entscheidungen werden weitgehend reduziert darauf, diese oder jene Aktivität zu verbieten oder nicht zu verbieten. Aber warum fallen den Entscheidern nicht proaktive Vorschläge ein, wie die Anfangszeit von Arbeit und Schule zu entzerren und Reisebusse mit Fahrern anzumieten, damit die Schüler und Pendler nicht dicht gedrängt im Nahverkehr stehen und sitzen müssen. Stattdessen wird die alte Rohrstock- und Angstpädagogik aus vergangenen Zeiten ausgepackt. Aber wir leben nicht mehr unter Kaiser Wilhelm. Es braucht auch kluge und einfühlsame Entscheider um die notwendige Eindämmung des Virus hinbekommen.
Hinweis (N.H.): Ein Gastbeitrag von Februar von Gerd Bosbach ist im Hinblick auf den Mangel an Pflegepersonal, der heute als Rechtfertigung für den Lockdown mit herangezogen wird, weiterhin sehr lesenswert.
Faktenmangel statt Fachkräftemangel
*Gerd Bosbach ist emeritierter Professor für Statistik und Empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz und Autor, mit Jens Jürgen Korff, von “Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklüge“, von „Lügen mit Zahlen“ und von „Die Zahlentrickser“.