Eine Zahl zu ermitteln war den siegreichen Amerikanern nach dem zweiten Weltkrieg sehr wichtig; so wichtig, dass sie dafür einen führenden deutschen Statistiker aus der Sowjetisch Besetzten Zone entführten und in ein Ostberliner Amt einbrachen, um Unterlagen über den Industriezensus von 1936 zu stehlen. Die Zahl um die es ging, war das Bruttosozialprodukt.
In einem neuen Büchlein über das so trocken erscheinende Thema „Bruttoinlandsprodukt“ sind noch mehr solcher spannender Vignetten enthalten. Sieben Jahrzehnte später rief der französische Präsident eine höchstkarätig besetzte wissenschaftliche Kommission ins Leben, um Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), dem heute im Vordergrund stehenden Zwilling des BSP, zu entwickeln. Eine Enquete-Kommission des Bundestags durfte sich mit der gleichen Frage beschäftigen.
„Die Macht der einen Zahl“, wie der Potsdamer Wirtschaftswissenschaftler Philipp Lepenies sein ebenso kurzweiliges wie informatives Werk über die politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts betitelte, zeigt sich in solchen historischen Begebenheiten ebenso, wie in den jüngeren Bemühungen, dieser Zahl sinnvolle Alternativen oder Ergänzungen entgegen zu stellen. So mächtig ist das BIP geworden, dass jede Regierung, ob sie den Indikator mag oder nicht, ihn berechnen und beachten muss. Bei der Lektüre des leicht zu lesenden Buches lernt man, dass dieses statistische Konstrukt, das scheinbar objektiv misst, was produziert wird und welche Einkommen dabei entstehen, viel politischer als man glaubt.
Einer der Hauptgründe für die zunehmenden Bestrebungen, das BIP abzulösen oder zu ergänzen liegt darin, dass es als Wohlstandsmaß, für das es weithin gehalten wird, nicht allzu viel taugt. Es unterscheidet nicht zwischen wohlstandsmehrender Produktion, reinen Reparaturarbeiten und jener Produktion, die möglicherweise sogar den Wohlstand mindert. Schmutzige Produktion erhöht das BIP ebenso wie die danach nötige Reinigung von Flüssen und Seen oder die Sanierung von durch die Umweltverschmutzung geschädigten Bauten oder die Behandlung umweltbedingter Krankheiten.
Die Fragestellungen, für die das BIP konzipiert wurde, sind andere. Es sind durchaus legitime Fragestellungen, aber eben andere. Daraus folgt, dass, wer das BIP maximiert, damit nicht den Wohlstand der Bevölkerung maximiert.
Dabei wäre es fast anders gekommen: Simon Kusnetz, der russischstämmige US-Ökonom und Pionier der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, aus denen das BIP hervorgeht, vertrat in den 1930er Jahren ein Konzept, das tatsächlich auf die Messung der materiellen Wohlfahrt der Bürger ausgerichtet war. Wenn heute eine Behörde oder ein Unternehmen im Auftrag des Staates eine Kläranlage betreibt, gehen die Erlöse, oder ersatzweise die Kosten in das BIP ein. Kusnetz hätte das herausgerechnet, als notwendige Kosten des Wirtschaftens, so wie auch bei der heutigen BIP-Berechnung der Umsatz eines Bremsenproduzenten vom Gesamtumsatz der Automobilindustrie abgezogen wird. Denn er ist in den Verkaufserlösen der Autos bereits enthalten.
Diese streng individualistische, auf die Konsummöglichkeiten des einzelnen Bürgers bezogene Sichtweise, passt eigentlich viel besser als das BIP zur individualistischen Philosophie der Ökonomen als das heutige Konzept des Bruttoinlandsprodukts. Dieses ist viel stärker von den Informationsnotwendigkeiten des Steuer erhebenden, planenden, gestaltenden Staates und des Krieg führenden und mit anderen Ländern konkurrierenden Staats geprägt.
Der Hauptgrund, warum Kusnetz sich letztlich mit seiner auf die die materiellen Ziele der Bürger bezogenen Sichtweise nicht durchsetzen konnte, war Lepenies zufolge, der heraufziehende zweite Weltkrieg. Großbritannien, wo das BIP seine zweite Wiege hatte, und die USA bereiteten sich auf einen großen Krieg gegen Hitler vor. Die USA wollten diesen Krieg gewinnen, indem sie eine erdrückende Übermacht an Kriegsgerät ins Feld schickten. Dieses Kriegsgerät musste erst produziert werden, und die dafür nötige massive Umwidmung der Produktionskapazitäten wollte geplant werden. Die individualistische Bürgersicht hatte in Anbetracht dieser militärischen Notwendigkeiten zurückzustehen. Kusnetz wurde beiseite geschoben und andere entwickelten auf Basis seiner und britischer Vorarbeiten ein passendes Konzept zur Messung der Wirtschaftskraft.
Wie groß sind unsere Produktionskapazitäten? Wie viel davon können wir für die die militärische Produktion umwidmen? Reicht das für den Sieg? Das waren die drängenden Fragen, nicht welche Produktionsarten den Wohlstand steigerten und welche Reparaturcharakter hatten, oder gar schadeten. Deshalb nannte der Historiker Russell Weigley 1973 in seinem Buch „The American Way of War“ den 2. Weltkrieg einen „Bruttosozialproduktskrieg”.
Seit sie gemessen werden stehen große Produktionskapazitäten für wirtschaftliche und militärische Macht des Staates, nicht für den Wohlstand der Bevölkerung
Würde die englische Krone eine zehnprozentige Steuer auf die Ausgaben der Engländer erheben, könnte sie hunderttausend Fußsoldaten, dreißigtausend Pferde und vierzigtausend Seeleute dauerhaft unterhalten. Das schloss der britische Wissenschaftler und Politiker William Petty Mitte des 17. Jahrhunderts aus seinen ersten kruden Berechnungen zum britischen Volkseinkommen. Wie Lepenies erzählt. wollte Petty, eine schillernde Figur mit interessanter Lebensgeschichte, das Selbstbewusstsein der britischen Monarchie gegenüber den als kultivierter und mächtiger geltenden Franzosen stärken. Entsprechend indigniert war man in Paris. Die Berechnungen Pettys wurden daher lange unter Verschluss gehalten.
John Maynard Keynes argumentierte 1940 in seiner Schrift „How to Pay for the War“ ganz wie Petty. Für ihn diente das Volkseinkommen dazu, das besteuerbare Einkommen zu ermitteln, aus dem sich die Kriegsausgaben finanzieren ließen. Er baute zwar auf die Vorarbeiten seines Protegés, des ökonomischen Autodidakten und Statistik-Pioniers Colin Clark auf. Aber auch er änderte dessen an Konsummöglichkeiten der Bürger orientierte Definition des Volkseinkommens dahingehend, dass in Keynes Definition Investitionen und Staatsausgaben mit einflossen. Dem Staat kam für Keynes ohnehin eine wichtige Rolle zu, und in Kriegszeiten sowieso. „Der Zweite Weltkrieg ist die wahre Geburtsstunde der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen“, schrieb der renommierte Ökonom Don Patinkin. Daneben spielte natürlich noch eine große Rolle, dass gemäß der keynesianischen Theorie der Staat Nachfrageschwankungen auszugleichen hatte, um für Vollbeschäftigung zu sorgen. Investitionen und Staatsausgaben sind unter dem Aspekt der Nachfragesteuerung unbedingt mitzuzählen, auch wenn sie die materielle Wohlfahrt der Bürger erst einmal nicht erhöhen.
Auch in den USA setzte sich das Interesse des Staates in Kriegsvorbereitung an einer umfassenden Ermittlung des Produktionspotentials gegenüber der Wohlstandsmessung durch. Und nach dem Krieg kam erneut die Notwendigkeit, große Produktionskapazitäten umzuwidmen, zurück zur zivilen Produktion. Das wollte geplant sein. Und danach kam der kalte Krieg, bei dem die konkurrierenden Blöcke versuchten, sich gegenseitig mit ihrer militärischen und zivilen Produktionskraft in den Schatten zu stellen. Die ständige Ausweitung der Produktion wurde zum Dogma erhoben, um das Wettrüsten gewinnen und die Beschäftigung hoch halten zu können. Die Verbesserung der Konsummöglichkeiten war nur ein erhoffter und erwünschter Nebeneffekt.
Der US-Regierung war es wichtig, dieses Dogma und die zugehörigen statistischen Konventionen auch bei ihren Alliierten in Europa durchzusetzen. Um die Mittel des Marshall-Plans zum Wiederaufbau erhalten zu können, mussten Deutschland, Frankreich und andere Empfängerländer Statistiken zum Bruttosozialprodukt vorlegen. Sie mussten diese teilweise fast aus dem Nichts erstellen, wurden aber von den USA und Großbritannien großzügig mit Know-How untersützt. „Die Berechnungsmethoden sind den in den angelsächsischen Ländern üblichen angeglichen worden“, heißt es lapidar zur Veröffentlichung der ersten entsprechenden deutschen Statistik.
Philipp Lepenies: Die Macht der einen Zahl – Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts. Erschienen: 21.10.2013, edition suhrkamp, Broschur, 186 Seiten, 16 Euro, ISBN: 978-3-518-12673-8, auch als eBook erhältlich