Buchempfehlung: „Beating the Odds“, von Lin und Monga zu Entwicklungspolitik

Fluchtursachen bekämpfen ist Mantra der deutschen Politik geworden. Dabei versucht man seit Jahrzehnten, die Armut und Perspektivlosigkeit, in den Heimatländern der Migranten zu beheben, mit sehr mäßigem Erfolg. Das hat zu dem unterschwelligem Defätismus geführt, dass Entwicklung in vielen Ländern nicht möglich ist, weil Regierungen inkompetent oder korrupt sind oder die Bedingungen fehlen. Lin und Monga zeigen: Entwicklung ist möglich, überall!

Das Buch von Justin Yifu Lin und Célestin Monga hat den ermutigendem Buch „Beating the Odds“, was übersetzt so viel bedeutet wie „Gegen alle Wahrscheinlichkeit“. Ihr Versprechen: Jedes Land kann einen Entwicklungsschub schaffen. Dafür müssen nicht erst die Infrastruktur und die Effizienz der Verwaltung auf dem Niveau von Industrieländern ankommen. Wenn das der ehemalige Chefvolkswirt der Weltbank und der amtierende Chefvolkswirt der afrikanischen Entwicklungsbank schreiben, hat das Gewicht. Schließlich erlebte China, dessen Regierung Lin berät, eine der größten Erfolgsgeschichten in Sachen Entwicklung. Und China, betont Lin, sei in einem desolaten Zustand gewesen, als es ab 1978 unter Deng Xiaoping die Aufholjagd startete. Trotzdem konnte es Wachstumsraten von zehn Prozent über Jahrzehnte aufrechterhalten und die Exporte etwa alle fünf Jahre verdoppeln. Große Fortschritte bei Infrastruktur und Institutionen, das, was manche für eine Vorbedingung halten, habe es erst gegeben, als durch die gute Wirtschaftsentwicklung das Geld floss.

Kritik am Entwicklungshilfeestablishment

Obwohl beide zum Entwicklungsestablishment gehören, kritisieren sie die bisherige Entwicklungshilfe. Für sie ist der vorherrschende Rat, den der Westen für Entwicklungsländer parat hat, unbrauchbar bis schädlich. Ihr Urteil ist zwar zurückhaltender, im Kern aber ähnlich vernichtend wie das der sambischen Investmentbankerin Dambisa Moyo. Ihr Buch „Dead Aid“ war ein Verkaufsschlager, der sie weltweit berühmt machte. Darin forderte sie, Entwicklungshilfe einzustellen. Arme Länder, so der Tenor, sollten lieber auf Marktwirtschaft setzen und sich über die Finanzmärkte finanzieren.

Lin und Monga widersprechen allerdings ihrer Diagnose, die korrupten Regierungen verarmter Länder würden mit Geld überschüttet, über das sie ohne Gegenleistung frei verfügen könnten. Sie dokumentieren eindrucksvoll, wie sehr die Verwaltungen der Empfängerländer damit beschäftigt sind, umfangreiche Entwicklungspläne zu formulieren, eine Vielzahl von Reformmaßnahmen auszuarbeiten und auf höchster Ebene zu salutieren, wann immer nachrangige Mitarbeiter einer Geberorganisation vorbeikommen. Burkina-Fasos Minister für Entwicklung beklagte etwa, dass seine Regierung für ein einziges Jahr 500 Bedingungen der Geldgeber zu erfüllen hatte, eineinhalb pro Tag. Sie umfassten etwa makroökonomische Stabilisierung, Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit im Telekomsektor und verbesserten Umweltschutz.

Genau wie Moyo befürworten Lin und Monga Marktwirtschaft und internationalen Handel. Sie widersprechen damit all jenen, die meinen, Afrika müsse die wirtschaftliche Integration des Kontinents vorantreiben:

Es wäre sehr teuer, genug Straßen, Häfen, Flughäfen und Eisenbahnlinien zu bauen, um 55 Länder zu vernetzen, die zusammen zwei Prozent des Welthandels auf sich vereinen.

Doch ganz anders als Moyo, für die freie Märkte alle Probleme lösen können, weisen sie dem Staat eine wichtige Rolle zu. Sie untersuchten ideologiefrei, was funktioniert hat, in China und anderen Ländern. Daraus erarbeiten sie eine Gebrauchsanweisung, wie trotz widriger Voraussetzungen Entwicklung gelingen kann.

Praktische Anleitung zur Entwicklung

Zunächst müsse die von den Geldgebern und Hilfsorganisationen aufgedrängte Entwicklungsphilosophie abgelegt werden. Die beruhe darauf, aus dem Ist-Zustand entwickelter Länder vermeintlich allgemeingültige Reformvorschläge abzuleiten und auf arme Ländern zu übertragen. Demnach würde die Therapie lauten: „Werdet den entwickelten Ökonomien ähnlicher, dann geht es aufwärts.“ Dabei sollte es genau umgekehrt laufen, betonen Lin und Monga. Man müsse schauen, an welcher Stelle erfolgreiche Entwicklung in heute reicheren Ländern begonnen habe und wie sie von dort auf ihr heutiges Niveau gekommen sind. Bei dieser Betrachtung zeige sich, dass mangelhafte Infrastruktur und Bildungssysteme nicht Gründe, sondern vor allem Symptome der Unterentwicklung sind.

Für die beiden Ökonomen muss am Anfang der Analyse stehen, was ein Land hat, nicht was ihm fehlt. Welche Industriezweige finden etwa günstige Bedingungen vor und können schnell wettbewerbsfähig produzieren und expandieren, wenn die Anfangshürden überwunden sind. Diese Auswahl zu treffen und zu helfen, Hemmnisse zu beseitigen, das ist für sie die ebenso schwierige wie elementare Aufgabe lokaler, regionaler und staatlicher Stellen. Darin unterscheiden sie sich fundamental vom sogenannten „Washington-Konsens“ der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds. Der Staat sollte diese Auswahl demnach dem Markt überlassen. Gleichzeitig widersprechen sie der „strukturalistischen“ Politik vieler Entwicklungsländer in den 1960er- und 70er-Jahren, deren vielfaches Scheitern den Boden für den Washington-Konsens bereitete. Damals versuchten Regierungen, die erfolgreichsten Industrien aus reichen Ländern in den eigenen Ländern hochzuziehen. Dabei handelte es sich oft um kapital- und wissensintensive Branchen, die weder zur Ausstattung des Landes passten, noch die vielen Arbeitsplätze schufen, die gebraucht wurden. Beispiele waren die Schiffbauindustrie in Indonesien, die Automobilindustrie in Zaire und die gescheiterte, auf Schwerindustrie und Importsubstitution abzielende Entwicklungsstrategie im Indien der 1960er-Jahre.

Die Fehler der 60er und 70er Jahre

Die Voraussetzungen, um in diesen ebenso anspruchsvollen wie attraktiven Branchen mit den Marktführern aus Ländern zu konkurrieren, deren Wirtschaftsleistung pro Kopf um ein Vielfaches höher war, waren nicht annähernd gegeben. Und so wurde dauerhafter Bedarf für Subventionen, Importschranken und Exportsubventionen geschaffen. Die Folgen waren Korruption und Klientelismus, der andere Wirtschaftszweige behinderte.

Sonderzonen helfen Lin und Monga empfehlen einen Mittelweg. Man müsse sich auf Branchen konzentrieren, in denen derzeit Länder führend sind, die eine ähnliche Wirtschaftsstruktur und ein zwei- bis viermal so hohes Pro-Kopf-Einkommen haben. Dann seien die Chancen gut, dass auch im eigene Land die Bedingungen für ein Gedeihen dieser Branchen gegeben sind. Außerdem seien das die Produktionszweige, die voraussichtlich alternative Standorte suchen, wenn ihnen die Heimatorte zu teuer werden.

In der stürmischen Entwicklung Chinas sehen Lin und Monga eine große Chance für Afrika. In China steigen die Löhne so schnell, dass das Land für arbeitsintensive Produktionszweige mit geringen Anforderungen an Ausbildung und Infrastruktur zu teuer wird. Wenn sie diese einfachen Fertigungen anlocken, können arme Länder damit die unterste Sprosse der „Technologieleiter“ erklimmen. Von dort aus können sie im Idealfall allmählich weiter aufsteigen zu anspruchsvolleren Produkten mit höherer Wertschöpfung.

Was dafür zu tun ist, stellen die Autoren in einem Leitfaden zusammen. Zentral sind darin Industrieparks und Sonderzonen. Diese ermöglichten es, knappe Mittel konzentriert und effektiv einzusetzen. Habe man die richtigen Produktionszweige und ein dazu passendes Gebiet ausgesucht, könne man in einer eng begrenzten Region und für einen bestimmten Wirtschaftszweig die nötigen Bedingungen schaffen. Damit entfielen hohe Kosten und Widerstände, die entstehen, wenn man dasselbe landesweit und für alle Wirtschaftszweige gleichzeitig versucht. So machte China aus dem verschlafenen Fischerdorf Shenzhen ein Wirtschaftszentrum von globalem Rang mit über zehn Millionen Einwohnern.

Es sind nicht nur spektakuläre Beispiele wie dieses, die Lin und Monga anführen. Sie beschreiben auch, wie Mali es schaffte, trotz fehlender Meeresanbindung und miserabler Bedingungen für Unternehmertum die Mango-Bauern dabei zu unterstützen, den Mango-Export nach Europa bis 2014 auf fast 40 Millionen Tonnen zu steigern. Oder Äthiopien, das eine erfolgreiche Schuh- und Lederindustrie aufbaute. Auf der anderen Seite setzen sie sich am Beispiel Tansanias ausführlich und konstruktiv-kritisch mit einem Entwicklungsprogramm auseinander, das zwar in die richtige Richtung gehe, aber zu unspezifisch sei. Es enthalte 25 Strategien, nur um die Agrarproduktion zu stärken, und übersteige damit die Lenkungsfähigkeit der Verwaltung:

Die Essenz einer Entwicklungsstrategie liegt in der Wahl dessen, was man nicht tut.

Für Entscheider aus der Entwicklungszusammenarbeit macht fast allein schon dieser Satz das Buch zur Pflichtlektüre. Aber es bietet viel mehr.

[28.8.2017]

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