Cory Doctorow: In China regiert der Staat die Plattformen, nicht umgekehrt

15. 01. 2021 | Hören | Im letzten Moment verbot die chinesische Regierung den für November geplanten Börsengang von Ant. Dann legte sie mit einem Gesetzentwurf nach, der es unter Strafe stellt, wenn Online-Plattformen Kunden je nach Zahlungsbereitschaft unterschiedliche Preise stellen. Das zeigt für Gastkommentator Cory Doctorow grundlegende Unterschiede im Wirtschaftsverständnis zwischen China und dem Westen.

Cory Doctorow.* Es sollte der größte Börsengang der Welt werden: Das chinesische Fintech-Unternehmen Ant, das aus Alibaba ausgegründet wurde und unter anderem den führenden Bezahldienst Alipay betreibt, sollte Anfang November aufs Parkett. Doch dann haben die chinesischen Aufsichtsbehörden den Börsengang kurz vorher abgesagt.

Um die Gründe zu verstehen, muss man den Unterschied zwischen der chinesischen und der westlichen „Geldgeschichte“ kennen. Im Westen glaubt man an das Märchen, dass das Geld vor dem Staat liegt und von ihm getrennt ist. In dieser Geschichte kamen Menschen zusammen, um Handel zu treiben, wurden aber von ungleichen Waren geplagt, die den Tausch kompliziert machten. Also verständigten sie sich auf ein Tauschgut – zum Beispiel Gold, später Banknoten – das alles viel einfacher machte.

Wenn in der Wirtschaft nicht genug Geld vorhanden ist, damit der Privatsektor die benötigten Güter kaufen kann, sucht er sich zusätzliche Formen von Geld wie zum Beispiel Bankkredite. Theoretisch ist die Kreditvergabe durch Banken streng reguliert. Aber wenn nicht genug Geld im System vorhanden ist, entstehen unregulierte Banken. Ein anderes Wort für „unregulierte Bank“ ist Fintech.

Dagegen haben chinesische Behörden Geld immer als öffentliche Einrichtung behandelt. Es wird zur Erfüllung öffentlicher Zwecke vom Staat ausgegeben oder eingezogen. Während der raschen Industrialisierung des Landes steigerten die Behörden den Geldfluss, um einen raschen Aufbau von Kapazitäten zu ermöglichen. Als sie den Hahn zudrehten, rebellierten die Reichen und holten sich Kredit bei nicht lizenzierten Banken oder bei Banken, die bereit waren, die Regeln zu brechen. Als Chinas Schattenfinanzwirtschaft immer größer wurde, nahm auch die Kriminalität zu. Die Regulierer wehrten sich.

Finanzsystem als öffentliche Infrastruktur

Die Fähigkeit, das Finanzsystem als öffentliche Einrichtung zu nutzen, ist einer der wichtigsten Aktivposten Chinas, und China verteidigt diesen Aktivposten mit aller Härte. Aus diesem Grund wurde der Börsengang von Ant unterbunden.

Die Haupteinnahmequelle von Ant ist die kurzfristige, hochverzinsliche Kreditvergabe, ähnlich dem, was die chinesischen Aufsichtsbehörden als „Pfandleihgeschäft“ bezeichnen. Das Geschäftsmodell von Ant besteht darin, dass verzweifelte Menschen eine App benutzen, um risikoreiche, hochverzinsliche Kredite zu beantragen und schnell zu erhalten. Dann verkauft Ant die Darlehen an „Investoren“.

Chinesische Finanzaufsichtsbehörden hatten Jack Ma über Monate hinweg gewarnt, dass sie es nicht zulassen würden, dass Ant dieses App-basierte Pfandleihgeschäft massiv ausweitet. Doch Ma dachte anscheinend, weil er den Großkonzern Alibaba und seine Tochtergesellschaften betreibt, würden die Aufsichtsbehörden nachgeben.

Aber der ganze Sinn einer Finanzregulierungsbehörde besteht gerade darin, den Finanzsektor nicht seine eigenen Regeln schreiben zu lassen. Weil die Banker sonst ungeniert die gesamte Wirtschaft in Brand setzen würden, um ein paar Dollar zu verdienen.

Regierung will die Oberhand behalten

China hat eine andere Beziehung zu seinen Tech-Monopolisten als die USA, dank einer Kombination aus Staatseigentum, staatlichen Investitionen und personellen Verflechtungen von Partei und Armee und der Führung der Big-Tech-Firmen.

Beide Länder nutzen ihre dominierenden IT-Firmen, um Soft Power in die Welt zu projizieren. Doch gleich ob die Einbeziehung in den militärisch-industriellen Komplex offen ist wie in China – oder stillschweigend wie in den USA: Überbordende Macht von Großunternehmen schadet der Bevölkerung und gefährdet letztlich die Vormacht des Staates.

Deshalb hat die chinesische Staatsverwaltung für Marktaufsicht einen Entwurf für „Neue Anti-Monopol-Richtlinien für die Plattform-Ökonomie“ veröffentlicht, der ehrgeizige Beschränkungen für die chinesischen IT-Monopolisten vorsieht. Kernstück ist das Verbot der Nutzung digitaler Überwachung dafür, den Preis von Waren dynamisch von der Zahlungsbereitschaft der Kunden abhängig zu machen.

Solche Preisdiskriminierung, bei der loyale Kunden mit höheren Preisen belastet werden, ist schwer zu erkennen. Aber 88 Prozent der chinesischen Internetnutzer glauben, dass sie geschieht, und 57 Prozent meinen, dass sie schon einmal Opfer davon waren.

Viele Ökonomen, vor allem der vorherrschenden neoklassischen Sekte, halten Preisdiskriminierung für „optimal“. Sie argumentieren, dass Volkswirtschaften mit weit verbreiteter Preisdiskriminierung bei der Verteilung von Ressourcen besser seien. Aber die Menschen hassen Preisdiskriminierung. Sie wird reflexhaft als unfair angesehen. Deshalb ist sie ein perfektes Thema, um Unterstützung der Bevölkerung für das sonst so sperrige Thema Wettbewerbspolitik gegen Monopolmacht zu gewinnen. Regierungen, die ihre Macht gegenüber Konzernen verteidigen wollen, können sich so eine Schar verärgerter Kunden sichern, die sie bei ihrem Unterfangen unterstützen.

Die vorgeschlagenen neuen chinesischen Regeln legen die Faktoren fest, die zur Feststellung einer „diskriminierenden Behandlung“ führen können. Sie geben den Regulierungsbehörden einen Entscheidungsspielraum, Datenauswertung zu bestrafen, die dazu dient, Kaufkraft, Online-Aktivitäten oder Vorlieben eines potenziellen Käufers zu ermitteln.

Sie schaffen auch einige abgesicherte Formen der Preisdiskriminierung für Plattformen wie Werbeaktionen, um neue Kunden anzulocken, und laut Shen Weiwei die Verwendung von Kredithistorien für Preisdiskriminierung. Das wäre ein großes Schlupfloch.

Interessanterweise erlaubt die Regel den Regulierungsbehörden, auf Data-Mining basierende Preisdiskriminierung in Betracht zu ziehen, wenn sie Vorwürfe der Abzocke untersuchen, verpflichtet sie aber nicht dazu. Die Aufsichtsbehörden sollen also die Freiheit haben, Nachsicht zu üben, wenn es um Verhaltensweisen geht, die sie nicht als verwerflich ansehen, und selektiv gegen diejenigen vorzugehen, die sie als die schlimmsten Übeltäter einschätzen.

*Cory Doctorow.ist ein kanadischer Science-Fiction-Autor, der in London lebt. Er ist auch Copyright-Aktivist, Blogger und Journalist. 2019 erschien von ihm „Wie man einen Toaster überlistet“.

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