Ralf Krämer zum Disput Makroskop vs. Häring um Hudsons Buch „Der Sektor“

Ich bin doch erstaunt, dass Christoph Stein das von Norbert Häring angesprochene Kernproblem in Bezug auf die Argumentation mit den volkswirtschaftlichen Finanzierungssalden anscheinend überhaupt nicht begreift. Gleich nach dem Satz mit der „massiven Konzentration der Einkommen und Vermögen bei Hudsons oberstem Prozent“, schreibt er weiter nur von den gesamtwirtschaftlichen Salden. Es ist doch offensichtlich, dass …

Hudson und Häring hier genau nicht diese meinen, sondern die Verschuldung und ggf. fortschreitende Neuverschuldung eines erheblichen Teils der privaten Haushalte, während ein anderer Teil, insb. das genannte oberste Prozent, aber auch weit darüber hinaus, gleichzeitig erhebliche Nettovermögen haben und fortschreitenden Vermögensaufbau betreiben.

Stein schreibt „2009 haben die privaten Haushalte ihre Verschuldungsorgie beendet und sind wieder Nettosparer geworden.“ Das ignoriert doch dieses Problem total. Auch vorher haben die reichen Haushalte keine Verschuldungsorgie betrieben, weil sie das gar nicht nötig hatten. Und auch ab 2009 sind nicht einfach „die Haushalte“ Nettosparer geworden, sondern viele Haushalte verschulden sich weiter, und viele bauen zwar gezwungenermaßen ihre Verschuldung ab, sind aber weiterhin per Saldo hoch verschuldet, sie bekommen nur einfach keine neuen Kredite mehr und sind deshalb zu massiven Einschränkungen ihrer Lebenshaltung gezwungen, verlieren ihre Wohnungen usw. Deshalb ist der Saldo des Gesamtsektors dann „Nettosparer“. Aber das Kernproblem ist die große und wachsende Ungleichheit, Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung innerhalb dieses Sektors private Haushalte zwischen einer immer reicheren Multimillionärs- und Milliardärskaste und einem großen Teil in Dauerverschuldung.

Für diese Analysen gibt die VGR in der Tat wenig her und relevanter als die bloßen Sektorsalden sind hier eben die Bruttogrößen, weil naheliegt, dass in den meisten Fällen es eben nicht die selben Einheiten/Haushalte (aber auch Unternehmen im Sektor Kapitalgesellschaften) sind, die zugleich steigende Geldvermögen und steigende Verschuldung aufweisen (die sich dann in hohem Maße wegsaldieren), sondern dass hier eine Polarisierung stattfindet: zunehmend verschuldete Einheiten einerseits, Einheiten mit zunehmenden Nettovermögen andererseits. Insolvenzen und die Folgen platzender Blasen betreffen aber die einzelnen Einheiten, nicht die volkswirtschaftlichen Sektoren als Ganzes. Auch wenn der Haushaltssektor (oder der Unternehmenssektor, oder der Bankensektor) insgesamt überhaupt nicht verschuldet ist und Nettoüberschüsse aufweist, können große oder massenweise Insolvenzen einzelner Einheiten auftreten und für massive Krisenprozesse sorgen.

Sicherlich leben die verschuldeten Personen in den USA oder andren entwickelten Ländern nicht in „Schuldknechtschaft“ im vorkapitalistischen Sinne, sondern sind persönlich frei. Wobei ich die Regeln für Privatinsolvenz in USA nicht kenne, aber auch diese wird sicherlich mit langjährigem Leben an der Armutsgrenze verbunden sein, also gibt es einen faktischen Zwang, diese möglichst zu vermeiden und in der de-facto-Schuldknechtschaft zu bleiben. Der Unterschied kapitalistischer zu vorkapitalistischer Ausbeutung besteht darin, dass erstere nicht auf persönlicher Abhängigkeit und unmittelbarem Zwang beruht, sondern auf sachlicher, sozialer, ökonomischer Abhängigkeit, auf polarisierten Eigentumsverhältnissen. Das ist sicherlich die modernere und zivilisatorisch fortgeschrittenere Form, aber es bleibt Ausbeutung.

Faktisch müssen die verschuldeten Personen bzw. Haushalte ständig einen erheblichen Teil ihrer Einkommen, überwiegend Löhne, für die Zahlung von Zinsen auf Hauskredite und Konsumentenkredite und Studienkredite aufwenden. Neben die „normale“ kapitalistische Ausbeutung der Lohnarbeit und Aneignung des von ihr produzierten Mehrwerts in Form von Profit durch die kapitalistischen Unternehmen/“Arbeitgeber“ tritt so eine weitere sekundäre Ausbeutung durch das Finanzkapital, das die Kredite ausgereicht hat und im Zusammenwirken mit dem gewerblichen Kapital, das zu geringe Löhne und zu wenig Steuern zahlt, die Leute durch Zuckerbrot (Werbung mit leicht zugänglichen Krediten) und Peitsche (zu geringe Löhne um ohne Kreditaufnahme Studium, Wohnung und Auto usw. bezahlen zu können) in die Verschuldung treibt und damit eine zusätzliche ständige Umverteilung von Einkommen zugunsten des Finanzkapitals organisiert. Was dabei im Saldo für den gesamtwirtschaftlichen Sektor „private Haushalte“ steht ist diesbezüglich nachrangig (unter anderen Fragestellungen natürlich sehr wichtig).

Es ist in diesem Zusammenhang völlig egal, ob die Reichen und Superreichen Geldvermögen in Form von Anleihen, Aktien oder anderen Wertpapieren oder Bankeinlagen haben oder bilden. Die verschuldeten Personen/Haushalte müssen doch nicht bei den Reichen persönlich verschuldet sein. Das Finanzsystem vermittelt diese Verhältnisse völlig unpersönlich, aber das ändert am sozialökonomischen Charakter dieser gesamtwirtschaftlichen Ausbeutungsverhältnisse überhaupt nichts.

Zur Frage der Renten: Es mag sein, dass Hudson diesen Begriff in der Anwendung auf das Finanzkapital überzieht. Es wäre aber viel zu eng, ihn auf traditionelle Formen der Grundrente beschränken zu wollen (Wie Stein dies hier tut.N.H.). Ökonomische Renten können allgemein als Entgelte für die Nutzung nicht beliebig reproduzierbarer Produktionsbedingungen bzw. Monopole betrachtet werden, die deren Eigentümern zufließen. Werttheoretisch betrachtet stellen sie eine Aneignung bzw. Umverteilung gesellschaftlicher Wertschöpfung aus anderen Wirtschaftsbereichen zugunsten der Eigentümer der den Renteneinkommen zugrunde liegenden Eigentumsrechte dar. Ökonomisch am bedeutsamsten sind hier weiterhin Grundrenten, die einen wesentlichen Anteil der Mieten und Pachten ausmachen. Auch Renten aus der Rohsteffextraktion, am bedeutendsten Rohöl, gehören hierhin. Es betrifft aber zunehmend auch Einnahmen die generiert werden aus Nutzungs- und Verwertungsrechten etwa an (oft früher mal öffentlicher) Infrastruktur, also Mauteinnahmen, Einnahmen aus Häfen und Flughäfen, Mobilfunkfrequenzen usw. usf. Hier werden zunehmend privatem Kapital Rechte zugeschanzt, die es zu einer andauernden Tributabschöpfung zu Lasten der Nutzer berechtigen. Und ebenfalls als Renten lassen sich die Profite analysieren, die aufgrund monopolistischer geistiger Eigentumsrechte angeeignet werden. Das betrifft hier insb. Unternehmen wie Microsoft, Apple, Google, Facebook, SAP und andere, auch Telekom und Daimler usw., wenn die Toll-Collect betreiben.

Aus diesen (normale in Konkurrenz erzielte Profite übersteigenden) Renten wird wiederum Finanzkapital gebildet und das Finanzkapital wird eingesetzt als ökonomische und auch als politische Macht, um die dauerhafte und immer mehr ausgeweitete Aneignung solcher Renten abzusichern und voranzutreiben. Das kann man doch ständig beobachten, von den Vorgängen um die Autobahnmaut und die anstehende de-facto-Privatisierung des Autobahnbaus über die Zwangsverschleuderung öffentlicher Infrastruktur Griechenlands an internationale Konzerne oder die Gestaltung des Juncker-Investitionsfonds zur Lancierung von ÖPP usw. usf. Dies alles zur Kenntnis zu nehmen und kritisch zu analysieren steht m.E. in keinerlei Widerspruch zu einer keynesianischen Analyse der gesamtwirtschaftlichen Ströme und Strukturen.

Ich hab ehrlich gesagt weder Hudson oder Graeber bisher gelesen und kann mir schon vorstellen, dass die etliches schräg oder auch falsch darstellen, vereinseitigen und überziehen und an wichtigen gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen vorbeigehen. Das kann und sollte dann angemessen kritisiert werden. Aber alle Seiten sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sondern eher die richtigen Aussagen und Erkenntnisse der jeweils anderen versuchen herauszuarbeiten, zu vertiefen, vielleicht auch korrigiert umzuformulieren, und zu kombinieren, um zu einer umfassenderen Erkenntnis der gesamten Entwicklungen und Probleme zu kommen.

Ralf Krämer, Bereich Wirtschaftspolitik, ver.di Bundesvorstand

[23.3.17]

 

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