Wenn Wissenschaftler sich zur Wirtschaftspolitik äußern, hat die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf, zu wissen, ob diese Wissenschaftler noch andere Funktionen ausüben, die ihr Urteil beeinflussen könnten, oder auch schon die Auswahl ihrer Themen. Die Mitglieder des Wirtschaftssachverständigenrats der Bundesregierung sehen das offenbar anders und brechen damit auch die Ethikregeln ihres Berufsverbands.
Wen ein Wissenschaftler Geld für Beratungstätigkeiten von privaten Unternehmen bezieht und sich dann als Wissenschaftler in einer Weise äußert, die den Interessen dieser Unternehmen entgegenkommt, so ist das anrüchig. Es riecht nach Korruption. Es ist geeignet, den Ruf der Wissenschaft insgesamt zu beschädigen. Als nach Ausbruch der Finanzkrise herauskam, dass viele der renommierten Wirtschaftswissenschaftler, die vorher für die fatale Deregulierung der Finanzbranche geworben hatten, sehr viel Geld für Reden und Beratungsleistungen für eben diese Finanzbranche bekommen hatten, oder gar selbst in Finanzunternehmen engagiert waren, erließ die international tonangebende American Economic Asssociation Ethikregeln, die von den Mitgliedern verlangen, alle Quellen potenzieller Interessenkonflikte in ihren wissenschaftlichen und Presseveröffentlichungen anzugeben. Das deutsche Pendant, der Verein für Socialpolitik (VfS), zog ein paar Jahre später nach und erließ ähnliche Regeln. Die Betonung liegt auf „potenziell“. Es geht nicht darum, zuzugeben, dass man sich in seinem Urteil oder bei der Themenauswahl hat beeinflussen lassen. Es geht um Transparenz, damit die Empfänger der Botschaften die Argumente im Lichte aller relevanten Umstände würdigen können.
Schaut man in die Gutachten der „Wirtschaftsweisen“, so sucht man derartige Hinweise auf potentielle Interessenkonflikte der Mitglieder vergeblich. Es gibt auch keinen expliziter Hinweis auf deren Abwesenheit. Dabei gibt es zu Beginn des Gutachtens eine Passage aus 25 Textziffern, die wie geschaffen dafür wäre, einen solchen Hinweis aufzunehmen. Dort wird darüber aufgeklärt, mit wem der Rat zur Vorbereitung des Gutachtens geredet hat, und wer dem Rat auf welche Weise geholfen hat.
Fehlende Offenlegungen
Dort hätten insbesondere die folgenden Offenlegungen stehen können und müssen (Formulierungsvorschlag):
1. Der Vorsitzende Christoph M. Schmidt ist erstens Mitglied des Kuratoriums der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die als größte Aktionärin 23 Prozent der Anteile des Unternehmens ThyssenKrupp AG kontrolliert. Dieses ist ein großer Zulieferer der Öl- und Gasindustrie und von Windkraftanlagenbauern und könnte insofern ein positives oder negatives Interesse insbesondere an energiepolitischen, aber auch an arbeitsmarktpolitischen und handelspolitischen Aussagen des Sachverständigenrats haben. Schmidt ist des weiteren Vorstandsvorsitzender des Vereins Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI). Dessen Mitglieder sind insbesondere Wirtschaftsunternehmen der Region, die gemeinsam mit Unternehmensverbänden das Lenkungsorgan Verwaltungsrat mehrheitlich besetzen. Im Verwaltungsrat ist Führungspersonal und ehemaliges Führungspersonal der Unternehmen und Verbände Commerzbank AG, National-Bank, Sparkasse Düsseldorf, Signal-Iduna Hochtief AG, Wirtschaftsvereinigung Stahl, IHK-Duisburg und Handwerkskammer Düsseldorf vertreten. Diese Unternehmen könnten ein positives oder negatives Interesse an bestimmten geld- und zinspolitischen, rentenpolitische, arbeitsmarktpolitischen und allgemein wirtschaftspolitischen Empfehlungen des Sachverständigenrats haben. Christoph Schmidt und das von ihm geleitete Institut RWI haben außerdem in der Vergangenheit eine Kampagne der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) gegen das Erneuerbare-Energien-Gesetz wissenschaftlich begleitet. Schmidt könnte aus diesem Grund in Sachen Energiepolitik befangen sein. Über die INSM und das RWI gibt es Verbindungen zum Energiekonzern RWE. Das Unternehmen RWE könnte ein positives oder negatives Interesse an Aussagen des Sachverständigenrats zur Energiepolitik haben.
Anmerkung: Die Interessenkonflikte sind nicht nur theoretischer Natur. Wenn etwa unter der Überschrift „Zinsniveau für Deutschland zu niedrig“ der Satz steht „So werden die geringen Renditen sicherer Anlagen für Sparer, private Altersvorsorge und Betriebsrenten und die Gefährdung des Geschäftsmodells von Banken und Lebensversicherungen beklagt“, so wird deutlich, dass mit Commerzbank, National-Bank, Signal Iduna und Sparkasse Düsseldorf Verwaltungsratsmitglieder des RWI in ihrem existenziellen Geschäftsinteresse betroffen sind. Diese kontrollieren den RWI-Vorstand und damit Christoph Schmidt. Man darf vermuten, dass es die Beziehungen zwischen dem von Schmidt geführten RWI-Vorstand und dem Verwaltungsrat belasten würde, wenn Schmidt mit dem Sachverständigenrat für noch niedrigere oder längere Zeit niedrige Zinsen werben würde. Die Liste der Gesprächspartner des Sachverständigenrats hat im Übrigen große Ähnlichkeiten mit der Struktur des Verwaltungsrats des RWI. Im RWI-Verwaltungsrat gibt es neben vielen Vertretern von Unternehmen und Unternehmensverbänden einen einsamen Gewerkschaftsvertreter. Der Rat führte laut Vorspann „mit den Präsidenten und weiteren Vertretern der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, des Deutschen Industrie- und Handelskammertages sowie mit einem Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes und mit dem Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks Gespräche zu aktuellen wirtschaftspolitischen Fragestellungen“.
2. Mitglied Volker Wieland war und ist als Consultant für eine Reihe von Institutionen tätig, dazu gehörten unter anderem die Europäische Zentralbank (EZB), die Europäische Kommission, das Federal Reserve Board und die Reserve Bank of Finland. Diese Organisationen, insbesondere die EZB können ein positives oder negatives Interesse an bestimmten geld- und europapolitischen Aussagen des Sachverständigenrats haben. Er ist außerdem Stiftungsprofessor und geschäftsführender Direktor des IMFS. Dieses wird von der, bei der Deutschen Bundesbank angesiedelten, Stiftung Geld und Währung gefördert und ist wie die Bundesbank laut Statut der Förderung der Geldwertstabilität verpflichtet. Die Bundesbank könnte ein positives oder negatives Interesse insbesondere an bestimmten geld- und europapolitischen Aussagen des Sachverständigenrats haben.
Die potenziellen Interessenkonflikte dieser beiden Wirtschaftsweisen sind diejenigen, die man über ihren Lebenslauf und ein bisschen Internet-Recherche leicht herausfinden kann. Es mag weitere potenzielle Interessenkonflikte geben oder auch nicht. Es mag auch bei den anderen Mitgliedern des Sachverständigenrats potenzielle Interessenkonflikte geben, die nicht offenkundig oder leicht recherchierbar sind. Deshalb wäre es gut, wenn im Gutachten ein Satz stünde, wonach die Mitglieder ausdrücklich erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen bzw. andernfalls alle potenziellen Konflikte nennen.
Unethisches Verhalten
Der Ethikkodex des im deutschsprachigen Raum tonangebenden Ökonomenverbands Verein für Socialpoltik verlangt von seinen Mitgliedern:
„Der Stand der Forschung ist auf angemessene Weise und nach den herrschenden Normen zu würdigen. (…) Wirtschaftspolitische Beratung soll nach professionellen Standards erfolgen. Dabei ist auf den Unterschied zwischen Meinung, Werturteil und Tatsachenbeschreibung zu achten. (…)In wissenschaftlichen Arbeiten sind Sachverhalte zu benennen, die auch nur potentiell zu Interessenskonflikten oder Befangenheit des Autors/der Autorin führen könnten. Diese Regel soll nach Möglichkeit auch bei Veröffentlichungen in den Nicht-Fach-Medien angewandt werden.“
Der Ratsvorsitzende Christoph Schmidt ist Mitglied im erweiterten Vorstand des Vereins für Socialpolitik, die anderen Wirtschaftsweisen dürften alle Mitglied sein. Trotzdem geben sie ihre potenziellen Interessenkonflikte nicht an. Schwerer wiegt natürlich die Missachtung der Vorschrift, den Stand der Forschung in angemessener Weise zu würdigen und nach professionellen Standards zu beraten, die sich vielfach in den Gutachten des Sachverständigenrats nachweisen lässt, wie auch der Ethikbeauftragte des VfS bereits festgestellt hat. Aber der VfS sieht die Ethikregeln nur als höfliche Mahnung, nicht als Mitgliederpflichten, deren Nichteinhaltung er sanktionieren sollte. Schlimmer noch, er vergibt sogar Preise an diejenigen, die den Ethikkodex verletzen.
Was wäre zu tun? Halbwegs objektive Wissenschaft statt Lobbyarbeit zu betreiben, kann man nicht einfach beschließen und durchsetzen. Aber bei der Offenlegung von möglichen Interessenkonflikten geht das. Wenn der Rat diesen Schritt zurück in Richtung wissenschaftliche Seriosität nicht selber gehen mag, sollte ihn der Wirtschaftsminister als Auftraggeber einfordern.
Folge 1: Mindeslohn – Mehr auf Arbeitgeberlinie als die Arbeitgeber selbst