Die Irrlehre von den komparativen Kostenvorteilen

3. 03. 2016 | Die Theorie der komparativen Kostenvorteile gehört zum Standardrepertoire der ersten Semester Volkswirtschaftslehre. Wer das Konzept begriffen hat, der glaubt, etwas über die Wirtschaft gelernt zu haben, was ein Normalsterblicher nicht weiß: Arbeitsteilung und Handel können auch dann Kostenvorteile für ein Land bringen, wenn diese Nation bei der Herstellung sämtlicher Produkte Kostennachteile hat. Dumm nur, dass die ausgeklügelte These ebenso interessengeleitet wie falsch ist

Das Konzept geht zurück auf den klassischen Ökonomen David Ricardo. Mit seinem berühmten Tuch-und-Wein Beispiel legte dieser in seinen „Principles of Political Economy and Taxation“ 1817 dar, dass bei einer Öffnung des Handels zwischen Portugal und der damaligen industriellen Führungsmacht England, beide Seiten gewinnen: Das Land, das relativ besser in der Tuchherstellung ist, würde für beide Länder Tuch fertigen, das Land, das relativ billiger Wein erzeugt, würde dies für beide Länder übernehmen.

Ricardo zeigte, dass selbst wenn ein Land beides billiger herstellen könne, die Spezialisierung beiden Ländern Vorteile bringe, wenn sich das teurere Land auf jenes Gut konzentriere, bei dem sein Kostennachteil geringer ist. Denn dort habe es einen „komparativen Vorteil“. Für Ökonomie-Legenden wie Paul Samuelson und William Nordhaus ist dies noch immer „eine der tiefsten Wahrheiten der gesamten Ökonomik“.

Doch in jüngster Zeit gerät diese Erkenntnis ins Wanken. Ein kritischer Punkt ist, dass Ricardo und seine Jünger vollkommene Konkurrenz annahmen. Entscheide sich Portugal, Tuch nicht mehr selbst herzustellen, sondern aus England zu importieren, so wird unterstellt, dass die in England günstigeren Herstellungskosten an die Portugiesen in Form niedrigerer Preise weitergegeben würden. Schließlich bestimmten die Produktionskosten in dieser Theorie die Preise.

Paul Krugman bekam den Nobel-Gedächtnispreis dafür, dass er Ende der 1970er-Jahre zeigte, dass dieser Grundsatz in Fällen monopolistischer Konkurrenz nicht gilt. Krugmans „neue Handelstheorie“ geht davon aus, dass Produzenten Marktmacht haben und deshalb einen Aufschlag auf ihre Kosten verlangen. Dieser Aufschlag ist jedoch variabel. Das könne etwa dazu führen, dass ein Importzoll teilweise von den ausländischen Anbietern in Form geringerer Preisaufschläge über die Kosten getragen werden muss. Umgekehrt würde dann bei einem Zollabbau der Preis nicht so stark sinken, wie von der Theorie der komparativen Kostenvorteile unterstellt.

Viele Ökonomen beschäftigen sich seither mit der Frage, was variable Aufschläge für die Vorteile der Handelsausdehnung aus Sicht der jeweiligen Beteiligten bedeuten. Ihr Fazit: Die komparativen Vorteile würden „etwas geringer“, sofern man nicht konstante, sondern variable Aufschläge voraussetzt.  Freihandel muss somit zwar nicht grundsätzlich für alle beteiligten Länder ein Gewinn sein. Die Möglichkeit, Nachteile zu erleiden, erscheint aber auch in diesen Modellen ein unbedeutender Spezialfall.

Doch drei britische Ökonomen haben jüngst gezeigt, dass der Spezialfall bei manchen Gütern die Norm ist. Ihre These: Preise auf regionalen Märkten werden oft weitgehend unabhängig von den Kosten festgesetzt. Leitschnur sein, das jeweilige Marktpotenzial maximal auszuschöpfen. Wettbewerb, der die Preise auf oder in die Nähe der Produktionskosten drückt, sei nicht vorhanden, wegen Markenvorlieben, Patenten oder monopolartiger Marktstellungen. Als Fallbeispiel führen Kevin Albertson und John Simister von der Manchester Metropolitan University und Tony Syme von der University of Salford in ihrem Aufsatz „Globalisation and sticky prices: ‚con‘ or conundrum?“ die Schließung des letzten britischen Werkes des Jeansherstellers Levi Strauss im Jahr 2002 an, die mit 60 Prozent höheren Produktionskosten begründet wurde.

Folgt man der Theorie der komparativen Kostenvorteile, so hätten die Briten nach der Werksschließung in den Genuss günstigerer Jeans kommen müssen. Doch tatsächlich kosteten die Levi’s-Jeans weiterhin auf jedem Markt so viel, wie der Markt hergibt. Die Produktionskosten spielten keine Rolle. Der Grund: Markenhersteller können sich der Konkurrenz weitgehend entziehen.

Bemerkenswerterweise verlor im selben Jahr, in dem das britische Werk geschlossen wurde, die britische Supermarktkette Tesco einen Rechtsstreit mit Levi Strauss. Der Bekleidungskonzern ließ Tesco gerichtlich untersagen, Levi-Jeans aus Mexiko, den USA oder Kanada zu importieren; denn das hätte es dem Händler erlaubt, sie zur Hälfte des gängigen Preises in Großbritannien zu verkaufen.

Der Rest ist nur ein wenig Mathematik. Mit ein paar einfachen Formeln lässt sich zeigen, dass im Levi’s-Fall nur das Land vom Freihandel profitiert, das die frei gehandelten Güter mit absoluten Kostenvorteilen, also billiger als der Handelspartner, herstellen kann. Etwas weniger teurer als bei einem anderen Gut zu sein, reicht nicht aus.

Spezialisierung auf das Arm-Sein

Der große österreichische Ökonom Joseph Schumpeter prägte den Ausdruck „Ricardianisches Laster“. Damit meinte er den Hang der Ökonomen, Theorien auf Annahmen aufzubauen, die völlig aus der Luft gegriffen sind und wenig mit der Realität zu tun haben.

In Bezug auf Ricardos sehr statische Theorie der komparativen Kostenvorteile störte sich Schumpeter daran, dass Größenvorteile, also Vorteile der Massenproduktion, Lerneffekte aus der Produktion und Synergieeffekte ausgeblendet sind. Eine Volkswirtschaft, die einen Strauß von Industriegütern produziert, hat es leichter, die Produktion weiterer Güter aufzunehmen als eine Volkswirtschaft, die sich auf den Agrarsektor und Rohstoffabbau spezialisiert hat.

Der Nobelpreisträger Gunnar Myrdal erklärte das mit dem Ausdruck „opportunistische Unwissenheit“. Man sucht sich die Theorien je nach den Umständen so aus, dass sie den eigenen Vorteil mehren. Bei der Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der EU standen Größenvorteile ganz im Vordergrund. Wenn ein Land das eine Gut für den gesamten europäischen Markt produziert und ein anderes Land ein anderes Gut ebenfalls für den gesamten europäischen Markt, dann sinken dank der Vorteile der Massenproduktion die Kosten für beide. Bei der Beurteilung und Gestaltung von Handelsvereinbarungen mit Entwicklungsländern wird dagegen lieber auf die Theorie Ricardos zurückgegriffen, die keine Größenvorteile kennt und die so tut, als könne man mit Rosenanbau genauso viel Geld verdienen und Know-how gewinnen wie mit dem Bau von Maschinen und anderen Industriegütern.

„Wenn arme Länder Ricardo folgen und sich gemäß der komparativen Kostenvorteile spezialisieren, dann spezialisieren sie sich auf das Armsein“, sagt der norwegische Wirtschaftshistoriker Erik Reinert. Denn bei Produkten des primären Sektors, also Landwirtschaft und Rohstoffe, sind die Ricardianischen Voraussetzungen oft erfüllt. Der Wettbewerb ist scharf, die Gewinnmargen gering. Auch die Lerneffekte sind gering, zumal die nötigen Maschinen oft importiert werden.

Ganz anders bei Industriegütern: Dort gibt es Größenvorteile und Lerneffekte, die es den jeweiligen Marktführern ermöglichen, hohe Gewinnspannen zu verteidigen. Diese sind die Basis für hohe Löhne und Wohlstand in den jeweiligen Produzentenländern. Das war schon zu Ricardos Zeiten so, als Großbritannien dank der industriellen Tuchproduktion viel reicher war als Portugal, das Anfang des 19. Jahrhunderts seine Importzölle für britisches Tuch abbauen und sich ganz auf den Weinanbau spezialisieren sollte.

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