Professor Streeck hat mir – neben einem Protest – Passagen aus einem Aufsatz aus dem Jahr 2014 zugeschickt, mit dem Titel „Politische Ökonomie als Soziologie: Kann das gutgehen?“ in der Zeitschrift für theoretische Soziologie, nachzulesen beim Max-Planck-Institut, dem er vorstand.
Meine Aussage in der Vorbemerkung zur Buchrezension, er habe seine damalige Rolle weder aufgearbeitet, noch als Fehler bezeichnet, muss ich nach Lektüre ein klein wenig relativieren. Er hat seine Rolle mindestens einmal ausführlich thematisiert. Aber eine ernsthafte, offene Aufarbeitung war das nicht, ein Mea Culpa schon gar nicht, eher eine Exkulpation, eine Selbstentschuldigung.
„Zum Schluss möchte ich noch auf das manchem offenbar wichtige Problem eingehen, wie jemand, der am Anfang der ersten Regierung Schröder einen praktischen Beitrag zur Stabilisierung des „deutschen Modells“ zu leisten versucht hat, heute den Marsch in die liberalisierte Marktgesellschaft und den Konsolidierungsstaat theoretisch analysieren und politisch beklagen kann. Diese Frage ist nicht neu, und ist gelegentlich durchaus auch mit der Absicht gestellt worden, mir das Recht abzusprechen, ein Buch zu schreiben, an dem die Fragenden als solchem wenig auszusetzen hatten.“
Streeck 2014
Fettungen von Passagen, die ich kommentiere, durchgehend durch mich.
Er hat also nicht dem Neoliberalismus das Wort geredet, er hat einen praktischen Beitrag zur Stabilisierung des deutschen Modells zu leisten versucht, so wie das so ziemlich jeder Neoliberale von sich behaupten würde.
Es geht, anders als Streeck es darstellt, wohl kaum einem der Kritiker darum, ihm das Recht abzusprechen, ein Buch gegen den Neoliberalismus zu schreiben. Ich verstehe die Kritik so, dass ein solches Buch unvollständig und der Autor wenig überzeugend ist, wenn er es versäumt, seine eigene, nicht unbedeutende Rolle bei der Durchsetzung des Neoliberalismus zu thematisieren. Weiter mit Streeck:
„Unter diesen Umständen war das dreiseitige, die organisierten Vertreter der Arbeitnehmer einbeziehende „Modell Deutschland“ dabei, in der öffentlichen Diskussion rapide an Legitimität zu verlieren. Mitte der neunziger Jahre hatten deshalb die Gewerkschaften (!) ein „Bündnis für Arbeit“ gefordert, das jedoch wegen des Widerstands der Arbeitgeber und der von Schäuble angeführten Liberalisierungsfront“ in der CDU nicht zustande kam. Mit dem Wahlsieg von SPD und Grünen 1998 änderten sich dann die politischen Rahmenbedingungen, und ich erhielt die Möglichkeit, zusammen mit anderen dem Leitungsgremium des sofort nach der Regierungsbildung eingesetzten „Bündnisses“ als Delegierter des Kanzleramts vor- und zuzuarbeiten.“
Streeck 2014
Hier wirkt die eigene Exkulpation Streecks für mich ziemlich heuchlerisch. In dem langen Spiegel-Essay von 1999 mit Rolf Heinze, auf den ich in meiner Vorrede zur Rezension verlinkt habe, tat Streeck selbst in fast schon gehässigem Tonfall sein Möglichstes, dem Modell Deutschland die Legitimität in den Augen der Bevölkerung entziehen zu helfen. Zitate aus dem Spiegel-Essay weiter unten werden das zeigen.
„Tatsächlich gelang es meinen Mitstreitern und mir, ein paar einigermaßen vernünftige Ideen zu entwickeln, insbesondere zur Öffnung des Arbeitsmarkts durch eine veränderte Finanzierung der sozialen Sicherung bei Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und Heranführung der tatsächlichen an die gesetzliche Lebensarbeitszeit. All dies war spätestens im Jahr 2000 gescheitert; damit war meine Rolle beendet. In die Hartz-Kommission (2002) wurden wir nicht mehr berufen, und ich wäre ihr auch nicht beigetreten – mit Hartz, welcher römischen Zahl auch immer, und mit Bizarrerien wie der „Ich-AG“ hatte ich nichts zu tun. Unter dem zweiten Kabinett Schröder kam dann die „Agenda 2010“ (2003); deren Inhalt habe ich wie die allermeisten anderen den Medien entnommen.“
Streeck 2014
Das Wort „Mindestlohn“ kommt in dem sehr langen Spiegel-Essay von 1999 nicht vor. Er hat eine ganz andere Stoßrichtung. Dort hieß auch das, was hier schamhaft mit „Heranführung der tatsächlichen an die gesetzliche Lebensarbeitszeit“ umschrieben ist, noch Verlängerung der Lebensarbeitszeit, wie in „verlangen die Gleichstellung von Mann und Frau, der demographische Wandel und die abnehmende Bereitschaft der Jungen, für die vorgezogene Mallorca-Verschickung der Älteren finanziell aufzukommen, nach einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit.“
„Hinterher weiß man vieles besser. Spätestens mit Hartz und seinen VW-Managern in Führerstand war der Zug in die allgemeine Liberalisierungsrichtung abgefahren, und versucht zu haben, ihn anderswohin zu lenken, kann nachträglich durchaus als hoffärtig erscheinen.(…) Es gab, wie immer, strategische Fehleinschätzungen, gerade auch bei den Gewerkschaften, die noch Ende 1999 die Arbeitslosigkeit durch Herabsetzung des gesetzlichen Rentenalters bekämpfen wollten und denselben Mindestlohn, den sie heute endlich und zu Recht fordern, bekämpft haben wie der Teufel das Weihwasser. Als Folge waren sie bald selber draußen, und die „Reformen“ fanden ohne sie statt.“
Streeck 2014
Wenn also die Gewerkschaften schlauer und ähnlich konstruktiv wie er gewesen wären, hätte es klappen können, meint Streeck. Aber was? Ich komme immer wieder auf den Spiegel-Essay zurück, weil es die wirkmächtigste Einlassung Streecks gewesen sein dürfte, geschrieben mit Argumenten und in einem Ton, wie es die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft in weiten Teilen nicht hätte besser machen können. Diesen Essay klammert Streeck regelmäßig aus, wenn es um diese Zeit geht, und verweist auf andere – oft weit weniger wichtige – Publikationen und Einlassungen. Diesen Essay muss man aber lesen um die Aussage Streecks zu würdigen, er sei auf den Reformzug gestiegen, um ihn in eine andere Richtung zu lenken als die „allgemeine Liberalisierungsrichtung.“ Dort stehen Sätze wie:
„Seit den siebziger Jahren hat die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eine für Deutschland charakteristische Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses verteidigt, die unter anderem durch hohe Löhne gekennzeichnet ist, die zwischen Individuen, Unternehmen und Sektoren wenig differieren. (…) In der langen Stagnation der Ära Kohl und Blüm ist versäumt worden, unser Beschäftigungssystem auf den Übergang zu einer reifen Dienstleistungsgesellschaft einzustellen. Zugleich entstand unter den Augen von Regierung und Sozialpartnern ein Arbeitsverhältnis de Luxe. (…) Aufgabe einer von Bundesregierung und Bündnis einzuleitenden neuen Beschäftigungspolitik wäre, das Beschäftigungssystem durch Umbau unserer arbeitspolitischen Institutionen zu öffnen und das Beschäftigungspotential des Dienstleistungssektors für den ersten und legalen Arbeitsmarkt zu erschließen. Dies erfordert unter anderem, daß die Regulierung des Beschäftigungsverhältnisses stärker auf die Bedürfnisse kleiner und neuer Unternehmen eingestellt wird, auf differenzierte Wettbewerbs- und Ertragslagen, auf neuartige Rationalisierungszwänge, verminderte Umverteilungsspielräume, veränderte Autoritätsstrukturen am Arbeitsplatz, neue Formen und Methoden der Arbeitsmotivationen, neuartige Qualitätsanforderungen, einen häufigeren Arbeitsplatzwechsel usw.“
Streeck/Heinze 1999
Mit anderen Worten: Radikale Liberalisierung. Und die Löhne sind zu hoch und müssen sinken, egal was der verblendete Oskar Lafontaine sagt:
„Der von Teilen der Bundesregierung und der SPD nach dem Regierungswechsel vertretene Vulgär-»Keynesianismus« war geeignet – und möglicherweise dazu konzipiert -, den Verteidigern der deutschen Hochpreisversion des Normalarbeitsverhältnisses zu suggerieren, daß eine neue Geld- oder gar eine aggressivere Lohnpolitik ihnen die Anstrengungen und Risiken eines institutionellen Umbaus ersparen könnten. Mit dem Rücktritt des Finanzministers und Parteivorsitzenden ist dieser Hoffnung endgültig, glücklicherweise schon vor Eintritt bleibender Schäden, der Boden entzogen worden. (…) Die wirklichen Schwierigkeiten bestehen dort, wo es um die Expansion geringproduktiver Beschäftigung geht, deren Entlohnung notwendigerweise ebenfalls niedrig sein muß. (…) Dienstleistungen brauchen, so zeigen uns die Erfahrungen anderer Länder, ein anderes Arbeitsregime als die Industrie: andere Arbeitszeiten, andere Entlohnungsformen, ein anderes Verhältnis von externen und internen Arbeitsmärkten, andere Qualifizierungseinrichtungen, andere Formen der sozialen Sicherung. Und nicht zuletzt verlangt ihr Wachstum eine Wirtschaftspolitik, die sich an den Bedürfnissen kleiner, gerade erst gegründeter oder noch zu gründender, oft am Rande der Lebensfähigkeit sich durchbeißender Unternehmen orientiert. Anders als bei den Industriegiganten der Vergangenheit können Staat und Gewerkschaften diesen nur zum eigenen Schaden Löhne und Abgaben abverlangen, die konstruiert sind, als handele es sich um Strafgebühren für die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. (…) Wenn gleicher Zugang aller zu Erwerbsarbeit auch davon abhängt, daß das gesellschaftliche Regelwerk das Zustandekommen von Beschäftigung in niedrig produktiven und entsprechend gering entlohnten Dienstleistungen nicht behindert, dann ist es ein Gebot der sozialen Fairneß, daß wir es gründlich überarbeiten.“
Streeck/Heinze 1999
Und wenn es um die Behandlung von Arbeitslosen geht, klingt Streecks damaliger Essay schon ausgesprochen hartzig:
„Das wichtigste Instrument einer neuen Arbeitsmarktpolitik im Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft ist – der Markt. (…) Aus Arbeit herausgenommen zu werden ist weder eine Wohltat noch gar ein Recht; (fast) jeder Arbeitsplatz ist besser als keiner, auch deshalb, weil die wichtigste Voraussetzung dafür, einen besseren Arbeitsplatz zu finden, darin besteht, erst einmal überhaupt einen zu haben. Auch neigen Menschen dazu, sich in Abhängigkeit und Randständigkeit einzurichten, wenn ihnen die Erfahrung vorenthalten wird, daß sie für sich selbst sorgen können. In unseren nordwesteuropäischen Nachbarländern weiß man längst, daß es zu den Solidaritätspflichten der Gemeinschaft gehört, ihre Mitglieder nicht vor Marktzwängen zu schützen, die sie dazu bewegen könnten, sich noch einmal aufzuraffen. (…) Lohnkostenzuschüsse sollten bevorzugt an Zeitarbeitsfirmen gezahlt werden, die Arbeitslose zu tariflichen Bedingungen einstellen. Tariflich geregelte Beschäftigung in Zeitarbeitsfirmen ist ein idealer Weg, soziale Sicherung und Flexibilität miteinander zu verbinden. (…) Die sich abzeichnende Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien und die Politik eines raschen Entzugs von Leistungen bei Ablehnung eines Beschäftigungsangebots müssen konsequent verwirklicht werden. (…) Auch wäre ein vermehrter Einsatz von Zeitarbeitsfirmen nur möglich, wenn auch von Arbeitslosen ein höheres Maß an räumlicher und beruflicher Mobilität erwartet werden könnte.“
Streeck/Heinze 1999
Hier müsste sich Streeck unbedingt ehrlich machen und seine ideologische Mitarbeit an der Einführung der Hartz-Gesetze einräumen, anstatt sich damit herauszureden, dass er bei deren Einführung keine offizielle Rolle spielte. Wie er stattdessen im folgenden Zitat aus dem oben bereits zitierten Aufsatz aus dem Jahr 2014 zum „wir“ übergeht und gleich noch Sozialdemokraten anderer Länder hinzuzieht, um seine eigene Verantwortung bis zur Unkenntlichkeit zu verdünnen, ist wenig souverän.
„Nicht nur wir, sondern die europäische Sozialdemokratie insgesamt, mit New Labour und Tony Giddens vorneweg, haben damals geglaubt, die schrittweise Wegliberalisierung des Sozialstaats durch eine Art von Teilliberalisierung aufhalten zu können. Das war wohl ein Fehler, wenn auch damals vielleicht ein nicht leicht zu vermeidender.“
Streeck 2014
Er mag das ja damals geglaubt haben. Ich tue mich aber sehr, sehr schwer, das auch von Tony Blair anzunehmen, der mit Rückenwind von Medienmogul Murdoch bereitwillig die sozialdemokratische Glaubwürdigkeit von Labour dafür einsetzte und aufbrauchte, Reformen umzusetzen, gegen die die Arbeiterbewegung Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hätte, wenn sie von den Konservativen gekommen wären.
Er war also nicht leicht vermeidbar der Fehler? Von ihm als Vulgär-„Keynesianer“ verunglimpfte Leute haben ihn vermieden. So viel Ehrlichkeit und Entschuldigung sollte schon sein.
Um nicht selbstgerechter zu erscheinen als ich hoffentlich bin. Auch von mir kann man Aussagen und Positionen meines jüngeren neoklassisch-neoliberalen Ichs finden, die ich heute kritisiere. Ich schreibe und rede nur deshalb eher selten darüber („ich bekenne, ein Elch gewesen zu sein,“ S.4), weil es damals keinerlei gesellschaftliche Bedeutung hatte, was ein Norbert Häring schrieb oder sagte.
Ich habe aus eigener Erfahrung volles Verständnis für Lerneffekte und Jugendsünden. Aber ich meine schon, dass man derartige Fehler, wenn sie nennenswert zu Entwicklungen beigetragen haben, die man später scharf kritisiert, klar als solche bezeichnen, bereuen und aufarbeiten muss, wenn man seine Glaubwürdigkeit und Wirkungsmacht bewahren will. Man könnte dadurch sogar Überzeugungskraft hinzugewinnen. Noch ist es nicht zu spät.
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