Unternehmen werden zu Sparbüchsen der Aktionäre

Trotz hoher Gewinne und stark gesunkener Zinsen wird in allen großen Industrieländern weniger investiert. Neue ökonomische Studien legen nahe: Die Zinsen und die Löhne sind zu niedrig, die Gewinne zu hoch.

Für die Lehrbuchökonomie ist es ein Rätsel: Die Konzerne verdienen hervorragend, die Zinsen sind niedrig und trotzdem investieren die Unternehmen kaum. Stattdessen werden ihre Geldbestände immer größer. Laut Lehrbuch sollten hohe Gewinne einen Anreiz schaffen, die Produktionskapazitäten durch Investitionen auszuweiten, um noch höhere Gewinne machen zu können. Wenn die Zinsen niedrig sind, sinken die Kosten von Investitionen, ein weiterer Grund, warum heute eigentlich viel investiert werden sollte.

Tatsächlich ist es jedoch ganz anders, wie Mai Chi Dao und Chiara Maggi in dem Arbeitspapier „The Rise in Corporate Saving and Cash Holding in Advanced Economies“ des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen. Während die meisten bisher veröffentlichten Studien zu dem Thema sich auf die USA konzentrieren, ermitteln sie vergleichbare Entwicklungen in allen großen Industrieländern.  Entwicklungen, die es nach den volkswirtschaftlichen Lehrbüchern eigentlich nicht geben sollte.

Typischerweise verschulden sich die Unternehmen zur Finanzierung ihrer Investitionen, während die privaten Haushalte einen Teil ihres Einkommens sparen. Viele Unternehmen halten das zwar immer noch so, aber andere, vor allem die ganz großen, verwandeln sich zunehmend in Sparbüchsen ihrer Aktionäre. Etwa um die Jahrtausendwende wurde der Unternehmenssektor in den betrachteten Industrieländern vom Netto-Kreditnehmer zum Netto-Kreditgeber. In der Summe haben die Unternehmen also mehr Guthaben als Schulden. Das sollte man mitdenken, wenn man die Geschichten von der besorgniserregenden Verschuldung der Unternehmen liest. Dabei wird nie mit den Guthaben der Unternehmen saldiert.

Seither verstärkt sich diese atypische Entwicklung immer weiter. Schon seit den frühen Neunzigerjahren gibt es in allen großen Industrieländern die Entwicklung, dass die Gewinne der Unternehmen stark steigen und diese ihre höheren Einnahmen zum großen Teil im Unternehmen behalten. Die Autorinnen stellen fest:

„Nachhaltiges Gewinnwachstum hat sich nicht in höheren Investitionen niedergeschlagen.“.

In Deutschland seien die Investitionen besonders schwach gewesen.

Treiber sind dabei vor allem die größten Konzerne. Deren Gewinne sind unter anderem wegen sinkender Steuerlast, sinkenden Zinsausgaben und einer sinkenden Lohnquote gestiegen. Dao und Maggi fassen das so zusammen: „Der Trend zu immer höherer Ersparnis der Unternehmen geht darauf zurück, dass große Aktiengesellschaften in allen Ländern immer größere Gewinne extrahieren können und immer größer werden, und gleichzeitig ihre Auszahlungen an Aktionäre und den Fiskus begrenzen können.“ Für die meisten Aktionäre ist es steuerlich attraktiv, das Geld im Unternehmen zu lassen, weil gerade die effektiven Steuersätze der großen international operierenden Unternehmen sehr niedrig sind.  Zum einen sind die Körperschaftsteuersätze fast überall besonders stark gesenkt worden, zum anderen nutzen internationale Großunternehmen Steuerschlupflöcher besonders aggressiv. Aber auch als Kriegskasse für strategische Käufe zum Ausbau der eigenen Marktmacht dürften die üppigen Liquiditätspolster dienen.

Da die Kapitaleinkommen viel stärker konzentriert sind als die Arbeitseinkommen, sei nicht erstaunlich, dass die Nachfrage der Haushalte eher lahmte und die Haushalte deshalb die ungewöhnliche Sparneigung der Unternehmen nicht durch höhere eigene Kreditaufnahme kompensierten, meinen die Autorinnen.  Denn reichere Haushalte brauchen oft keinen Kredit und die ärmeren bekommen ihn nicht so leicht.

Nur in einigen Ländern hat der Staat sich stärker verschuldet und so die heimische Nachfragelücke kompensiert. In Deutschland und anderen Ländern mit hohem Außenhandelsüberschuss war das dagegen nicht der Fall. Wer etwas gegen die großen Handelsungleichgewichte tun wolle, müsse auch bei den Ursachen der hohen Ersparnis der Unternehmen ansetzen, folgern die beiden IWF-Ökonominnen – wobei sie an die Unternehmensteuern und den sinkenden Arbeitnehmeranteil an der Wertschöpfung denken. Die Bundesregierung, die sich so gern öffentlich die Hände in Unschuld wäscht, wegen des Leistungsbilanzüberschusses, gegen den sie angeblich nichts tun könne, sollte die Studie lesen. 

Niedrigzinsen als Investitionsbremse

Eine weitere, überraschende Erklärungshypothese und einen weiteren Ansatzpunkt für die Politik liefert ein Ökonomenteam der Eliteuniversitäten Princeton und Chicago. „Niedrige Zinsen, Marktmacht und Produktivitätswachstum“ heißt ihr Aufsatz übersetzt. Ernest Liu, Atif Mian und Amir Sufi machen die niedrigen Zinsen – die nach der Lehrbuchweisheit als investitionsfördernd gelten – für die Investitionszurückhaltung verantwortlich. Sie begründen das mit deren Wirkung auf den Wettbewerb zwischen Branchenführern und ihren Konkurrenten. Beide investieren in Kapazitätsausweitung und Produktivitätssteigerung, um ihren Marktanteil zu steigern. Die Verfolger würden gern zum Marktführer aufschließen, Letzterer würde gerne enteilen und eine monopolartige Stellung erreichen. Sinken die Zinsen, werden Investitionen für beide leichter finanzierbar.

Doch das Ökonomentrio zeigt theoretisch, dass in allen Fällen, in denen der Führer einen hinreichend deutlichen Vorsprung hat, der Investitionsanreiz für ihn am stärksten ist. Die Verfolger, die das sehen oder vorausahnen, verlieren die Hoffnung, ihn einzuholen und unterlassen die so motivierten Investitionen.  Je näher die langfristigen Zinsen gegen null gehen, desto stärker wird dieser Effekt.

Für ihre These können sie Unterstützung in den Daten finden. Sie weisen nach, dass bei einem Rückgang der Langfristzinsen regelmäßig die Marktwerte der größten Unternehmen in einer Branche prozentual am stärksten zulegen. Sie zeigen auch, dass die Diskrepanz in den Wertsteigerungen umso größer ist, je niedriger die Zinsen in der Ausgangslage schon sind. Das Trio resümiert: 

„Das Modell liefert eine Erklärung, warum der Zinsrückgang einherging mit steigender Marktkonzentration, steigenden Margen, nachlassender Dynamik und ausgeweitetem Produktivitätsvorsprung der Branchenführer.“

Bestätigt sehen sie sich auch dadurch, dass die Produktivitätsdynamik stark abgenommen hat, und zwar am stärksten in Branchen mit hoher Anbieterkonzentration. Das haben andere Ökonomen bereits in den letzten Jahren nachgewiesen.

Liu, Mian und Sufi sehen ihre These als Konkurrenz zur gängigen Erklärung der „säkularen Stagnation“, wie sie etwa der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers vertritt. Für den Harvard-Professor ist schwache Konsumnachfrage in Verbindung mit der Nullzinsuntergrenze für den Leitzins die Hauptursache.  Könnten die Notenbanken die Zinsen weit genug unter null senken, wäre das Problem für ihn gelöst. Im Princeton-Chicago-Modell dagegen ist die zunehmende Marktmacht auf Produzentenseite für die schwache Dynamik verantwortlich. Noch niedrigere Zinsen würden das Problem nur verschlimmern. 

[8.4.2019]

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