Die Sozialversicherung produziert keine Kinderarmut – Kommentar zum Artikel von Borchert und Replik

Sozialrichter a.D. und Rechtsanwalt Jürgen Borchert hat an dieser Stelle ein Plädoyer dafür gehalten, bei den Beiträgen zur Sozialversicherung Familien in der Phase der Kindererziehung besser zu stellen, insbesondere durch Kinderfreibeträge wie bei der Steuer. Ralf Krämer, der im Bereich Wirtschaftspolitik für den ver.di Bundesvorstand arbeitet, bezeichnet in einem Kommentar Borcherts Diagnose, die Sozialversicherung verursache Kinderarmut, als weit überzogen und schief. Borchert erwidert.

Kommentar zu: „Wie die Sozialversicherung Kinderarmut produziert

Ralf Krämer. Das ist meines Erachtens ein fragwürdiger Artikel, der politisch in die falsche Richtung geht. Der Titel ist schräg. Die Sozialversicherung wirkt der Kinderarmut nicht entgegen, das ist ein Problem, aber sie produziert sie nicht. Ohne Sozialversicherung müssten sich Leute privat krankenversichern, das wäre gerade für ärmere und kinderreiche Familien noch viel teurer – die beitragsfreie Mitversicherung von Kindern ist ein wichtiger Punkt, der Kinderarmut zumindest in dieser Hinsicht reduziert. Auch private Altersvorsorge und Pflegeversicherung wäre noch viel ungünstiger. Und die Sozialbeiträge sind nicht der Grund für unzureichende Einkommen, sondern da sind die zu geringen Löhne und die unzureichende Vereinbarkeit von Kindern und Erwerbstätigkeit beider Eltern und zu geringes Kindergeld das Problem.

Klar wären in Bezug auf die Absicherung von Familien mit Kindern bessere Regelungen denkbar: deutlich höheres Kindergeld oder eine Kindergrundsicherung, wie sie einige Sozialverbände fordern, flächendeckende qualitativ bessere Ganztags-Kitas und –schulen, ein staatliches bzw. steuerfinanziertes Gesundheits- und Pflegesystem (ob die dazu notwendig höheren Steuern dann geringer wären als die wegfallenden Sozialbeiträge ist offen) und ein staatliches Grundrentensystem, wo dann für alle die mehr als Existenzminimum-Niveau wollen private Zusatzversicherung nötig wäre, was kinderreiche Familien sich dann auch nicht leisten könnten. Das würde v.a. die Finanzindustrie freuen, weil alle über Basisversorgung hinausgehenden Leistungen dann über kapitalgedeckte Versicherungen abgewickelt werden müssten statt über umlagefinanzierte Sozialversicherungen. Genau in diese Richtung geht auch Druck seitens der OECD, die dann bei taxing wages auch immer ihr angebliches Herz für die Beschäftigten entdeckt und deren hohe Abgabenbelastung beklagt, weil sie Steuern und Sozialbeiträge, aus denen individuelle Leistungsansprüche resultieren, in einen Topf wirft. Solche Beiträge gegen die Sozialversicherungen gehen politisch leider in die falsche Richtung und lassen sich letztlich wunderbar in neoliberale Konzepte des Sozialstaatsumbaus einbauen.

Borchert schreibt:

„Von diesen endogenen Verteilungsfehlern werden (..) sozialversicherte Arbeitnehmerfamilien besonders hart getroffen. Pro Kopf gerechnet sind sie in allen Einkommensschichten und Jahrgängen ohnehin ärmer als die ihre nicht-unterhaltsbelasteten Zeitgenossen. Die als Markteinkommen „individualistisch verengten“ Löhne und die nicht nach Unterhaltslasten differenzierenden, ebenfalls derart verengten Beiträge sorgen für eine relative oder gar absolute Verarmung von Familien.“

Das liegt aber nicht an der Sozialversicherung, sondern daran dass Kinder Geld kosten, und zwar mehr als das Kindergeld oder die Kinderfreibeträge einbringen. Da Borchert grundsätzlich Einverdienerfamilien betrachtet – ein zunehmend historisch überholten Familienmodell, was auch aus Emanzipationsgesichtpunkten gut so ist, weil es ungeachtet von Rechtslagen mit einer finanziellen und damit persönlichen Abhängigkeit der (meist) Frau vom Mann verbunden ist – ist auch völlig logisch, dass Ehepaare weniger Geld zur Verfügung haben als Singles mit gleichem Einkommen. Das liegt an der Mehrzahl der davon lebenden Personen, nicht an der Sozialversicherung. Der Anstieg des Anteils armer Kinder seit 1964 muss auch ganz anders erklärt werden, ebenso der steigende Anteil der Single-Haushalte, 1964 gabs übrigens die Sozialversicherungen auch schon in ähnlicher Konstruktion wie heute. Dass Borchert die Verteilungswirkung der Sozialversicherung als „kardinale Ursache der Wohnungsnot“ identifiziert ist weit überzogen. Auch dafür sind ganz andere Ursachen maßgeblich.

Ebenso ist die Zunahme der Altersarmut eine Folge zu geringer Renten, nicht zu hoher Sozialbeiträge. Andersrum: Eine Rentenpolitik, die höhere Renten und weniger Altersarmut bewirken würde, würde höhere Ausgaben erfordern, und zu ihrer Finanzierung höhere Sozialbeiträge oder Steuern.

Insgesamt ist ja richtig, dass Familien mit Kindern, insbesondere solche mit geringeren Einkommen, entlastet bzw. besser gefördert werden sollten. Kernforderungen dazu wären aber höhere Leistungen für Kinder und nicht geringere Sozialbeiträge, die ja andererseits auch irgendwie ausgeglichen werden müssten durch höhere Beiträge oder Steuern anderer, wenn sie nicht sogar zu weiter finanzieller Austrocknung des Sozialstaats beitragen sollten, und damit sogar vielleicht zu weitere Verschlechterung der Bedingungen für Kinder insb. aus ärmeren Familien.

Außerdem kritisiert Borchert:

“ Wie sozialstaatlich geradezu pervers die Lastenverteilung in den „Normalfällen“ erfolgt, beweist die Tatsache, dass die Grenzbelastung aus Steuern und Sozialabgaben mit steigenden Einkommen vor allem wegen der Beitragsbemessungsgrenzen der Sozialversicherung sogar abnimmt. Deshalb ist die Spreizung zwischen Oben und Unten wegen des überwältigenden Volumens der Sozialbeiträge zwangsläufig stark. Beispielsweise liegt die effektive Grenzbelastung eines Ehepaares mit zwei Kindern, bei dem nur ein Ehepartner verdient, bei einem Bruttoeinkommen von 40.000 Euro bei ca. 45 Prozent, während sie bei einem Bruttoeinkommen von 90.000 Euro und ansonsten gleicher Haushaltskonstellation nur bei etwas mehr als 35 Prozent endet! Es lässt sich nicht länger leugnen, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland eine Zwei-Klassengesellschaft etabliert hat, deren Grenzen entlang der Sozialversicherungspflicht und -freiheit verlaufen.“

Das mit der Zwei-Klassengesellschaft ist total überzogen und was folgte daraus? Wir brauchen Erwerbstätigenversicherung in der Rente bzw. Bürgerversicherung für Pflege und Gesundheit, in der alle Erwerbstätigen bzw. Einwohner einbezogen werden und Einkommensabhängige Beiträge zählen, auch Selbstständige, Beamte usw., also die Erweiterung der Sozialversicherungen. Die höhere Gesamtabgabenbelastung bei geringerem Einkommen im obigen Beispiel kommt dadurch zustande, dass der Fall mit hohem Einkommen einerseits über der Beitragsbemessungsgrenze liegt, die individuell betrachtet wird, zugleich aber massiv vom Ehegattensplitting profitiert. Da wäre eher zu hinterfragen, ob dieser hohe Splittingvorteil zu rechtfertigen ist und ebenso ob die beitragsfreie Mitversicherung nichterwerbstätige Ehegatten in der Sozialversicherung noch zeitgemäß ist. Sonst gäbe es nämlich höhere Sozialbeitrags- und Steuerbelastungen der Familie mit hohen Einkommen – und damit immer zugleich den Spielraum für Senkung der allgemeinen Beitragssätze, die auch Geringverdiener treffen, durch die dadurch höheren Beitragseinnahmen. Die Kehrseite der Sozialversicherungsfreiheit von Selbstständigen ist übrigens in vielen Fällen auch ihre schlechte soziale Absicherung v.a. für das Alter, v.a. auch deshalb Ausweitung der Sozialversicherungspflicht. Die richtige Forderung wäre hier die deutliche Erhöhung oder sogar Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen, in der Rentenversicherung mit dann degressiver Ausgestaltung oder Deckelung der daraus resultierenden Rentenansprüche. Auf der anderen Seite müssen die Rentenansprüche aus Niedriglöhnen aufgewertet werden, um Altersarmut entgegenzuwirken.

Es wird nirgends so richtig klar, was Borchert eigentlich fordert. Geringere Sozialbeitragsätze für Eltern, nehme ich an. Aber in welchem Umfang, für wen, mit welchen Auswirkungen auf Leistungsansprüche, wie gegenfinanziert? Alles unklar. Es gibt das ja ein wenig bei der Pflegeversicherung. Wenn ähnlich auch ein paar Prozentpunkte in der Rentenversicherung für Eltern niederiger wären als für Kinderlose (und für diese höher), würde das die Probleme aber nicht lösen und gleichzeitig andere schaffen. Auch die Verteilungswirkungen wären genauer anzugucken, denn ärmere Familien hätten davon absolut betrachtet ziemlich wenig, besser verdienende Familien erheblich mehr. Da sind die bereits bestehenden Rentenpunkte für Kindererziehungszeiten gerechter, die immerhin pro Kind die Rente für alle gleich um so viel erhöhen wie drei Jahre Erwerbsarbeit zum Durchschnittslohn.

Replik 

Jürgen Borchert. Gegen meine These der regressiven Beitragslasten der Sozialversicherung als Hauptursache der Kinderarmut in Deutschland bringt Ralf Krämer in seinem Kommentar vor, ich plädierte für Privatversicherungen, betrachtete nur das historisch überholte Familienmodell der „Einverdiener-Familien“, ließe die massiven Vorteile durch das Ehegattensplitting außer Betracht usw. Nichts davon trifft allerdings zu, wovon der Leser sich überzeugen  kann. Der Anstieg des Anteils armer Kinder müsse ganz anders erklärt werden, meint Krämer, ebenso der steigende Anteil der Single-Haushalte, auch die Wohnungsnot habe nichts mit der Sozialversicherung zu tun. Dafür erkennt er die Zunahme der Altersarmut als Folge zu geringer Renten. Immerhin erkennt Krämer die Tatsache an, dass Kinder teuer sind, und plädiert für ein deutlich höheres Kindergeld oder eine Kindergrundsicherung, Ganztags-Kitas etc.  Kein Wort allerdings dazu, dass Eltern ihre Geschenke im steuerlichen Transferdschungel zu etwa  60 Prozent selbst bezahlen (Wiss. Beirat BMFuS). Schemenhaft wird wenigstens ein Plädoyer für eine Erwerbstätigenversicherung unter Einbeziehung von Selbstständigen erkennbar:  Immerhin also eine tendenzielle Zielkonvergenz von uns beiden, denn bekanntlich kämpfe ich seit Jahrzehnten (ua. als Mitglied der Rentenkommission der IG BAU) für eine universale, auch Beamte, Richter und Abgeordnete einbeziehende SozialFAIRsicherung, finanziert durch Beiträge nach dem Muster des „Soli“.

Mit den beim Bundesverfassungsgericht mittlerweile auf der Agenda stehenden „Elternklagen“ mit dem Ziel, Existenzminima analog zum Steuerrecht auch bei den Sozialbeiträgen zu implementieren, soll ein wichtiger Schritt in diese Richtung erzwungen werden. Dahinter steht die Einsicht, dass die allgemeinen Ungerechtigkeiten der Sozialversicherung, gerade auch in Abgrenzung zu den Beamten,  bei den Familien nur kumulieren und kulminieren. Das haben nicht nur der Erfinder der modernen Sozialversicherung Mackenroth und Schreiber festgestellt, sondern kann auch im Memorandum von Alfred Schmidt,  dem führenden gewerkschaftlichen Sozialpolitiker der 1970 er/80er Jahre nachgelesen werden(abgedruckt in: Die Angestelltenversicherung/ 1988, S. 488 ff.). Die Sozialisierung der umlagefinanzierten Altenlast bei weiterbestehender Privatisierung der Kinderlasten zwingt die Eltern seit 1957 zur Produktion  „positiver externer Effekte“ zugunsten Kinderloser, weil diese ihre Altersversorgung  kostenlos von den Kindern anderer Leute erhalten; denn mit ihren Beiträgen erfüllen sie nur ihre Verpflichtungen gegenüber der Elterngeneration. Der -selbst kinderlose! –  Erfinder unseres modernen Rentensystems, Wilfrid Schreiber,  bezeichnete diesen Sachverhalt als „parasitär“ und die Wissenschaftler des 5. Familienberichts sahen 1994 hierin den Schwerpunkt der „strukturellen Rücksichtslosigkeit“ des deutschen Sozialsystems gegenüber Familien. Staatsrechtler sprechen seit 1990 von „Transferausbeutung“. 

Dieser Tatbestand ist bereits vom Bundesverfassungsgericht im „Trümmerfrauen-Urteil“ 1992 und im „Kinderbeitragsurteil“ zur Pflegeversicherung 2001 dingfest und zum Gegenstand von Verfassungsaufträgen an den Gesetzgeber gemacht worden. Dem hat sich der Gesetzgeber beharrlich verweigert. Dass eine grundlegende Veränderung der regressiven Beitragsstruktur der Sozialversicherung weit über die Familienproblematik hinaus den Weg zu einem gerechteren Abgabensystem insgesamt weist, liegt auf der Hand. Die Beteiligung von Familien hat aber den juristischen Effekt, dass der ansonsten schwache Gleichheitssatz über das Benachteiligungsverbot des Art. 6 Abs. 1 GG scharf gestellt und mächtig wird.

Leider lässt Ralf Krämer den Leser im Dunkeln, was für ihn denn nun die Ursachen der doppelten Kinderarmut – Anstieg der Quote armer Kinder seit 1964 auf das 16 fache bei gleichzeitiger Halbierung der Geburtenzahlen- sind. Denn diese fatale Entwicklung läuft nunmehr seit über 50 Jahren kontinuierlich weiter, obwohl das Kindergeld stetig erhöht, die Arbeitslosigkeit vermindert, die Kitaplätze vervielfacht, die Müttererwerbstätigkeit enorm gesteigert und damit zugleich die Effekte des Ehegattensplittings minimalisiert wurden (DIW!).  Diese Operationen sind also gelungen, aber sie ändern nichts am Tod des Patienten. Das ist mit Therapien immer so, wenn die Diagnosen falsch sind.  Immerhin bezweifelt Krämer nicht den Befund der doppelten Kinderarmut als solchen. Eine Anamnese – siehe Schreiber, Schmidt, Bundesverfassungsgericht –, die das Rätsel der doppelten Kinderarmut löst und die Diagnose auf den Präsentierteller serviert, versucht er aber erst gar nicht: Die glatte Verdoppelung der Beitragssätze seit 1957 von unter 20 auf knapp 40 Prozentpunkte.  Heute haben wir ein Beitragsvolumen von über 600 Mrd. €.  Zusammen mit den Verbrauchsteuern bestehen sogar weit über 800 Mrd. € an Staatseinnahmen aus familienfeindlichen Abgaben mit „regressiver“ Wirkung. Wie stellt Krämer sich  denn eine Korrektur dieser massiven Lastenverteilung von oben nach unten vor, wenn man weiß, dass die gesamten Einnahmen des Fiskus aus der (milde)  progressiven Einkommensteuer mal gerade 250 Mrd. Euro ausmachen und Familien ihre steuerfinanzierten „Geschenke“ zu mehr als 50 Prozent selbst bezahlen?

Zuletzt noch ein Blick auf den Wohnungsmarkt, auf dem sich die  familienfeindlichen und ebenso single- wie altenfreundlichen Verteilungswirkungen unseres Transfersystems mit der alles dominierenden Sozialversicherung besonders klar zeigen: Dass hier keine allgemeine Not herrscht, sondern ein gewaltiges Verteilungsproblem, verdeutlicht die Tatsache, dass der Wohnraumkonsum pro Kopf von 36,8 m² (1990) auf 46,5 m² (2016) gestiegen ist. Laut UBA resultiert dies primär aus der Zunahme der Single-Haushalte und dem Anstieg der Wohnfläche mit höherem Alter.

[28.11.2019]

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