21. 08. 2017 | Für Irland gibt es jetzt eine offiziell berechnete Alternative zum Bruttoinlandsprodukt. Das Ziel ist aber nicht etwa, das in vieler Hinsicht ungeeignete und durch gezielte Manipulationen der Standards aufgeblähte BIP zu reformieren, sondern die nötige Reform zu vermeiden.
Als das irische Statistikamt bekannt gab, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2015 um 26 Prozent gestiegen sei, scheuchte das die internationale Statistik-Community gehörig auf. Denn, was wie ein Rechenfehler aussah und nichts mit der Produktionsentwicklung auf der Insel zu tun hatte, war korrekt nach den Vorgaben der internationalen Statistik-Konventionen ermittelt. Dann können diese Konventionen nicht allzu viel taugen, ist ein naheliegender Schluss. Entsprechend schnell und entschlossen reagierten die Statistiker.
Das Ergebnis einer ungewöhnlich schnell einberufenen und arbeitenden Kommission ist eine neue Maßzahl, speziell für Irlands Wirtschaft, die im Juli erstmals veröffentlicht wurde: das modifizierte Bruttonationaleinkommen, kurz GNI*. Es ist fast ein volles Drittel kleiner als das BIP, und es soll nicht so wild hin- und herschwanken.
Die Differenz zum BIP liegt etwa zur Hälfte daran, dass beim Übergang vom Bruttoinlandsprodukt zum auch jetzt schon berechneten Bruttonationalprodukt ans Ausland fließende Einkommen abgezogen werden. Denn das Nationaleinkommen misst, welche Wertschöpfung Inländer produzieren und erhalten. Gewinne irischer Töchter von ausländischen Unternehmen erhöhen daher das BNP, anders als das BIP, nicht.
Irisch ist nicht gleich irisch
Die andere Hälfte der Differenz geht auf die Modifikation zurück. Zusätzlich abgezogen werden Gewinne von Unternehmen, die zwar ihren rechtlichen Hauptsitz in Irland haben, bei denen es sich aber um aus steuerlichen Gründen nach Irland verlagerte Unternehmen handelt, deren Eigentümer im Ausland sitzen und deren Produktion überwiegend im Ausland stattfindet. Diese abzuziehenden Gewinne werden noch erhöht um die vorher gewinnmindernd verbuchten Abschreibungen auf Patente und Lizenzen und die Abschreibungen von Flugzeugleasingfirmen.
Ein Beispiel ist Microsoft Ireland Operations Limited, ein Unternehmen, das den weltweiten Verkauf und Vertrieb der Software managt und die Gewinne verbucht.
Der pragmatische Gedanke hinter der Modifikation: Es profitieren keine Iren von diesen Gewinnen, selbst wenn sie erst einmal buchmäßig in Irland verbleiben sollten und nicht gleich an die ausländischen Eigner ausgeschüttet werden. Wann das geschieht, soll keine Rolle für das in einem Jahr oder Quartal ermittelte irische Bruttoinlandsprodukt spielen.
Die etwas willkürlich anmutende Zusammenstellung der Änderungsposten hat ihren Grund: Die absurden Ergebnisse von 2015 kamen zustande durch die formale Verlagerung großer US-IT-Unternehmen und einer großen Flugzeugleasingfirma nach Irland. Der Kapitalstock der betroffenen Unternehmen wurde auf einen Schlag dem Rechenwerk der irischen Volkswirtschaft hinzugefügt, was zu dramatischen Ausschlägen führte, vor allem bei den Investitionen und den Importen.
BIP-Alternative international abgesegnet
Die Kommission hatte starken internationalen Rückhalt. Vertreter der Europäischen Statistikbehörde Eurostat und des Internationalen Währungsfonds waren vertreten. Den neuen Indikator für das Bruttonationaleinkommen begründet die Kommission vor allem damit, dass er „ein nützlicher ergänzender Indikator für die Analyse von Schuldenquoten“ sei. Die irische Staatsschuldenquote liegt danach bei stolzen 106 Prozent, anstatt der im europäischen Vergleich normalen 73 Prozent mit dem BIP im Nenner.
Wenn Irland ein normales Land wäre, würde es sich nicht ohne weiteres erschließen, warum man für die Beurteilung der Stabilität der öffentlichen Finanzen den Schuldenstand auf GNI*und nicht auf das BIP beziehen sollte. Denn auch auf Geld, das Ausländer in Irland verdienen, kann der Staat ja Steuern erheben und damit seine Staatsschuld bedienen. Irland jedoch ist ein Steuerparadies, und die vielen ausländischen Einkommen werden nur formal, aber nicht tatsächlich in Irland verdient, und auch formal nur, weil Irland kaum Steuern darauf erhebt.
Indirekt stützen die internationalen Statistiker mit ihrer neuen Messzahl die Haltung der irischen Regierung, die sich vor Gericht dagegen wehrt, 13 Mrd. Euro Steuernachzahlungen vom US-Konzern Apple einzuziehen, wie das die EU-Kommission verlangt. Es ist also eine Frage des politischen Willens, ob man von irischen Hauptquartieren ausländischer Konzerne Steuern eintreibt, oder nicht.
Auch für die Inlandsnachfrage, eine Schlüsselgröße der Konjunkturbeobachtung, hatte die Statistik-Kommission einen Vorschlag, der nun umgesetzt wird. Für die modifizierte Inlandsnachfrage wird alles eliminiert, was mit den Tätigkeiten von Flugzeugleasingfirmen zu tun hat. Außerdem werden die „Importe“ von geistigem Eigentum abgezogen, die jedes Mal die Investitionsstatistik aufblähen, wenn ein ausländisches Pharma- oder IT-Unternehmen den Rechtssitz nach Irland verlagert. Während die Inlandsnachfrage im ersten Quartal 2017 um absurde 17 Prozent einbrach, stieg der private Konsum um 1,2 Prozent. Die modifizierte Inlandsnachfrage lag nur knapp drei Prozent niedriger als im Vorquartal. So richtig gut zum privaten Konsum passt es aber trotzdem noch nicht.
Die modifizierte Inlandsnachfrage bilde besser ab, was in der heimischen Volkswirtschaft vor sich geht, begründet die Kommission die Abweichung von den üblichen statistischen Normen. Sie konzentriere sich auf physisches Kapital, mit dem die heimische Produktion erstellt wird, statt auf sogenanntes intangibles Kapital. Dadurch passe sie auch besser zur Beschäftigungsentwicklung.
Das Problem wird zwar in den irischen Statistiken besonders deutlich – und für die Statistiker rufschädigend – bemerkbar. Doch es ist ein allgemeines Problem, kein irisches. Die Absurditäten in den irischen Statistiken traten auf, nachdem die jüngsten Änderungen der internationalen Statistikregeln umgesetzt wurden. Diese schreiben vor, dass der Wert geistigen Eigentums von Unternehmen dem volkswirtschaftlichen Kapitalstock zugeschlagen und dass dessen Mehrung als Investition verbucht wird. „Das hat eine starke Basis in der ökonomischen Theorie“, rechtfertigt dies die Statistikkommission im Grundsatz, „weil höhere Ausgaben für geistiges Eigentum und Forschung und Entwicklung sich über einen längeren Zeitraum auszahlen sollten“. Böse Zungen betonen dagegen eher, dass das BIP dadurch größer ausfällt, ein Effekt, den fast alle statistischen Reformen gemein haben. Jedenfalls mutet es schon sprachlogisch seltsam an, dass Eigentumsrechte wie Patente und Lizenzen als „produzierter nichtfinanzieller Vermögenswert“ klassifiziert werden. Zu den Änderungen gehörte auch, dass der Handel mit Flugzeugen nicht mehr nach Standort der Nutzer, sondern nach Eigentumsrechten verbucht wird.
Reformauftakt oder – ersatz
Statistikexperte Merijn Knibbe von der Universität Wageningen in den Niederlanden begrüßte die neuen irischen Messzahlen als guten Zwischenschritt auf dem Weg zu einer Kehrtwende bei den internationalen Standards. Statt der zunehmenden Ausrichtung an Eigentumsrechten müsse man zu Standards zurückkehren, die sich an der physischen Produktion von Gütern und Diensten durch Einsatz von Arbeit ausrichten. Denn wenn die volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen immer schlechter mit der Entwicklung des Arbeitsmarkts und der Einkommen harmonierten, schade das der Glaubwürdigkeit und dem Informationsgehalt dieser Rechenwerke.
Knibbe befürchtet jedoch gleichzeitig, dass die Spezialstatistiken für Irland eher den Reformdruck mindern sollen. Die Kommission unter Beteiligung des IWF, der in der internationalen Statistikkoordination eine Schlüsselrolle spielt, ließ jedenfalls keine Neigung zu Reformen jenseits der Lösung für das peinliche irische Problem erkennen.
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