Man sieht wieder Fotos von langen Schlangen Wohnungssuchender bei Besichtigungen. Die Menschen empören sich über eine zumindest gefühlte Explosion der Mieten. Die Politik reagiert. Berlin hat einen harten Mietenstopp beschlossen. Im Bundesgebiet wurden die Regeln für Mieterhöhungen mehrfach verschärft. Alles, um die Wut und die Sorgen der Wähler über selbst erfahrene, befürchtete oder in den Medien gesehene Verdrängung von Mietern durch exorbitante Mieterhöhungen zu lindern.
Mieten steigen weniger als 2 Prozent pro Jahr
Versucht man allerdings den Grund für diese Aufregung in den offiziellen Statistiken zum Wohnungsmarkt zu finden, stößt man auf Schwierigkeiten. Zwar beschleunigt sich die Mietpreisinflation, aber eine Explosion kann man es kaum nennen, wenn die Mieten 2016 um 1,1 Prozent, 2017 um 1,4 Prozent und 2018 um 1,6 Prozent zulegten. Das ist viel weniger als die Häuserpreise, die von 2010 bis 2018 um 45 Prozent gestiegen sind – das entspricht etwa fünf Prozent pro Jahr. Offenkundig wirken die stark steigenden Immobilienpreise kaum auf die Mieten durch. Das ist auch nicht ganz unplausibel, sind doch gleichzeitig die Zinsen stark gesunken. Diese bestimmen die Renditen, die man mit anderen Kapitalanlageformen statt Vermietung erzielen kann.
Das Statistische Bundesamt erklärt den geringen Anstieg des Mietpreisindexes, der in augenfälligem Kontrast zur wahrgenommenen Mietenexplosion steht, folgendermaßen: Das Problem ist stark auf die attraktiven Ballungsräume konzentriert und tritt dort vor allem bei Neuvermietungen auf. Die Mietpreisentwicklung im Verbraucherpreisindex (VPI) bildet dagegen die Mieten aller Mietwohnungen in Deutschland repräsentativ ab. Die meisten Mietwohnungen liegen aber eben nicht in den Ballungszentren und sind von Mietern bewohnt, die schon länger darin wohnen.
Bestandsmieter vordergründig wenig betroffen
Nach Auskunft der Statistiker beträgt die durchschnittliche Mietdauer etwa zehn Jahre. Dadurch kommt es pro Jahr nur bei einem Zehntel der Mietobjekte zu einem Mieterwechsel. Dies habe zur Folge, dass der Einfluss von Wiedervermietungen auf die Mietpreisentwicklung im Monatsdurchschnitt bei weniger als einem Prozent liegt. Erstvermietungen neu gebauten Wohnraums sind mengenmäßig ganz vernachlässigbar.
Die letzte Revision der Inflationsmessung hat die offizielle Mietinflation für 2016 und 2017 sogar etwas gesenkt. Der Grund dafür ist, dass nun die verschiedenen Vermietertypen unterschieden und mit ihrem tatsächlichen Anteil am Gesamtbestand in die Stichprobe aufgenommen werden. Private Kleinvermieter, die die Mieten am wenigsten erhöhten, machen nun 66 Prozent der Stichprobe aus. Vorher waren sie unterrepräsentiert gegenüber den privaten Wohnungsbaugesellschaften, die am stärksten aufschlugen, und den genossenschaftlichen und öffentlichen Trägern, die bei den Mieterhöhungen in der Mitte liegen.
Groß sind die Unterschiede aber nicht. So erhöhten die Kleinvermieter die Mieten von 2016 bis 2018 um insgesamt gut drei, die Genossenschaften und öffentlichen um knapp vier und die privaten Wohnungsbaugesellschaften um rund fünf Prozent.
Wohnungswechsel wird für viele unmöglich
Für die zehn Prozent der mietenden Bevölkerung, die die Wohnung wechseln wollen oder müssen, und für junge Menschen, die neu als Mietinteressenten auftreten, sind die geringeren Mieterhöhungen im Bestand aber kein Trost. Sie sind mit den Preisen der Wohnungen konfrontiert, die neu vermietet werden und meist viel teurer sind als Bestandsmieten.
Mit einer Sonderauswertung haben die Statistiker 2018 den Mietanstieg bei Wiedervermietungen in den sieben größten Städten ermittelt. Sie kamen auf einen durchschnittlichen Anstieg von elf Prozent. In diesem Teilsegment gibt es also schon so etwas wie eine Preisexplosion. Mieter, die erst ab 2015 in ihre Wohnungen eingezogen sind, zahlten 2018 in diesen Städten mit 10,80 Euro je Quadratmeter gut 21 Prozent mehr als diejenigen, die ihre Wohnung schon länger innehaben. Diese zahlen im Durchschnitt 8,90 Euro. Im bundesdeutschen Durchschnitt liegt die Quadratmetermiete bei 6,90 Euro.
Die Zuzügler und Wohnungswechsler gehören offenbar mehrheitlich zu den Besserverdienern, oder sie nehmen mit weniger Wohnraum vorlieb. Denn die Wohnkostenbelastung als Anteil des verfügbaren Einkommens ist bei den Neumietern mit 31 Prozent nur knapp fünf Prozent höher als bei den Altmietern.
Hohes Armutsrisiko der Mieter
Doch nicht jeder Geringverdiener hat die Möglichkeit, in seiner bestehenden Wohnung zu relativ niedrigen Mieten wohnen zu bleiben. Renovierungen mit Mieterhöhung, Kündigung, Vergrößerung des Haushalts oder ein neuer Arbeitsplatz können einen Wechsel erzwingen oder nahelegen. Laut sozioökonomischem Panel (SOEP) lag die Armutsrisikoquote der Mieterhaushalte 2016 bei knapp 30 Prozent – mit steigender Tendenz. Für Besitzer von Wohneigentum liegt diese Quote nur bei viereinhalb Prozent, mit leicht sinkender Tendenz.
Seit 2003 ist die Armutsrisikoquote der Mieterhaushalte um gut zwölf Prozentpunkte gestiegen, allein seit 2008 um knapp fünf Prozent. Laut einer anderen Statistik, der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, lag die Quote sogar schon 2013 bei über 30 Prozent, mit steigender Tendenz.
Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Medians) zur Verfügung hat. Diese Schwelle lag im Jahr 2016 für Singles bei rund 1100 Euro.
Die armutsgefährdete Bevölkerung gab schon 2012 zwischen zwei Fünftel und der Hälfte ihres ohnehin geringen Nettoeinkommens für Wohnen aus, einschließlich der verbrauchsunabhängigen Nebenkosten. Das war 2012 fast doppelt so viel wie im Durchschnitt der Bevölkerung, wie aus einer Präsentation des Bundesbauministeriums von Dezember 2013 hervorgeht.
Wer mit 1100 Euro am oberen Ende des Bereichs der Armutsgefährdung steht und 550 Euro für Wohnen ausgibt, dem bleibt wenig mehr als der Sozialhilfesatz. Das lässt ermessen, welche Bedrohung ein notwendiger Wohnungswechsel für diesen großen Personenkreis darstellt – angesichts der dann meist fälligen deutlich höheren Miete.
Man darf in Anbetracht dieser Zahlen vermuten, dass viele Menschen sich mit ungeeigneten Wohnverhältnissen arrangieren müssen. Dieses Problem wird in der Mietpreisstatistik nicht sichtbar.