Weil man Geld nicht essen kann – Wie beim BIP statistisch getrickst wird

14. 08. 2017 | Wenn chinesische Wachstumszahlen referiert werden, fehlt selten der Hinweis, dass die Zahlen manipuliert sein könnten. Doch auch in westlichen Wirtschaftsdaten ist nicht immer das drin, was wir vermuten. Denn Regierungen haben ein Interesse daran, ihr Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu steigern. Immer wieder gibt es darum Statistikreformen, die das BIP steigern, obwohl nicht mehr produziert wird. Besonders einfallsreich war man bei der Finanzbranche.

Jacob Assa, Ökonom und Statistiker bei den Vereinten Nationen, hat ausgerechnet, dass die Revision der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung von 2013 das Bruttoinlandsprodukt der USA um mehr als die Wirtschaftsleistung von Schweden steigerte, ohne dass irgendetwas zusätzlich produziert worden wäre. Das geschah dadurch, dass Patente und Lizenzen, die vorher als Vorleistungen behandelt worden waren, zu Investitionen erklärt wurden – und somit statistisch gesehen zur Produktionsleistung beitragen. Auch die Beschaffung von Militärwerkzeug wird nun statt als Staatskonsum BIP-steigernd als Investition definiert.

Auch Branchen und Sektoren haben ein Interesse daran, ihren Beitrag zur Wirtschaftsleistung hoch erscheinen zu lassen. Beim Finanzsektor hat sich in dieser Richtung besonders viel getan. Ursprünglich galten seine Einkommen als unproduktive Transfers. Beginnend mit der Revision der statistischen Normen von 1968 wurde der Sektor sukzessive für produktiv erklärt, so dass die „Produktionsleistung“ der im Westen stark expandierenden Branche das Bruttoinlandsprodukt immer stärker erhöhte, erläutert Assa in einem Buch und verschiedenen Aufsätzen. Erst wurde die Produktkategorie „Finanzserviceleistung Indirekte Messung“ eingeführt, nach dem englischen Namen kurz FISIM. Die Netto-Zinseinnahmen der Banken galten fortan als Maß für die Produktion dieses Sektors. Das Bruttoinlandsprodukt wurde dadurch zunächst allerdings nicht erhöht, denn dieser „Output“ wurde summarisch vom gemeinsamen Produktionswert der übrigen „nichtfinanziellen“ Wirtschaft als Vorleistung abgezogen.

Das Statistische Bundesamt wehrte sich ohne Erfolg

In Deutschland wehrte sich das Statistische Bundesamt jahrelang dagegen, dass die von den Banken in Höhe ihrer Netto-Zinseinnahmen fiktiv erbrachte Finanzdienstleistung auf die anderen Sektoren aufgeteilt wird – 2005 wurde dieser Schritt dennoch vollzogen. Für die Unternehmen gilt die fiktive Dienstleistung der Banken als Vorleistung, die zur Ermittlung der Wertschöpfung vom Umsatz abgezogen wird. Wenn aber der Staat oder private Haushalte die Bankzinsen zahlen, gilt die fiktive Dienstleistung seit 2005 als Konsum und erhöht so das BIP.

Wie Wolfgang Eichmann vom Statistischen Bundesamt in einem Aufsatz in „Wirtschaft und Statistik“ berichtete, stieg dadurch das deutsche BIP um eineinhalb Prozent. Wenn die Banken sinkende Notenbankzinsen schneller bei den Einlagenzinsen als bei den Kreditzinsen weitergeben oder wenn die durchschnittlichen Langfristzinsen relativ zu den kurzfristigen steigen, dann steigert dies das BIP, legte Eichmann dar. Bürger und Staat zahlen dann mehr Zinsen an die Banken und können sich weniger leisten, aber die Statistik misst absurderweise einen gestiegenen Konsum. Für die offizielle Statistik hat die Finanzbranche also Leistung der Wirtschaft gesteigert.

„Der Finanzsektor in seinen verschiedenen Ausprägungen dreht sich letztlich um den Transfer von Geld“, kritisiert Assa die statistischen Normen. Geld aber sei kein Gut und keine Dienstleistung, sondern abstrakte Kaufkraft, mit der man Waren oder Dienstleistungen bezahlt. Geld könne man nicht konsumieren, es habe „keinen intrinsischen Wert“.

Auch Statistiker Eichmann deutete in seinem Resümee an, was er von der neuen Norm hält. „Das FISIM-Konzept ist für das Statistische Bundesamt rechtsverbindlich“, schreibt er, aber man möge bei der Interpretation der Ergebnisse vorsichtig sein.

In den ausführlichen Tabellen des Statistikamtes wird bis heute bei Größen wie dem privaten Verbrauch und den Einkommen separat ausgewiesen, wie viel davon aus FISIM besteht, also aus imaginären Bankdienstleistungen, die tatsächlich nur Kaufkraftentzug in Form von Zinsen sind. 2016 waren das beim privaten Konsum 27 Milliarden Euro, nicht ganz zwei Prozent. Und dies ist nur die Zinsmarge der Banken, die auf private Haushalte entfällt. Nicht eigens ausgewiesen sind die Dienstleistungen, die als Gegenwert der Gebühren und Provisionen der Finanzdienstleister unterstellt sind, sowie die Provisionen sonstiger Finanzinstitute und Immobilienmakler, bei denen auch nicht immer klar ist, ob sie aus gesamtwirtschaftlicher Sicht nicht doch eher reine Kosten und nicht etwa Gegenwert für eine produktive Leistung sind.

Ist es wert, was es kostet?

Die Unterstellung der Statistiker, dass alles, wofür Finanzinstitute Geld nehmen, automatisch auch eine gleichwertige volkswirtschaftliche Produktionsleistung zum Gegenstück hat, ist gewagt. Finanzdienstleister lassen sich auch für die Ermöglichung und Abwicklung spekulativer Geschäfte ohne Produktionswert für die Gesellschaft bezahlen. Die internationale Statistik-Koryphäe Michael Ward schrieb denn auch über die große Reform der internationalen Statistikempfehlungen von 1993, die die Finanzbranche produktiver werden lies: „Sie versäumte anzuerkennen, dass ökonomische Aktivitäten und Transaktionen, die auf individueller Ebene ‚profitabel‘ sind, nicht notwendigerweise auch einen gesellschaftlichen Wert erzeugen.“ Und der seinerzeitige Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), einer Art Bank der Notenbanken, stellte in einer empirischen Untersuchung 2012 fest, dass der Finanzsektor in den Industrieländern den Bereich bereits überschritten habe, in dem die Ausweitung seiner Tätigkeit noch produktiv ist:

„Bei niedrigen Niveaus bewirkt ein größerer Finanzsektor höhere Produktivität“, schrieb er. „Aber es gibt einen Punkt – einen, den viele fortgeschrittene Volkswirtschaften schon lange überschritten haben – ab dem mehr Banking und mehr Kredit mit geringerem Wachstum einhergeht.

Dazu passt, was Uno-Ökonom Assa ermittelt hat. Zwischen dem Anteil des Finanzsektors an der Beschäftigung und seinem Anteil an der Wertschöpfung besteht ein negativer Zusammenhang. Die Finanzbranche muss also, um ihre „Wertschöpfung“ kräftig auszuweiten, keine oder kaum zusätzliche Leute einstellen. Das mache sie einzigartig unter den Wirtschaftszweigen.

Verschiedene rätselhafte Phänomene werden weniger rätselhaft, wenn man weiß, woraus Konsum und Einkommen in der Statistik teilweise bestehen. Dazu gehören die Entkoppelung von Wachstum und Beschäftigung sowie jahrzehntelange Stagnation der Einkommen bis über die Mitte der Einkommensverteilung hinaus, trotz vermeintlich anständigen Wirtschaftswachstums.

Assa gibt den statistischen Beitrag des Finanzsektors in weiter Abgrenzung für die USA und Großbritannien mit 20 bis 30 Prozent an. Wenn dieser Sektor seine „Produktionsleistung“ ohne zusätzliche Beschäftigung ausweiten kann, ist das Phänomen des „joblosen Wachstums“ weniger rätselhaft. Würden die stark an der Spitze konzentrierten Einkommen dieses Sektors großteils als produktionsneutrale Transfers oder gar als reiner Kostenfaktor behandelt, dann wäre das gemessene BIP-Wachstum deutlich bescheidener. Und die schlechte Entwicklung unterer und mittlerer Einkommen wäre kein großes Rätsel mehr.

Auch zum Thema: Buchbesprechung: Die Macht der einen Zahl

[14.8.2017]

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