Eine aktueller Zusammenschnitt von 88 Kurzvideos aus sozialen Medien über die Zwangsmobilmachung in der Ukraine 2023/24, ist geeignet, die allgemeine Begeisterung der Ukrainer für europäische „Werte“ zu kämpfen, in Zweifel zu ziehen. Zu sehen ist Gewaltanwendung, Widerstand, Flucht und am Ende der 55-minütigen Dokumentation – vermutlich besonders wehrkraftzersetzend – TikTok-Videos junger tanzender Ukrainerinnen, die davon singen, dass sie nicht an die Front gehen, sondern lieber abhauen. Seit Mai werden in der Ukraine auch Frauen für den Kriegsdienst registriert.
Dokumentiert in der Videocollage „Menschenjagd“ sind viele (oft vereitelte) Versuche von Wehrpflichtigen, sich durch körperlichen Widerstand oder gefährliche Flucht ins Ausland dem Kriegsdienst zu entziehen. Offizielle Stellen bestätigen, dass sich bis zu 600.000 Wehrpfllichtige in der EU und davon über 200.000 in Deutschland aufhalten.
Zensur als Lösung?
Der ukrainischen Regierung zufolge, handelt es sich bei den Videoclips wie sie in der Collage „Menschenjagd“ zu sehen sind, um von Russland produzierte Propagandawerke. Die Nachrichtenagentur RBC-Ukraine berichtet, dass der Leiter des – ziemlich ironisch benannten – Parlamentsausschusses für Meinungsfreiheit, Jaroslaw Jurtschyn, versichert habe, dass die ukrainische Regierung gezwungen sein werde, Beschränkungen für TikTok zu verhängen, wenn TikTok weiterhin Fälle von russischer Propaganda ignoriert. Die Ukraine habe Erfahrung mit der Sperrung von sozialen Netzwerken. Wenn die zuständigen ukrainischen Behörden es für notwendig erachteten, TikTok zu sperren, werde dies „ohne Rücksicht auf die Partner“ geschehen.
TikTok ist ein beliebtes Ziel der Zensoren, denn die Plattform stammt aus China, versammelt viele sehr junge Menschen und hat Musik zum Inhalt. Musik kann Botschaften mit Gefühlen verknüpfen, wie es täglich hunderte Werbespots versuchen. Wenn Musik eine „falsche“ Botschaft transportiert, wie die Sekundenvideos junger tanzender Frauen, die sich einer Wehrpflicht entziehen wollen, gilt das bei den Militärs als besonders schädlich. Sie sind praktisch überall die treibende Kraft hinter der um sich greifenden Zensur.
Nachtrag (24.6.): Tagesschau berichtet
In der Ausgabe von 23.26 Uhr der Tagesschau vom 23. Juni und auf Tagesschau.de berichtet Korrespondentin Rebecca Barth aus Kiew – relativ zurückhaltend, aber immerhin – über die Einberufungsmethoden. Aus dem Text:
„Die Wut auf die Einberufungsbehörde ist groß
Grund für die Angst vor der Einberufung sind unzählige Videos, die im Internet kursieren. Sie zeigen Männer in Uniformen, die Zivilisten brutal auf der Straße festnehmen und in Autos zerren.Oder Frauen, die versuchen ihre Söhne oder Ehemänner vor der Einberufung zu schützen. Auf einem Video ist eine ältere Frau mit buntem Kopftuch zu sehen. Verzweifelt drischt sie mit einer Stange auf das Auto der TZK-Mitarbeiter ein. Die Wut auf die Einberufungsbehörde ist groß. Daran konnte auch Präsident Wolodymyr Selenskyjs Entscheidung nichts ändern, verletzte Veteranen in der Behörde einzustellen.“
Mehr
Zur Rolle des Militärs bei der Internetzensur und zum digitalen Feudalismus, siehe auch mein Interview auf Gegenpol.