Auf den ersten und zweiten Blick ist der Fall der Saudi Arabierin spektakulärer. Die Strafe ist höher und sie erhielt sie für das unglaubliche Vergehen, sich dafür einzusetzen, dass Frauen Auto fahren dürfen, etwas, was – wie uns unsere Medien in großen Berichten nahegebracht haben – der Reformgigant Saudi Arabien schon lange beschlossen hat.
Demgegenüber hat sich die chinesische „Bürgerjournalistin“ immerhin mit der Staatsmacht angelegt, indem sie Videos und Kommentare aus dem damaligen Corona-Hotspot Wuhan auf westlichen sozialen Medien gepostet hat. Wir sind ja nun im Westen nicht mehr allzu weit davon entfernt, so etwas strafbar zu machen. Zensiert wird von den sozialen Medienplattformen schon alles, was „die staatliche Gesundheitspolitik stört“.
Ein unbequemer Fall von Menschenrechtsverletzung
Aber der Fall in Saudi Arabien ist halt ziemlich unbequem. Immerhin ist das ölreiche Land Hauptverbündeter des Westens im Nahen Osten. Es hat derzeit noch den Vorsitz der US-dominierten G20-Gruppe der wichtigsten Wirtschaftsnationen inne. Die Gruppe hat im Jahr 2020 unter saudi-arabischer Führerschaft ausgerechnet die Frauenpolitik und Frauenrechte zum Hauptthema gemacht. Einiges an Kontext, was die Tagesschau hätte berichten können.
Die Weltbank hat das gewürdigt, indem sie Saudi Arabien in ihrem Bericht „Women, Business and the Law 2020“ (Frauen, Wirtschaft und das Recht) zum besten Reformer und Verbesserer unter 190 Volkswirtschaften gekürt hat. In der Jubelmeldung der saudischen Botschaft in Washington dazu heißt es:
„Saudi-Arabien hat sich in sechs von acht Indikatoren, die in dem Bericht gemessen wurden, hervorragend verbessert: Mobilität, Arbeitsplatz, Heirat, Elternschaft, Unternehmertum und Rente. Dank eines mutigen Pakets von 12 Gesetzesreformen, die es umgesetzt hat, hat Saudi-Arabien das Leben von Frauen durch die Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Teilhabe erheblich verändert und die globale Wettbewerbsfähigkeit des Königreichs gestärkt. Issam Abu Sulaiman, der Regionaldirektor der Weltbank für den GCC, lobte die Leistung des Königreichs: „Saudi-Arabien ist im Grunde genommen zu einem der führenden Länder in der arabischen Welt geworden, was die Stärkung der Rolle der Frau angeht.“ (…) Das neue globale Ansehen des Königreichs, auf das der Bericht der Weltbank hinweist, ist ein Beleg für das Engagement der Führung, die wirtschaftlichen Möglichkeiten für alle Bürger, insbesondere für Frauen und Jugendliche, zu erweitern, wie es in der Vision 2030 dargelegt ist.
Kleine Fehltritte, wie die Zerstückelung eines kritischen, in den USA arbeitenden Journalisten in einer saudischen Botschaft, oder jetzt eine drakonische Freiheitsstrafe für eine Frau, die das Allerselbstverständlichste fordert, sind da unbequem und sollen offenbar nicht übermäßig betont werden. Sonst würde zu sehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geholt, dass der ach so menschenrechtsbewusste Westen sich ein mittelalterliches Regime als wichtigsten Verbündeten hält, in dem das Abhacken von Köpfen und Körperteilen an der Tagesordnung und das Wort Menschenrechte ein Haftgrund ist.
China ist nicht Saudi Arabien
Ganz anders der Fall der Frau aus China, die in den Überschriften der US-Medien verdächtig einheitlich „Citizen Journalist“ genannt wird und daher auch in der Tagesschau „Bürgerjournalistin“ heißen darf. Wenn man gegen die chinesische Regierung aktiv ist, hat man es offenbar wesentlich leichter, den Titel „Journalistin“ und das entsprechende Engagement der westlichen Medien zu erlangen, als wenn man Kriegsverbrechen der westlichen Militärs öffentlich macht, wie das Julian Assange getan hat. Dessen Menschenrechte sind nicht mal mitten in Europa einen Pfifferling und den großen Medien regelmäßige Berichte wert.
Der Bericht in der Tagesschau war ausführlich und mit (nichtssagenden) Handybildern aus Wuhan und Infos über die vermutete Interessenlage der chinesischen Regierung garniert. Aber er enthielt fast nichts über die Aktivistin. Wir erfahren nichts darüber, wer sie ist, was sie sonst macht, und ob sie auf eigene Rechnung und allein nach Wuhan reiste, um von dort zu berichten. Sie habe Unruhe gestiftet, ist laut Tagesschau Hauptanklagepunkt.
Wir bekommen absolut nichts um abzuwägen, ob es stimmen könnte, was die chinesische Regierung ihr anderen Berichten zufolge vorwirft, dass sie nämlich „eine große Menge Falschinformationen“ gepostet und unerlaubter Weise ausländischen Medien wie demUS-Sender Radio Freies Asien und der (sektiererisch-antikommunistischen) Epoch Times Interviews gegeben hat.
Laut Tagesschau soll sie auch über Korruption in chinesischen Behörden berichtet haben. Wenn man das tut, und es nicht belegen kann, bekommt man auch im Westen schnell Ärger mit der Staatsgewalt. Hier hätte man in einen so langen Bericht gern ein bisschen mehr erfahren. Immerhin ist es ja erheblich leichter, Handyvideos aus dem Alltag in Wuhan ins Internet zu stellen, als Korruptionsvorwürfe so gerichtsfest zu belelgen, dass man sie – auch im Westen – veröffentlichen dürfte, ohne großen Ärger zu bekommen. Immerhin droht BeamtenInnen in China bei Korruption die Todesstrafe. Das ist kein kleiner Vorwurf.
Das soll in keiner Weise heißen, dass es in Ordnung ist, dass diese Frau ins Gefängnis muss. Das ist es nach den Maßstäben offener, demokratischer Gesellschaften nicht, jedenfalls wenn sie keine bezahlte ausländische Agentin ist, was ihr offenbar nicht ausdrücklich vorgeworfen wird. Aber der Kontrast zwischen der jeweiligen Intensität der Repression und der Berichterstattung in unseren Medien ist doch sehr bemerkenswert.
Menschenrechte sind halt bei weitem nicht überall gleich wichtig und schützenswert. Selektive Berichterstattung und Empörung über Menschenrechtsverletzungen ist eine Waffe im geopolitischen Kampf um die öffentliche Meinung.