Wie berichtet, hatte die Stadtbücherei Münster auf zwei Werken aus ihrem Bestand den Hinweis angebracht, diese seien umstritten und eventuell nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar. Einer der betroffenen Autoren klagte auf Unterlassung per einstweiliger Anordnung. Er unterlag in erster Instanz, obsiegte dann aber vor dem Oberverwaltungsgericht Münster.
Die einstweilige Anordnung, die Hinweise zu entfernen, ist nicht anfechtbar. Die Stadtbücherei kann zwar in das Hauptsacheverfahren gehen. Die Aussichten stünden aber schlecht, da einstweilige Anordnungen nur erlassen werden, wenn die Aussichten auf Erfolg in einem Hauptsacheverfahren gut sind. Die nun veröffentlichte Begründung des Gerichts deutet ebenfalls nicht auf große Erfolgschancen für die Bibliothekare hin.
Polemische Gerichtsschelte
Nachdem das Oberverwaltungsgericht die schriftliche Begründung seines Beschlusses mit dem Aktenzeichen 5 B 451/25 veröffentlichte, haben die Bibliothekenvertretung Deutscher Bibliotheksverband (dbv) und die Bibliothekarsvereinigung Berufsverband Information Bibliothek (BIB) dazu kritisch bis polemisch Stellung genommen.
Der dbv lobt in seiner Stellungnahme ausdrücklich „die transparente und verantwortungsbewusste Vorgehensweise“, die die Stadtbücherei Münster im Umgang mit umstrittenen Werken entwickelt habe. Den Gerichtsbeschluss bezeichnet der Verband als „Rückschritt für die Entwicklung eines angemessenen rechtlichen Rahmens für die Arbeit von Bibliotheken“. Er sei widersprüchlich und werfe mehr Fragen auf als er kläre.
Die Landesgesetzgeber sollen dem abhelfen, indem sie klarstellen, dass der Auftrag der „Förderung der Medien- und Informationskompetenz“ das Recht der Bibliothekare beinhaltet, das Publikum vor den Inhalten von Büchern zu warnen, die sie für fragwürdig halten. Der Verband beruft sich darauf, dass „die neue Bundesregierung mit ihrem Koalitionsvertrag die Bekämpfung von Desinformation direkt adressiert [hat]“. Diese Passage hat unter dem Stichwort „Lügenverbot“ eine heftige gesellschaftliche Debatte ausgelöst.
Der Bibliotheksverband behauptet, durch Warnhinweise in Büchern werde „die kritische Auseinandersetzung mit Inhalten und die Fähigkeit zur Validierung von Informationen“ gefördert. Wenn Bibliothekare nicht untersuchen und festlegen dürften, was wahr und was falsch ist, dann sei „völlig unklar“, wie sie die Informationskompetenz fördern sollten. Er fordert daher von den Landesgesetzgebern ein „eindeutiges und robustes Mandat“, das es Bibliotheken erlaubt, „auf Desinformationen aufmerksam machen und medienkritische Kompetenzen fördern zu können“. Verantwortlich zeichnet der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Bibliotheksverbandes, Dr. Holger Krimmer, sogar mit Mailadresse und Telefonnummer.
Noch deutlich derber und politisch einseitiger fällt die Stellungnahme des BIB aus. Unter der Überschrift „Demokratie ist Haltung“, heißt es darin:
„Die Begründungen des Beschlusses des Oberverwaltungsgerichtes Münster vom 8. Juli 2025 sind ein Schlag ins Gesicht aller, die für Aufklärung und Medienkompetenz stehen; dem »Kulturkampf von rechts« wird hier der Weg geebnet.“
Dass der Hinweis „umstritten“ vom Gericht als Grundrechtsverletzung gewertet wird, bezeichnet der BIB als „grotesk“, das Verbot dieses Hinweises als „absurd“ und „gefährlich“. Dann wird aus umstritten in der Stellungnahme unvermittelt eindeutig falsch. Der Verband poltert nämlich: „Wer Bibliotheken zwingt, eindeutige Fake News unkommentiert ins Regal zu stellen, fördert Desinformationsfreiheit.“
Auch der BIB erinnert die Bundesregierung an den Koalitionsvertrag, in dem sie die Bekämpfung von Desinformation versprochen habe. Zusätzlich mahnt er die schwarz-grüne Landesregierung von NRW, ihren Koalitionsvertrag zu beachten. Darin stehe:
„Demokratie ist für uns mehr als formale demokratische Verfahren. Demokratie ist Haltung.“
Unterschrieben hat die BIB-Stellungnahme zuoberst dessen Demokratipolitischer Sprecher Tom Becker, darunter die BIB-Vorstandsvorsitzende Ute Engelkenmeier.
Die Urteilsbegründung
Wer nur die Stellungnahme der beiden Verbände liest und nicht die Urteilsbegründung selbst, dem entgeht Einiges. So urteilt das Gericht keinesfalls so legalistisch, wie es der Verband erscheinen lässt, sondern erklärt ausdrücklich:
„Der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass sich mündige Staatsbürger in öffentlichen Bibliotheken mit Informationen versorgen, um sich – ohne insoweit gelenkt zu werden – eine eigene Meinung zu bilden.“
Das Gericht bewertet den Warnhinweis als „abwertend und anprangernd“. Dem unmittelbar an die Grundrechte gebundenen Staat verbiete es das allgemeine Persönlichkeitsrecht sich ohne rechtfertigenden Grund herabsetzend über einen Bürger zu äußern. Außerdem sei vermutlich die Pressefreiheit tangiert, wenn staatlicherseits vor der Aufnahme der Meinung eines Autors gewarnt werde.
Das Gericht spricht dezent den Verdacht der politischen Einseitigkeit an, wenn es schreibt, dass die von der Leiterin der Stadtbibliothek dem Gericht übermittelten Kriterien zur Auswahl entsprechend „einzuordnender“ Medien, „ausschließlich den ‚rechten Rand‘ im politischen Spektrum in den Blick nehmen“.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk springt bei
Auf SWR Kultur kommt die Leiterin der Stadtbücherei Münster, Cornelia Gladrow, zu Wort. Sie droht an, ihre Bücherei „und vermutlich viele andere Bibliotheken“ würden neue Wege finden müssen, wie sie mit umstrittenen Büchern umgehen und dabei die Werte einer demokratischen Verfassung „aktiv vermitteln“.
Und die Vorsitzende des Verbands der Bibliotheken des Landes Nordrhein-Westfalen, Heike Pflugner, sagt den sehr problematischen Satz: „Bibliotheken stehen dafür, dass das, was wir anbieten, verlässliche Quellen sind. Dass das, was bei uns drinsteht, auch richtig ist.“ Indem sie das sicherstelle, meint Pfluger, die auch Leiterin der Stadtbibliothek Solingen ist, die wichtigste Rolle der Bibliotheken, „die Demokratieförderung“ zu erfüllen.
Dabei kann man ein Demokratieverständnis, demzufolge staatliche Einrichtungen festlegen, was wahr ist und was Desinformation oder Verschwörungstheorie, durchaus antidemokratisch oder totalitär nennen. Plfuger fordert wie der Bundesverband eine rechtliche Klarstellung, damit man im Zweifel auch argumentieren könne: „Solche Bücher gehören gar nicht erst in den Bestand“.
SWR-Kultur manipuliert seine Leser schon im Vorspann des Artikels, indem der Sender schreibt, das Gericht habe entschieden, dass die Stadtbibliothek Münster „Warnhinweise zu verschwörungsideologischen Büchern“ entfernen müsse. Dieser Einordnung mögen viele beim Buch des klagenden Gerhard Wisnewski „2024 – das andere Jahrbuch: verheimlicht, vertuscht, vergessen“ noch zustimmen.
Aber beim zweiten betroffenen Buch von Jacques Baud über den Russland-Ukraine-Krieg wird das doch sehr fragwürdig. Immerhin heißt es in der Empfehlung des bibliothekarischen Besprechungsdienstes, auf die sich die Stadtbücherei Münster für ihren Warnhinweis berufen hat:
„J. Baud analysiert Medien aus verschiedenen Ländern in Bezug auf ihre Berichte über den Krieg in der Ukraine. Er prüft Zitate, vergleicht Quellen und führt Belege an, die auf unseriösen Journalismus hindeuten. Sein sachlicher Blick unterscheidet sich von vielen anderen Publikationen.“
Dann desinformiert die SWR-Autorin noch mit der Behauptung: „Das Oberverwaltungsgericht urteilte jedoch: Wenn eine Bibliothek ein Buch nicht vertreten wolle, solle sie es gar nicht erst anschaffen.“ Das hat das Gericht jedoch nicht getan. Es schrieb: „Auch wenn es Bibliotheken freistehen mag, aufgrund sachlicher Kriterien eine Anschaffung bestimmter Werke zu unterlassen …“. Es hat damit nur die Möglichkeit in den Raum gestellt, dass die Bibliothek so handeln könnte, sich aber nicht mit der Zulässigkeit befasst, weil es darauf für die einstweilige Anordnung nicht ankam. Sonst hätte das Gericht geschrieben: „Auch wenn es Bibliotheken freisteht …“.
Bewertung der Stellungnahmen
Die Münsteraner Bibliothekare und die Verbandsfunktionäre nehmen für sich in Anspruch, die Demokratie zu fördern und zu verteidigen, indem sie Bibliotheksnutzern sagen, welchen Autoren gegenüber sie besonders misstrauisch sein sollen. Tatsächlich sind ihre Haltung, ihre Gerichtsschelte und ihre Argumentation antidemokratisch. Jedenfalls wenn man Meinungspluralität und freie wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Diskussion als unverzichtbaren Wesensbestandteil der Demokratie ansieht, wie es unter anderem unser Grundgesetz tut.
Dann nämlich verbietet es sich für staatliche Einrichtungen, und das sind die öffentlichen Bibliotheken, festlegen zu wollen, was wahr ist und was falsch, welche Meinungen gutzuheißen sind und welche minderwertig oder gefährlich.
Eher nicht demokratiefördernd ist es auch, wenn Verbände öffentlich rechtlicher Einrichtungen und Staatsangestellter ein oberstes Landesgericht unter manipulativer Auslassung von dessen wichtigstem Argument der widersprüchlichen Argumentation und der Rückschrittlichkeit bezichtigen und dessen beschloss als grotesk, absurd und gefährlich bezeichnen. Beide Verbände unterschlagen, dass das Gericht argumentiert und belegt, dass der Gesetzgeber gerade nicht wollte, dass die Bibliothekskunden bei der Aufnahme von Argumenten aus dem Bücherbestand (staatlich) gelenkt werden.
Nur durch diese Unterschlagung kann der dbv so tun, als interpretiere das Gericht das Kulturgesetzbuch NRW zu eng und legalistisch. Nur so können sich die Verbände darum drücken, auf dieses kraftvolle Argument des Gerichts einzugehen. Nur so können sie dem Landesgesetzgeber antragen, eine angebliche Gesetzeslücke zu schließen. Stattdessen müssten sie vom Gesetzgeber fordern, das Gegenteil dessen zu verfügen, was er früher wollte. Das geht auch, doch ist es wesentlich schwerer, eine solche Forderung zu begründen und durchzusetzen.
Verband empfiehlt weiter verbotene „Kontextualisierung“
Die Bibliothekare missachten das Gericht nicht nur argumentativ. Der BiB betreibt mit dem dbv eine Lektoratskooperation für Bibliotheken und in deren Rahmen seit 2019 eine Arbeitsgruppe „Medien an den Rändern“. Diese will Bibliothekaren helfen „umstrittene Themen, Titel, Verlage und Autor*innen besser einordnen zu können und sich somit sowohl in Debatten vor Ort aber auch bei Kaufentscheidungen gezielt positionieren zu können“.
Die Arbeitsgruppe hat auf das Gerichtsurteil mit rein kosmetischen Änderungen reagiert. So hat sie bei der Eigenpräsentation auf der Netzseite den Satz ganz nach vorne gezogen: „‚Medien an den Rändern‘ thematisiert nicht nur (politische) Literatur am rechten Rand“. Das geschah wohl in Reaktion auf die Feststellung des Gerichts, dass ausschließlich Medien vom rechten Rand in den Blick genommen würden. Weiter unten scheinen dann aber doch die wahren ideologischen Farben deutlich auf. Dort wird die Zwischenüberschrift „Fachdiskussion“ immer noch mit der Präzisierung „Umgang mit rechten Werken“ ergänzt.
Und dort wird dem Fachpublikum in den Bibliotheken immer noch der Ansatz der „engen Kontextualisierung“ per Umstritten-Hinweis oder Beipackzettel vorgestellt, ohne jeden Hinweis darauf, das dieser Eingriff mindestens in NRW höchstrichterlich verboten ist.
Unter „Weiterführende Literatur“ haben die Verantwortlichen der Arbeitsgruppe viele der Aufsätze mit Titeln wie „Für Menschenrechte gegen rechtspopulistische Tendenzen“ oder „Wer darf lesen, was Rechte denken?“ entfernt. Diese hatten bis Mai dafür gesorgt, dass die Liste sehr stark von Texten zum Umgang mit „rechtspopulistischer Literatur“ dominiert wurde. Ich hatte bei meiner Berichterstattung darauf hingewiesen, dass relevante Wortkombinationen mit „rechts“ in den aufgeführten Titeln 14 mal vorkamen, Kombinationen mit „links“ dagegen kein einziges Mal. Wen wollen die Bibliothekare mit solchen kosmetischen Änderungen hinsichtlich ihrer ausgeprägt einseitigen politischen Haltung zum Narren halten?
Verbände wurden umgedreht
Ersetzt wurden die entfernten Aufsätze in den Literaturempfehlungen unter anderem durch „Ethische Grundsätze“ des Dachverbands der Bibliotheken- und Bibliothekarsverbände BID aus dem Jahr 2017. Darin liest man voller Erstaunen sehr kämpferische Sätze zur Verteidigung der Meinungsfreiheit und der selbständigen Information der Nutzer, wie sie vom Oberverwaltungsgericht Münster stammen könnten.
Was seither passiert sein könnte, dass die Bibliothekare sich heute gegen solche Ansinnen vor Gericht wehren, deutet ein „BID-Positionspapier zum bibliothekarischen Umgang mit umstrittenen Werken“ aus dem Jahr 2016 an. Auch dort ist mit keinem Wort von Einordnung oder „Kontextualisierung“ umstrittener Werke die Rede. Stattdessen sah man „die Kernaufgabe von Bibliotheken“ damals noch darin, “ freien Zugang zu Informationen – ein breites Spektrum an Wissen, Ideen, medialen Inhalten und Meinungen – anzubieten, auch wenn diese für einzelne Personen oder gesellschaftliche Gruppen inakzeptabel erscheinen.“ Von Demokratieförderung hatte man damals noch eine ganz andere Vorstellung:
„Im Einklang mit den Grundrechten unterstreichen die bibliothekarischen Verbände die herausgehobene Funktion von Bibliotheken für das Entstehen von Meinungsvielfalt, für den Prozess der Meinungsbildung und die Eröffnung des freien Zugangs zu Informationen. Bibliotheken tragen dadurch sowohl zur persönlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Teilhabe des Einzelnen als auch zur kulturellen und allgemeinen Bildung und zur Festigung demokratischer Strukturen in der Gesellschaft bei. Bibliotheken helfen dadurch, demokratische Werte zu schützen.“
In der Begründung seiner Stellungnahme warnte der Verband damals eindringlich vor zunehmendem politischen Druck auf die Bibliotheken im Hinblick auf Bücher mit kontroversen Positionen:
„Mitgliedsbibliotheken berichten, dass zunehmend einzelne Bürgerinnen und Bürger, aber auch Vertreter von Politik und Verwaltung versuchen, Einfluss auf das Medienangebot von Bibliotheken zu nehmen, indem sie das Entfernen von Titeln aus dem Bestand forVerbandsfunktionärendern oder Verbote aussprechen, für die keine rechtliche Grundlage besteht. Die bibliothekarischen Verbände zeigen sich besorgt über diese Entwicklung, die zur Einschränkung der Informations- und Meinungsfreiheit führen kann.“
Man muss wohl feststellen, dass der Druck von Politik und Verwaltung auf die Bibliotheken letztlich gefruchtet hat. Ab 2018 gab es ja einen groß angelegten Angriff auf die Meinungsfreiheit. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz wurde erlassen, gefolgt vom Digitale-Dienste-Gesetz auf europäischer Ebene. Staatlich geprüfte Hinweisgeber dürfen inzwischen von Medienplattformen Löschungen oder das Ausbremsen der Verbreitung nicht genehmer Meinungen und Informationen verlangen. Kein Wunder, dass öffentliche Bibliotheken, die viel direkter dem staatlichen Einfluss unterliegen als private Medienplattformen, sich diesem Druck nicht entziehen können.
Die Rolle von Tom Becker
Erwähnt sei in dem Zusammenhang, dass zusammen mit den kosmetischen Änderungen an der Netzseite der Arbeitsgruppe „Medien an den Rändern“ die Vorstellung von deren Initiator, Tom Becker, korrigiert wurde. Hieß es bis Mai noch: „Tom Becker hat eine Professur für Medienmanagement und Medienvermittlung an der TH Köln und ist im BIB Bundesvorstand“, liest man dort heute, dass er seine Professur und seine Mitgliedschaft im Bundesvorstand des BIB nur bis 2021 innehatte. Becker kandidierte 2021 nicht mehr für den Vorstand, behielt aber die Position des Demokratiepolitischen Sprechers. Man kann das wohl die Rolle eines politischen Kommissars oder Aufpassers nennen. Gewählt wurde er in dieses Amt nicht, jedenfalls nicht von den Mitgliedern.
Mit dem mutmaßlich von Becker initiierten Demokratiepolitischen Positionspapier des BIB von 2019 schaffte er es, die Position des Verbands zum Umgang mit kontroversen Büchern umzudrehen. In dem Papier heißt es (mit fehlerhafter Grammatik):
„Durch Äußerungen von Vertreter/-innen nationalistischer Parteien, verfassungsfeindlicher Bewegungen oder populistischen Strömungen stellen wir fest, dass Grundwerte unserer Berufsethik betroffen sind. (…) Wir nehmen eine Verzerrung von Wahrheiten oder gar die Leugnung von wissenschaftlich bewiesenen Fakten nicht hin. (…) Und daher sagen wir als Berufsverband deutlich: bei uns ist kein Platz für Extremismus.“
Nach diesem Erfolg und der Gründung der von ihm in die Wege geleiteten Arbeitsgruppe „Medien an den Rändern“, wurde Becker 2021 Direktor der Stadtbibliothek Hannover.
In einer Pressemitteilung von August 2024 zur erneuten Veröffentlichung dieses Positionspapiers positionierte der Demokratiepolitische Sprecher seinen offenbar wehrlosen Verband offen parteipolitisch zugunsten der etablierten Parteien. Er warf als erstes der damals in den Umfragen hoch stehenden Partei BSW, der ich inzwischen angehöre, mit dürftigsten Belegen ein antisemitisches Wahlprogramm vor. Denn dort würden die „übermächtigen Finanzkonzerne und übergriffigen Digitalmonopolisten“ kritisiert, weil sie die Demokratie zerstörten. Danach bekamen Islamkritiker und anschließend die AfD ihr Fett weg. Am Ende steht ein ausdrückliche Absage an politische Neutralität:
„Angriffe auf unsere Werte nehmen wir nicht hin. Wir gehen an die Öffentlichkeit und erheben unsere Stimme. Politische Neutralität ist in solchen Momenten keine Option.“
Einordnung und Ausblick
Die Bedeutung des Streits um die Warnhinweise liegt nicht darin, ob diese weiterhin angebracht werden oder nicht. Viele kritische Geister hätten solche Warnhinweise ohnehin als Leseempfehlungen aufgefasst. Das Besorgniserregende liegt darin, dass die Bibliotheksverbände nach 2017 umgedreht wurden und nun eine offenkundig politisch sehr einseitige und antipluralistische Fraktion die Haltung der Verbände dominiert. Das ist ein weiteres Beispiel für die Bedeutung von Verbandsfunktionären bei der gesellschaftlichen Gleichrichtung im Sinne der Regierung, oft entgegen der Präferenzen einer Mehrheit der Mitglieder. Das konnte man auch während der Corona-Zeit vielfach beobachten.
Die neue Verbandslinie lässt befürchten, dass die Bibliotheken immer weniger ihrem öffentlichen Auftrag nachkommen werden, für einen ausgewogenen, pluralen Bücherbestand zu sorgen, der gesellschaftliche Diskussionen abbildet und damit die Bürger bei der freien und umfassend informierten Meinungsbildung unterstützt. Während man gegen Warnhinweise klagen kann, ist es sehr schwer, gerichtlich gegen eine einseitige und lückenhafte Beschaffungspolitik von Bibliotheken vorzugehen.
Eigentlich sollte das, was man in den USA beobachtet, Warnung genug sein. Dort wurde Meinungs- und Informationsunterdrückung betrieben, um einen Präsidenten Trump zu verhindern oder einzuhegen. Das hat zu einer starken Polarisierung der Gesellschaft beigetragen. Und nun revanchiert sich Trump, indem er seinerseits ihm nicht genehme Meinungen rabiat unterdrückt.
Nichts schützt die Bibliotheken und Bibliothekare davor, dass diejenigen, gegen die sie heute ihr volkserzieherisches Engagement richten, morgen an die Regierung kommen. Ihr Tun trägt eher noch dazu bei. Dann könnten sie es bereuen, dass sie selbst pluralistische Grundsätze des Bibliothekswesens über Bord geworfen haben.