„Die Welt“ bewirbt sich um den Preis für die dreisteste pseudo-ökonomische Lesertäuschung des Jahres

18. 10. 2016 Das Arbeitgeberinstitut IW hat am Dienstag einen etwas einseitigen, aber harmlosen und sachlich korrekten Kurzbericht zur Wettbewerbsfähigkeit mit dem Titel „Auf die Kosten kommt es an“ veröffentlicht. Gemeinsam mit der Welt wird daraus in einer groß aufgemachten Vorabberichterstattung ein ökonomisch abseitiges und vor sinnentstellenden Auslassungen strotzendes Plädoyer für niedrige Löhne.

Die Arbeitskosten seien in Deutschland das fünfte Jahr in Folge stärker als im Durchschnitt der EU gestiegen, teilt das Institut der deutschen Wirtschaft in dem Dreiseiter „Auf die Kosten kommt es an“ gleich im ersten Satz des Vorspanns mit. Danach geht es nicht mehr um Arbeitskosten, sondern nur noch um die „Lohnstückkostenposition“, in die die Arbeitskosten zwar eingehen, die aber von Wechselkurseffekten dominiert wird. Zahlen zur Arbeitskostenentwicklung sucht man deshalb vergeblich. Gäbe es sie, würde man wohl feststellen, dass das leichte Überschießen des Eurozonen-Durchschnitts in den letzten fünf Jahren die massiven Unterschreitungen in den Jahren davor nicht annähernd wettgemacht hat.

Die harmlose und wenig überraschende Botschaft des IW-Artikelchens ist, dass sich größere langfristige Veränderungen der Kostenposition (unter Einschluss der Wechselkurseffekte) auf die Marktanteile im internationalen Handel auswirken. Dass ausgerechnet die sehr großen Länder USA und Japan zu den Ausnahmen gehören, wird nicht verschwiegen.

Abschreckendes Beispiel für Wirtschaftsjournalisten

Und was macht die Welt in Zusammenarbeit mit den immer wieder zitierten Experten des IW in ihrem Aufmacher des Wirtschaftsteils am Dienstag daraus? Einen Text (Kurzfassung online), den ich wegen der Dichte des Anschauungsmaterials allen Dozenten für VWL-Einführungskurse und für Wirtschaftsjournalismus als abschreckendes Beispiel anempfehlen möchte.

Es fängt an mit zwei Sätzen dazu, wie gut es Deutschland wirtschaftlich geht. Dann läutet gleich die Alarmglocke:

„Doch am Horizont ziehen Probleme auf, Probleme, die der deutschen Erfolgsgeschichte den Garaus machen könnten. Eine der Fehlentwicklungen sind aus dem Ruder laufende Lohnkosten.

Der Autor räumt immerhin noch ein, dass steigende Löhne nicht grundsätzlich etwas schlechtes sind. Sie müssten sich aber in Einklang mit der Produktivität entwickeln, behauptet er.

Das ist falsch. Wenn die Ausbringung je Arbeitsstunde z.B. um ein Prozent pro Jahr steigt und die Stundenlöhne ebenfalls, dann stagnieren die Lohnstückkosten. Dann wird die Inflationsrate langfristig bei etwa Null liegen, denn die Lohnentwicklung ist die Haupttriebkraft der Inflation, lässt man die unberechenbaren Wechselkurse einmal außen vor. Die Europäische Zentralbank strebt aber eine Inflationsrate von zwei Prozent an und wird daher einen solchen Zustand nicht hinnehmen, sondern mit geldpolitischen Mitteln versuchen, die Inflation und damit die Löhne stärker nach oben zu treiben. Als Leitlinie für die Löhne taugt allenfalls Produktivitätssteigerung plus angestrebte Inflationsrate.

Insofern ist die in alarmistischem Ton mitgelieferte Information, dass die Lohnstückkosten in sieben Jahren um 13 Prozent gestiegen seien, gänzlich ungeeignet, die Behauptung zu belegen, die Lohnkosten seien aus dem Ruder gelaufen. Die Steigerung von weniger als zwei Prozent pro Jahr entspricht kaum der angestrebten Inflationsrate, für den Produktivitätsfortschritt ist da noch nichts drin.

Dann kommt noch die absurde Feststellung, in der Euro-Zone gebe es nur ein großes Land, in dem die Lohnnebenkosten (gemeint sind die Lohnkosten) „ähnlich stark“ nach oben driften wie in Deutschland, und das sei Italien. Nun sind 18,7 Prozent nicht „ähnlich stark“ wie 13 Prozent, sondern 5,7 Prozentpunkte oder 44% mehr. Und dann gibt es ja nun einmal nur zwei Länder im Euroraum, die größenmäßig halbwegs in der gleichen Liga spielen wie Deutschland. Die fünf Prozentpunkte, die die Lohnstückkosten in Frankreich weniger gestiegen sind, werden als große Sache behandelt, obwohl der Abstand nach unten in Prozentpunkten tatsächlich geringer ist, als der zu Italien nach oben. Verschwiegen wird natürlich, dass die Verbesserung der französischen Kostenposition relativ zu Deutschland noch nicht einmal die Hälfe der Verschlechterung in den Jahren 1999 bis 2008 wettmachte (Abb 2, S. 475). Die Welt nimmt noch das mittelgroße Spanien mit in den Vergleich. Das ist ein Land in einer schweren Wirtschaftskrise, in dem ein Fünftel der Erwerbsbevölkerung und fast die Hälfte der jugendlichen Erwerbsbevölkerung arbeitslos sind, und in dem die Lohnstückkosten den deutschen vorher noch viel stärker davongeeilt waren als in Frankreich. Der Vergleich hinkt nicht nur, er ist in der von der Welt präsentierten Verkürzung völlig unzulässig.

Der Elefant im Raum wird ignoriert

Das führt direkt zu dem Elefanten im Raum, dessen Anwesenheit der Welt-Artikel angestrengt ignoriert: dem exorbitanten Exportüberschuss Deutschlands, der jegliches Gejammer über fehlende oder sinkende Wettbewerbsfähigkeit eigentlich auf den ersten Laienblick schon ad Absurdum führt. Der Überschuss der deutschen Einnahmen aus dem Ausland über die Ausgaben (Leistungsbilanzsaldo) ist mit 8,5 Prozent der Wirtschaftsleistung bereits weit oberhalb dessen, was in der EU als noch gemeinschaftsverträglich gilt. Das sind nämlich nur sechs Prozent, und selbst dieses Limit wurde nur für Deutschland und auf deutschen Druck so hoch angesetzt.

So lügt man mit Schaubildern

Die Haupt-Grafik, die die Zeitung (nur in der Printausgabe und im IW-Artikel) zum Beleg ihrer windigen Thesen anbietet, zeigt unter der unheilschwangeren Überschrift „Deutschlands Exporten droht Ungemach“ die Entwicklung der „Lohnstückkostenposition“ und der „Exportperformance“ von 1991 bis 2014. Beides sind ziemlich spezielle Kreaturen, die nicht erklärt werden. (Warum unter anderem das amerikanische Bureau of Labor Statistics als Quelle genannt wird, erschließt sich dem Leser nicht ohne weiteres. Eigentliche Quelle ist offenkundig das IW. Entsprechend sind wohl auch die „eigenen Berechnungen“ vom IW und nicht von der Zeitung, wie es die Quellenangabe behauptet. Aber das sind lässliche Sünden und wohl keine Absicht.)

Man sieht in der Grafik eine im Trend deutlich steigenden Lohnstückkostenposition und eine seit einiger Zeit steigende Exportperformance, die aber 2014 noch unter dem Ausgangsniveau von 1991 liegt. Hätte man die Grafik, wie es sich eigentlich aufdrängen würde, frühestens mit Beginn der Währungsunion anfangen lassen, würde die Lohnstückkostenposition einen leichten Abwärtstrend aufweisen und die Exportperformance einen deutlich steigenden.

Was aber sind diese in Grafik und Artikel unerklärten Größen. Die Lohnstückkostenposition sind nach den eher vagen Angaben des IW wohl die Lohnstückkosten korrigiert um Wechselkursänderungen. Da die Wechselkurse der D-Mark und des Euro im Zeitraum von 1991 bis 2014 sehr stark schwankten, wird diese Linie von den Wechselkursen dominiert, und bildet nicht etwa vor allem die Lohnentwicklung ab, wie die Welt durch Auslassung glauben machen will.

Die Exportperformance ist nicht etwa das, was der Laie damit assoziieren würde, also die Entwicklung der Exporte. Vielmehr ist es – lose gesprochen – die Entwicklung der deutschen Exporte, die sich ergeben hätte, wenn China nicht zu einem der größten Abnehmerländer geworden wäre, sondern der unbedeutende Handelspartner geblieben wäre, der es 1991 noch war.

Zurück auf D-Mark-Niveau?

Der Zeitungsartikel heißt etwas geheimnisvoll „Zurück auf D-Mark-Niveau“. Im Vorspann wird das erklärt mit „Bald schon könnten die Exporte wieder so teuer werden wie in den 90er Jahren. Ökonomen schlagen Alarm.“ Im Text heißt es zur Erläuterung:

„Die Produktion in Deutschland hat so zugelegt, dass die Exporte bald schon wieder so teuer werden wie zu D-Mark-Zeiten. In den 90er Jahren litten die deutschen Ausfuhrunternehmen zunehmend unter der starken Aufwertung der Landeswährung. Eine Folge davon war die Auslagerung von Produktionsstätten nach Osteuropa und Übersee.

Die Auslagerung von Produktion nach Osteuropa hatte ja wohl viel mehr mit der EU-Osterweiterung zu tun, als mit der deutschen Kostenentwicklung, aber das nur am Rande.

Die kryptischen Sätze schließen an die Ausführungen zu den Lohnstückkosten an, sodass man annehmen könnte, dass Lohnstückkosten gemeint sind, statt der offenkundig nicht wirklich gemeinten „Produktion“. Ein Blick auf die Grafik und der Hinweis auf die damaligen Aufwertungseffekte machen aber eher wahrscheinlich, dass die (nicht erklärte) Lohnstückkostenposition der Maßstab für die steile These ist. Die „Lohnstückkostenposition“ hatte nämlich ausweislich der Grafik Ende 2014 mit 121 wieder ein ähnliches Niveau erreicht wie Ende der 1990er mit etwa 128.

Dumm nur, dass zwischen 1999 und 2014 immerhin 15 Jahre Preissteigerung liegen. Wenn die Exportgüter in Preisen von 2014 nur „fast so teuer“ zu produzieren sind, wie in Preisen von 1999, dann ist das kein Ausweis von drohendem Ungemach für die Exporteure, sondern im Gegenteil eine Erklärung für ihren exorbitanten, den Zusammenhalt des Euroraums zunehmend gefährdenden Erfolg.

Im Rest des Artikels dürfen dann Arbeitgeberverbände ausführlich zur Lohnmäßigung auffordern und vom Staat die offenbar dringend benötigten „standortstärkenden“ Subventionen erbitten, etwa für Forschung und Entwicklung.

Man fragt sich unweigerlich: Wer soll eine Zeitung, die mit so etwas ihren Wirtschaftsteil aufmacht, als Informationsmedium noch ernst nehmen?

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