Es ist dies nicht das einzige Projekt der automatisierten Überwachung der Bürger, das die Wiener Stadtverwaltung einführen will, die sich in der Corona-Zeit durch besondere Maßnahmenradikalität hervorgetan hat.
Ein anderes Projekt ist die Verkehrsbegrenzung in der Innenstadt. Um automatisiert steuern zu können, wer wohin einfahren darf, sollen an allen Einfahrten in die Innenstadt Kameras mit Kennzeichenerkennung angebracht werden. Die Stadt hat beim Verkehrsministerium eine Änderung der Straßenverkehrsordnung beantragt, um diese Überwachung möglich zu machen.
Zurück zum Öko-Sozialpunkteplan. Mit Tweet vom 6. März hat die Stadt den Neustart des Kultur-Token-Projekts für das laufende erste Halbjahr 2023 angekündigt:
„Corona hat für eine Unterbrechung gesorgt. In diesem Jahr geht es aber weiter mit der Pilot- und Evaluationsphase. Wir halten euch in jedem Fall auf dem Laufenden“
Die Stadt beschreibt und preist ihr „Pilotprojekt mit wissenschaftlicher Begleitung“ so:
„Weltweit 1. Kultur-Token. Der Kultur-Token ist ein digitales Bonus-System, das mit einer Smartphone-App umweltbewusstes Verhalten mit kostenlosem Zugang zu Kultur-Veranstaltungen belohnt. Konkret wird in der 1. Version für die aktive Verringerung von CO2 durch Gehen, Radfahren sowie Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ein virtueller Token erzeugt.“
Das ist mit Totalüberwachung der individuellen Mobilität verbunden, wie es sich für ein „Smart-City-Projekt“ wie dieses gehört:
„Mittels Motion-Tracking, das heißt dem Aufzeichnen von Bewegungsdaten, misst die Kultur-Token-App aktiv zurückgelegte Wege. Sie erkennt automatisch, ob Sie zu Fuß gehen, mit dem Rad fahren oder öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Die App berechnet dann anhand von Daten des Umweltministeriums, wieviel CO2 Sie im Vergleich zu einer normalen Autofahrt eingespart haben.“
Das die Voraussetzungen nicht stimmen, scheint die Stadt nicht zu stören. Die Alternative zu einem Spaziergang im Park oder einer Fahrradtour ist nicht die Autofahrt. Dieses Problem lässt sich kaum lösen, aber wenn es einem nur darum geht, einen Vorwand zu finden, die Bürger zu überwachen und ihr Verhalten feinzusteuern, macht das nichts. Man will sich auch explizit nicht an der Möglichkeit stören, dass jemand sein Smartphone dem Gassigehenden Familienmitglied oder Nachbarn mitgibt. Wie viele Smartphones wird wohl der Sportradler jedes mal mit auf seine lange Tour nehmen dürfen? Man darf sich sicher sein, dass dieses Problem, wenn der Kultur-Token einmal fest etabliert ist, durch verstärkte Überwachung gelöst wird. Dann muss man sich eben zusätzlich biometrisch identifizieren. Ist bei Smartphones ja eh schon fast Standard.
Bei Verkehr und Kultur soll es nicht bleiben. Vielmehr soll das Projekt den Einstieg in ein vielschichtiges Wien-Token darstellen, ein Prämienmodell, das umfassend Wohlverhalten im Sinne der Bürokraten belohnt, und dafür natürlich das gesamte Verhalten überwacht. Man nennt so etwas ein Sozialpunktesystem, mit dem die Bürger automatisiert ferngesteuert werden sollen.
Wolfie Christl, Netzaktivist und Leiter des Forschungsinstituts Cracked Labs kommentiert die Ankündigung der Stadt auf Twitter so:
„Ich bin dafür, diese vor Jahren gestarteten seltsamen Blockchain/Crypto-Projekte der Stadt Wien so tief als möglich zu begraben, insbesondere das sogenannte „Kultur-Token“. Ernsthaft, das Ding ist fehlgeleitet, peinlich, eine Schnapsidee, hat null mit gemeinwohlorientierter Digitalisierung zu tun. Ich verzeihe der Stadt Wien, vor Jahren auf die Hype-Verkäufer reingefallen zu sein, aber jetzt is echt genug. Das gehört eingestampft (und aufgearbeitet). Es gäbe jede Menge sinnvoller „Anreiz“-Mechanismen, die ökologische Fortbewegung in der Stadt strukturell fördern bzw unnötigen motorisierten Individualverkehr zurückdrängen können. Die Normalisierung des Zugriffs auf individuelle Verhaltens- und Bewegungsdaten gehört nicht dazu.“
Ich selbst hatte das perfide Projekt in meinem ersten Bericht über den Kultur-Token und ein ähnliches Projekt in Rom so kommentiert:
„Es ist ein bedenkliches Menschen- und Gesellschaftsbild der Verantwortlichen, das sich offenbart, wenn sie es für einen Dienst am Stadtvolk halten, Bürger dafür zu bezahlen, dass sie sich auf Schritt und Tritt überwachen lassen, nur um einen absehbar sehr schlecht funktionierenden – wahrscheinlich auch nur vorgeschobenen – Anreiz zu umweltbewusstem Verkehrsverhalten zu setzen. Für die Manager des Silicon Valley und die mit diesen verbandelten Digitalisierungsfreaks in der öffentlichen Verwaltung ist es leider typisch.“