2.11. 2020 | Hören | Daten statt Wahlen, entmündigte Bürger, denen jede Entscheidung abgenommen wird. So sieht nach einer Leitlinien-Broschüre des einstmaligen Bundesministeriums für Umwelt und Bau die Smart-City-Vision für unsere Zukunft aus. Das Heimatministerium von Horst Seehofer, heute zuständig für Bau, führt die Digitalisierungsagenda auf Basis dieser Leitlinien weiter. Sieht so Heimat aus?
Smart Cities sind mit Sensoren, Mikrofonen und Kameras vollgestopfte städtische Räume, die massenhaft Daten liefern, die von Computeralgorithmen ausgewertet und für effiziente Steuerung aller wichtigen Abläufe in der Stadt genutzt werden. Wenn Sie Titel und Vorspann dieses Beitrags einmal vergessen würden, sie würden nie darauf kommen, dass der Herausgeber der Broschüre „Smart City Charta“ ein Bundesministerium ist. Denn diese Broschüre enthält einige Leitlinien und Beschreibungen von anzustrebenden Zukunftsszenarien, die normalen Menschen Angst oder Wut einflößen. (Mein Dank geht an Jens Happel für den Hinweis auf den bemerkenswerten Inhalt dieser Broschüre.)
- Künstliche Intelligenz ersetzt Wahl: Wir müssen uns nie entscheiden, einen bestimmten Bus oder Zug zu nehmen, sondern bekommen den schnellsten Weg von A nach B.
- Verhaltensbezogene Daten können Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem ersetzen. Da wir genau wissen, was Leute tun und möchten, gibt es weniger Bedarf an Wahlen, Mehrheitsfindungen oder Abstimmungen.
- Durch „People-Public-Private-Partnerships“ kann in der Smart City 2.0 eine neue Form von Politik und Entscheidungsfindung entstehen.
- Vielleicht wird Privateigentum ein Luxus. Daten könnten Geld als Währung ergänzen oder ersetzen.
- Ein Markt übermittelt nur, dass eine Person dies oder das gekauft hat; wir wissen aber nicht warum. Künftig können Sensoren uns bessere Daten als Märkte liefern.
Das ist aus einer Rede des Keynote-Speakers Roope Mokka vom Privatunternehmen Demos Helsinki, eine Rede, die in der Broschüre prominent und widerspruchslos abgedruckt ist. Oder das:
- Das Gold der Zukunft sind die Daten selbst, dann können Steuern sogar eingestellt werden. Das öffentliche Wohl wird durch den Verkauf von Daten gesichert.
- Auf dem Arbeitsmarkt gibt es keine geregelten und dauerhaften Arbeitsverhältnisse mehr, denn Produktivitätssprünge der Digitalisierung sichern das Einkommen mit einem geregelten Grundeinkommen ab.
Das waren die Ergebnisse einer Arbeitsgruppe zur Datenökonomie, die in der Broschüre ebenfalls prominent präsentiert werden.
Zur digitalen Integration und Inklusion hat die Broschüre ein ungünstiges, ein „Worst-Case Szenario 2040“. Das sieht so aus:
- Bestimmten Personengruppen fehlt aus finanziellen Gründen der Zugang. Ebenfalls fehlt einem Anteil älterer Personen die Kompetenz und der Willen der neuesten Technologie zu folgen. Aus Ablehnung digitaler Integration halten sich „analoge Einsiedler“ aus dem digitalen Leben heraus und verlieren den Anschluss. Somit erhalten sie auch ein verringertes Angebot an Dienstleistungen.
Dem steht ein günstiges, ein Best-Case-Szenario gegenüber:
- Es gibt keine Pflicht zur Digitalisierung im eigenen Leben: So gibt es für die Nicht-Nutzer sowie für benachteiligte Gruppen analoge Ersatz- und digitale Helferstrukturen wie Paten- und Unterstützernetzwerke.
Aha. Nur einigen ältere Personen fehlten Kompetenz und Wille, „der neuesten Technologie zu folgen“, wie sich das eigentlich gehört. Diese schrägen Gestalten werden im ungünstigen Fall zu abgehängten analogen Einsiedlern. Im günstigsten Fall werden ihnen Inklusionsangebote gemacht, die ihre bedauerlichen geistigen Gebrechen teilweise ausgleichen helfen.
Außerdem finden sich im Best-Case-Szenario der digitalen Inklusion:
- Es gibt ein bedingungsloses Grundeinkommen. Arbeit kann von jedem Ort barrierefrei geleistet werden.
- Im Ländlichen Raum verbessern Telemedizin und Telelernen die Daseinsvorsorge.
Wunderbar: Statt Aufrechterhaltung der ärztlichen Versorgung und echter Bildung im ländlichen Raum, werden dessen Bewohner auf Behandlung und Lern-Berieselung aus dem Computer verwiesen.
Schon sonderbar, dass unser Heimatminister Horst Seehofer so etwas gut zu finden scheint, wie wir bald noch sehen werden. Ob er sich die bayerische und bundesdeutsche Heimat der Zukunft tatsächlich so vorstellt.
Natürlich fehlt es in den Leitlinien zur Entwicklung von Smart Cities nicht am Bekenntnis zum Datenschutz. Da heißt es vorne:
„Generell sollte das Prinzip der Datensparsamkeit, Sensibilität und Transparenz bei der Datenerfassung sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor gestärkt werden.
Aber an verschiedenen anderen Stellen in der Broschüre liest man dann das Gegenteil, etwa im Best-Case-Szenario auf Seite 55:
„Anstatt Datensparsamkeit wird Datenschutz durch verantwortungsvolles Handeln mit Daten definiert. Insbesondere herrschen Transparenz und Aufklärung über datenbasierte Entscheidungen und die genutzten Algorithmen.“
Statt Schutz der Privatsphäre soll man sich damit zufriedengeben, dass diejenigen, die unsere Daten haben, schon verantwortungsvoll damit umgehen werden, und dass sie uns informieren wie die Daten in ihre Entscheidungen einfließen. Oder diese Empfehlung auf Seite 47:
„Der Datenschutz sollte kontextbezogen angegangen werden: Es sollte koordiniert geklärt werden, in welchen Situationen Anonymisierung oder Pseudonymisierung von Daten sinnvoll sind.
Pseudonymisierung ist eine nur scheinbare Anonymisierung von Daten, die von jedem mit hinreichend großen Datensätzen relativ leicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Die Leitlinie klingt ganz und gar nicht nach konsequentem Datenschutz.
Smart Cities: Verheißung mit Pferdefuß
Ich will hier keine Abhandlung über Smart Cities schreiben, sondern nur einseitig und gekürzt die Passage aus Wikipedia zur Kritik an Smart Cities wiedergeben:
„Der Informationsarchitekt und Verfasser der Streitschrift Against the Smart City (2013) Adam Greenfield stellt die Smart City als einen „Markt dar, auf dem Technologiekonzerne ihre Produkte und Dienste verkaufen können“. Weitere Gefahren des leichtsinnigen Umgangs mit dem Etikett „Smart City“ im wirtschaftlichen Kontext zeigt Jens Libbe vom Deutschen Institut für Urbanistik auf: An der Einwirkung multinationaler Konzerne auf Städte erachtet er die Bemühungen nationaler Normungsorganisationen zur Durchsetzung von Standards der Smart City als problematisch: „Hier werden mehr oder weniger unverblümt Interessen global tätiger Konzerne verfolgt.“ Städte würden dabei allein als Marktplätze für Technologieanwendungen begriffen: […] „Die Intention der Implementierung scheinbar freiwilliger Standards droht dabei letztlich die Interessen der in den Städten lebenden Menschen zu verfehlen, zumal die breite Öffentlichkeit über diese Aktivitäten kaum Bescheid weiß.“
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass im Mai die Google Smart-City-Tochter Sidewalk Labs ihr milliardenschweres Prestigeprojekt aufgab, einen Stadtteil Torontos in eine sensorgespickte, von Algorithmen verwaltete Smart City zu verwandeln. Der Widerstand der Bevölkerung, die damit vorgeblich beglückt werden sollte, war einfach zu groß.
Im Hintergrund wird weitergemacht
Die oben zitierte Broschüre des im Veröffentlichungsjahr 2017 noch für Bau zuständigen Umweltministeriums mit den Leitlinien für Smart Cities in Deutschland wurde keinesfalls eingestampft, nachdem Horst Seehofer den Bau in das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat holte. Das Ministerium will weiterhin „Smart City Strategien und deren Umsetzung fördern“ und „Smart Cities gemeinsam im Dialog zwischen Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft gestalten“. Dabei wird auf der Netzseite des Ministeriums ausdrücklich auf die Smart-City-Charta verwiesen. Ob Horst Seehofer die Broschüre schon einmal gelesen hat?
BürgerInnen sind als Dialogpartner nicht erwähnt. Für die soll wohl die „Zivilgesellschaft“ sprechen. An der Smart City Charta haben von Seiten der „Zivilgesellschaft“ neben Gewerkschaften, Umweltschützern etc., die viele wohlklingende Floskeln beisteuern durften, auch mitgewirkt:
- „RESET – Smart Approaches to Sustainability“, eine intransparente internationale Organisation zur Förderung der Digitalisierung mit deutschem Ableger, die über Ihre Geldgeber nichts zu verraten scheint.
- Stiftung Digitale Chancen, finanziert unter anderem von AOL, Accenture (Cloud Computing), Telefonica und der Bundesregierung
- Stiftung neue Verantwortung (snv), eine unter anderem von Omidyar Network Open Society Foundations, Stiftung Mercator, Bosch Stiftung und Auswärtigem Amt finanzierte, transatlantisch orientierte Stiftung.
Mit dabei war natürlich auch Bitcom, der Verband der deutschen IT- und Telekommunikationsbranche.
Nicht mit dabei waren Datenschützer und ähnliche Bedenkenträger.
Die von diesen Gruppen erarbeiteten Leitlinien der oben vorgestellten Smart City Charta sollen laut Netzseite des Heimat-Ministeriums weiterhin umgesetzt werden:
„Mit der Smart City Charta legte die Dialogplattform 2017 Leitlinien und Empfehlungen vor, wie die digitale Transformation in den Kommunen nachhaltig und im Sinne einer integrierten Stadtentwicklung gestaltet werden kann. Die Orientierung an der Charta soll es den Kommunen ermöglichen, die Digitalisierung aktiv und zielgerichtet zu gestalten. Die Dialogplattform begleitet nun die Umsetzung und Fortentwicklung der Charta und erarbeitet vertiefte Leitlinien zu Datenstrategien für die Stadtentwicklung.
Für diese Umsetzung gibt es unter anderem einen jährlichen Smart City Dialog, bei dem dann zum Beispiel Jochen Rabe, Professor für Urbane Resilienz und Digitalisierung am Einstein Center für Digitale Zukunft (ECDF) der TU Berlin als Keynote Speaker einen von anglizistischen Floskeln überquellenden Digitalisierungsaufruf verbreiten darf. Laut Jahresbericht hat ECDF ein einzigartiges Public-Private-Finanzierungsmodell, bei dem über 20 Unternehmen Geld geben und das Land Berlin für jeden Euro 50 Cent dazugibt. Zu den Geldgebern gehören Amazon, Zalando, Siemens und Deutsche Telekom.
Im Hintergrund wird fleißig daran gearbeitet, die Smart-City-Vision Wirklichkeit werden zu lassen.