Leserbrief und Antwort zu Wissenschaftlern, die sich der Gegenaufklärung angedient haben

Sehr geehrter Hr. Häring, sehr geehrter Hr. Schoepe,

ich möchte Ihnen die These nahelegen, dass die Aufklärung und Aufarbeitung der eigenen Tätigkeit durch strukturelle Mängel der Schulorganisation behindert wird. Ich möchte dies an Hand der Berliner Schule deutlich machen.

Basis einer offenen Reflexion wäre der rege Austausch über die eigene Arbeit und die zurückliegende Zeit. Dieser müsste schul-öffentlich sein und sich über alle Bereiche der Schule und Pädagogik erstrecken. Nur so können die verschiedenen Perspektiven und Erlebnisse, zusammengetragen und Erklärungen, Standpunkte und Überzeugungen miteinander verhandelt werden.

Auf den ersten Blick sind diese Voraussetzungen auf dem Papier gegeben, wenn man §67 des Berliner Schulgesetzes zu Aufgaben und Stellung der Lehrer heranzieht:

„Die Lehrkräfte wirken an der *eigenverantwortlichen* Organisation und Selbstgestaltung der Schule, an der Erstellung des Schulprogramms und der Qualitätssicherung sowie an der Gestaltung des Schullebens aktiv mit. Sie kooperieren und stimmen sich in den Erziehungszielen und in der Unterrichtsgestaltung miteinander ab.“

Hier steht jedoch nicht, dass Schulen als *eigenverantwortliche* Einheiten organisiert sind, in denen gegenseitige Rechenschaft gleichberechtigter Akteure (Schüler, Eltern, Lehrer, Erzieher, Betreuer, Verwaltung) zusammen eine Schulverfassung und ein Schulleben bestimmen. Denn das Wort »eigenverantwortlich« ist nicht auf das Innenverhältnis sondern auf das Außenverhältnis bezogen. Die Schule soll nach dem Gesetz mit einer gewissen Autonomie gegenüber der Verwaltung agieren.

SPD und Grüne wollten in den 2000ern in Berlin damit die Schulen modernisieren und durch »Eigenverantwortung« die Effizienz der Schulen steigern. Unter dem Schlagwort PISA war die Behauptung verbreitet worden, die Schule stünde schlecht da und müsse reformiert werden. Effizienter werden. Dazu wurden einfach Aufgaben der Schulverwaltung auf die Schulen übertragen, wie die Teile der Buchhaltung (Finanzen und Mittelverwaltung). Dadurch wurde zwar die Handlungsmacht der Schulen erhöht, doch zugleich musste die Arbeitskraft der Schulen, die sowie schon zu knapp für die bisherigen Aufgaben war, mit etwas anderem geteilt werden. Die Schulen mussten ihre Arbeit schlechter machen. Dabei bedeutete dies zunächst, dass das Arbeitspensum der Schulleiter (und der anderen Administrativen Stellen) massiv erhöht wurde.

Im Innenverhältnis bestimmt jedoch der Schulleiter im wesentlichen allein die Arbeit der Schule. Ihm allein wird die Gesamtverantwortung übertragen, sodass die zuvor »selbstverantwortlich« genannte Schule auf einen selbstverantwortlich genannten Schulleiter zusammenschrumpft:

Er. trägt die Gesamtverantwortung für die Arbeit der Schule, entscheidet über die Verteilung und Verwendung der zugewiesenen Personal- und Sachmittel, entscheidet über den Unterrichtseinsatz. (§69 Abs. 1 SchulG, 26.01.2004).

Des weiteren steht ihm ein Eingriffsrecht bei Gefahr im Verzug oder Verletzung von Vorschriften und sonstigen Regelungen zu. Die Schulleiterin oder der Schulleiter ist im Rahmen der Verwaltungsaufgaben weisungsbefugt. Dazu ist sie oder er nach §69 Abs. 1 SchulG  verpflichtet:

  • sich über den ordnungsgemäßen Ablauf der Unterrichts- und Erziehungsarbeit zu informieren,
  • die Lehrkräfte sowie die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beraten,
  • in die Unterrichts- oder Erziehungsarbeit bei Verstoß gegen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Weisungen der Schulaufsichtsbehörde und der Schulbehörde oder Beschlüsse der schulischen Gremien oder bei Mängeln in der Qualität der pädagogischen Arbeit einzugreifen und
  • auf eine partizipative, diskriminierungsfreie und demokratische Schulkultur hinzuwirken.

Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass Kontrollstrukturen für eine gute Arbeitsqualität nötig sind. Dafür aber eine einzelne Person zu ermächtigen, der man gerade eine höhere Autonomie zugestanden hat, ist ein Problem. Dies zeigt sich auch darin, dass der Gesetzgeber nicht selbst eine partizipative, diskriminierungsfreie und demokratische Schulkultur schaffen konnte, sondern in das Gesetz dem allmächtigen Schulleiter die Aufgabe zuweisen musste, hierauf hinzuwirken.

Um zu Verhindern, dass dieser Widerspruch sofort ins Auge fällt, wurde in Berlin das Gremium der Schulkonferenz geschaffen als laut §75 SchulG oberstes Beratungs- und Beschlussgremium der schulischen Selbstgestaltung. Sie berät alle wichtigen Angelegenheiten und kann gegenüber den anderen Konferenzen Empfehlungen abgeben. Sie wird aber maßgeblich vom Schulleiter bestimmt wird und kann nur Rahmenbedingungen für sein Handeln festlegen. Sie hat keine direkten Möglichkeiten zur Kontrolle.

So kann sie nicht beschließen, dass der Schulleiter wegen grober Fehler suspendiert ist, bis die übergeordnete Behörde den Sachverhalt prüft und sie kann Maßnahmen des Schulleiters nicht aufheben. Stattdessen wurde ihre der Schulleiter als Vorsitzender zugeteilt (§78 Abs. 1). Bindende Beschlüsse sind auf einen Katalog von Aufgaben reduziert (§76 SchulG):

Leitlinien und Grundsätze: Hausordnung, zur Mittelverwendung, Schulprogramm / -selbstbild, nicht disziplinarisches und notenrelevantes Evaluationsprogramm, Aufnahmekriterien, Verfahren für die Aufnahme bei Übernachfrage, Ganztagsbetrieb, Bildung von Schülergruppen (z.B. als AG o.ä.), Schüleraustausch, freiwilligem Unterricht, Berufsvorbereitung

  • Vorschlag für die Leitungsposten, aber eben keine Abwahl,
  • Spezialregeln zur Schulorganisation: Unterrichtsbeginn, Hausaufgabenregeln, Auswahl vorgegebener, Möglichkeiten aus Lehrplan und Verwaltungsvorschriften zur Schulorganisation (z.B. Stundenzahl pro Fach), Mitarbeit von Eltern im Unterricht oder außerunterrichtlichen Veranstaltungen, Wandertage, Buchgeldfond (Lernmittelfonds), Schulbibliothek,
  • Antragsrechte: Schulartänderung, Jugendhilfe, Antrag auf die Dauer der Schulwoche, Schulversuche (Berliner Wort für Pilotprojekte)
  • die Namensgebung für die Schule.
  • Zusatzregeln zu Zeugnissen: Noten für Grundschule, Bewertungsmaßstab für Arbeits- und Sozialverhalten,
  • recht auf Anhörung, wenn der Schulleiter Mittel beantragt, bei Ordnungsmaßnahmen Versetzung an eine andere Schule und Entlassung aus der Schule, bei Änderung der Schule in ihrer Organisation: Schulart, Teilung, Erweiterung, Fusion, neue Fachrichtungen, neuer Schwerpunkt … durch die Schulbehörde, Baumaßnahmen, Schulwegsicherung, Essensanbieter

Die Kontrolle des Schulleiters ist nur indirekt über Berichte möglich, wobei er selbst in der Schulkonferenz aktiv mitbestimmt und daher sich somit selbst kontrolliert.

Wie kann es eine freie und offene Reflexion und Aufarbeitung der eigenen Tätigkeit geben, wenn Auftrag und Beurteilung über das eigene Handeln aber auch die Rahmenbedingungen laut Gesetz dafür weitgehend in derselben Hand derselben übergeordneten Instanz liegen.

Den Lehrern gegenüber hat der Schulleiter eine grundsätzliche Kontrollpflicht sich über den ordnungsgemäßen Ablauf der Unterrichts- und Erziehungsarbeit zu informieren, aus der in Verbindung mit der alleinigen Gesamtverantwortung (§69 Abs. 1 Nr. 1 SchulG) das Recht auf den unangekündigten Unterrichtsbesuch abgeleitet wird. Dies steht in Spannungsverhältnis zu dem Grundsatz, dass Lehrer nach §67 Abs. 2 SchulG pädagogisch eigenverantwortlich tätig sind:

„Sie unterrichten, erziehen, beurteilen und bewerten, beraten und betreuen in eigener pädagogischer Verantwortung im Rahmen der Bildungs- und Erziehungsziele und der sonstigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie der Beschlüsse der schulischen Gremien.“

Aufgelöst wird dies dadurch, dass der Lehrer frei innerhalb der Grenzen des Lehrplans, der Grundsätze der schulischen Gremien und allgemeinen Gesetzen sein soll. Allerdings verfasst der Schulleiter auch die Dienstbeurteilungen und Arbeitszeugnisse, die für die weitere Karriere (Beförderung, Bewerbung, Zwangs-Versetzungen) maßgeblich sind. Theoretisch stehen für die fachliche Beurteilung die Fachleiter zur Verfügung, doch das letzte Wort hat unmittelbar der Schulleiter. Maßgeblich ist weiterhin das Wort des Schulleiters.

Schulleiterinnen sind unmittelbar den Rechts- und Verwaltungsvorschriften unterworfen, den Vorgesetzten als Beamte zum Gehorsam verpflichtet und auch von denselben Behörden bestellt worden. Das Anhörungsrecht der Schulkonferenzen bei solchen Bestellungen ist ein schwacher und sehr indirekter schuldemokratischer Einfluss. Die Schulbehörde hat das Recht diese Entscheidungen auch gegen die Wünsche der eigenverantwortlichen Schule zu fällen.

Wenn Lehrer, Schüler und Eltern also von einer so herausgehobenen Person abhängig sind, laufen sie stets Gefahr, wenn sie eine kritische Meinung kundtun. So war es auch möglich sofort die Corona-Maßnahmen zu exekutieren. Schulleiter haben Gesetze und Verordnungen umgesetzt und Lehrer dazugebracht dies auch zu tun, da sie sonst als Dienstpflichtverletzung angesehen und zu Kündigungen oder schweren Nachteilen hätten führen können. Opportunes Handeln wird belohnt, führt zu Erfolg, unliebsames führt zu Ausgrenzung und innerer Kündigung oder zumindest zu Desinteresse. Schüler und Eltern sind davon wieder abhängig und können neben dem Erwachsenwerden bzw. dem Berufsleben die Schule nicht so kontrollieren, wie es nötig wäre.

Lehrer müssten sich gegen diese einseitige Macht Strukturen auflehnen, denn es gibt nur wenig Rechtfertigung dafür. Aber bisher haben die Gewerkschaften immer nur mehr Geld erkämpft und den Arbeitgeber bei den sonstigen Arbeitsbedingungen gewähren lassen. Durch die Verbeamtung hat die GEW auch auf einen Schlag ihr Potential fast völlig verloren. Nun sind wohl mehr als die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen verbeamtet. Eine Veränderung über die Macht der Tarife wird wohl erst wieder offen stehen, wenn die EUGH das deutsche Beamtenrecht in Frage stellt und deutsche Gerichte ihm diese Entscheidung zugestehen, oder Beamte und Angestellt sich zusammen tun.

Die nicht erfolgte Aufklärung zeigt meines Erachtens auf, dass die Schule sich noch immer in einem antidemokratischen Zustand befindet und dieser über die Maßnahmen hinaus zu hinterfragen und zu beenden ist. Die Wirkung der so verfassten Schule auf die Kinder ist, wie die Corona-Maßnahmen gezeigt haben, im Zweifel furchtbar.

Mit freundlichen Grüßen, Ralf Grauer

Antwort

Lieber Herr Grauer,

Sie nennen wichtige Gründe dafür, dass die Schule der Gegenaufklärung anheimfallen konnte.

Während Sie stärker auf die Stellung des Schulleiters abstellen, der heute aufgrund seiner Entscheidungsfülle die Rolle der Instanz einnimmt, die intern demokratische Schulkultur verhindert, habe ich in einem Artikel von Dezember 2021 die neoliberalen Reformen im Zuge des sog. New Public Management für die zunehmende Entdemokratisierung und Entmündigung der Lehrer an den Schulen verantwortlich gemacht.

In Cancel Culture macht Schule versuche ich den Nachweis zu erbringen, dass die von den politischen Parteien beherrschten Schulverwaltungen der Länder seit der Schöpfung des trojanischen Pferdes „selbstverwaltete Schule“ nicht weniger, sondern viel mehr in die einzelnen Schulen hineinregieren. Sie haben die kollegialen Mitbestimmungsrechte des Kollegiums geschliffen und den Schulleiter als pädagogisch verantwortlichen Primus inter Pares abgeschafft. Er wurde zum Schulmanager gemacht, der möglichst reibungslos und effizient die Behördenvorgaben eins zu eins auch gegen die Kollegien umsetzen soll.

Kritische Kollegen, die an den Maßstäben demokratischer Schulentwicklung und den aufklärerischen Zielen von Bildung festhalten, werden seither mit den Mitteln des Change Managements „auf Linie gebracht“. Jochen Krautz, Matthias Burchardt, Ralf Lankau u.a. haben gezeigt, dass die Methoden des Change Managements an den Schulen einer Gehirnwäsche gleichkommen. M.a.W.: Sie sind zutiefst antidemokratisch und gegenaufklärerisch und haben ein Klima des systematischen Misstrauens gegenüber den Lehrern und der dumpfen Gehorsamspflicht in den Kollegien geschaffen, das durch zeitgemäße Politfolkloren (Wokeness, Antirassismus, Klimaaktivismus) schlecht übertüncht wird.

Viele Grüße, Bernd Schoepe

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