Sehr geehrter Herr Doktor Häring,
zwar sind Sie in der festen Burg „Handelsblatt“ mit der sprichwörtlichen Wagenburgmentalität beschäftigt, haben da viel mit der Geldproblematik sich herumzuärgern, haben sicher auch überzeugende Einwände gegen die Politik der EZB: wie wäre es, wenn man sich mal darüber auslassen würde, dass die EZB nicht als echte Zentralbank fungieren darf, dass ihr Präsident
nurversuchen kann, Zeit zu gewinnen, auf die Erleuchtung bei den Politikern zu warten, dass diese endlich ihre Verantwortung wahrnehmen und die Voraussetzungen gesetzlicher Art schaffen, damit die EZB endlich als Zentralbank wirken kann? Und da wäre es vielleicht auch sinnvoll, sich mal über andere Konzepte im Zusammenhang mit Geld und Währung auzulassen, zumindest eine ernsthafte Diskussion über MMT anzustoßen. Oder wird da zuviel geistiges Porzellan, was man dafür hält, zerdeppert? Fällt man da vom Glauben ab, wird man da von den anderen geschnitten? Ich füge mal einige Texte an, damit Sie sich ein eigenes Urteil bilden können, wenn Sie mögen.
Mit freundlichen Grüßen
Wilfried Müller
Den Blickwinkel ändern, Neues bemerken und Alternativen entdecken
Eigentlich habe ich ja nichts Neues zu berichten, alles ist bekannt, sollte den studierten Fachleuten jedenfalls bekannt sein, das Rad muss nicht neu erfunden werden. Und es dürfte einem Normalverbraucher keine Schwierigkeiten bereiten, das alles mit gesundem Menschenverstand zu verstehen. Aber seltsam, fast keiner will davon etwas wissen. Ob es sich dabei um Linke oder Rechte handelt, um Geldfachleute oder -reformer, um studierte Ökonomen oder Gewerkschaftler, man will einfach nicht darüber nachdenken. Und
veröffentlichen will man so etwas auf keinen Fall. Bei Ökonomen und Leuten mit gesundem Menschenverstand sind die Grundsätze von Buchhaltung und Bilanzierung unbestritten, ebenso die darauf aufbauende
volkswirtschaftliche Saldenmechanik. Da gibt es immer zwei per def. gleiche Seiten wie Soll und Haben, Einnahmen und Ausgaben, Geldvermögen und Geldschulden (wie immer abgegrenzt), Exporte und Importe global, die sich immer zu Null addieren. Wenn man die Ausgaben an einer Stelle um einen bestimmten Betrag kürzt, dann sinken die Einnahmen an anderer Stelle um mindestens denselben Betrag, wenn alle Geldschulden getilgt werden, dann gibt es auch keine Geldvermögen mehr, und die Wirtschaft ist kollabiert. In der öffentlichen
und veröffentlichten Diskussion scheint man solche Banalitäten verdrängt zu haben. Bei Ökonomen, jedenfalls solchen ohne ideologische Scheuklappen, gibt es auch keinen Streit darüber, dass Wirtschaft nur dann funktionieren kann, wenn alle wirtschaftlich relevanten Angelegenheiten gesetzlich geregelt sind (Eigentum, Verträge, Umwelt, Geldwesen etc). Und diese gesetzlichen Regelungen werden von Politikern gemacht und
durchgesetzt. Wenn eine solche gesetzliche Regelung ihren Zweck nicht erfüllt, nicht zielführend ist, dann wird ein verantwortungsvoller Politiker sie modifizieren oder kassieren und durch ein besseres Gesetz ersetzen. Nebenbei bemerkt: Politiker können und dürfen sich nicht wie Theologen oder Juristen verhalten, die Gesetze auslegen und nur für deren Einhaltung Sorge tragen, Politiker haben eben diese Gesetze zu verfassen, zu gestalten unter dem Gesichtspunkt, dass sie der Wohlfahrt und Nachhaltigkeit der Gesellschaft dienen.
Oberste Gerichte müssen Politiker von Zeit zu Zeit an diese Pflichten erinnern, sie in wichtigen Fällen dazu auffordern, notwendige gesetzliche Regelungen zu beschließen.
Dieses Primat der Politik wird von allen Politikern in Sonntagsreden beschworen, es wäre zu wünschen, dass es auch im Alltag gilt. Jedenfalls sollte der mündige Wahlbürger den Politikern nicht erlauben, dass sie sich aus der Verantwortung stehlen, indem sie sich auf Sachzwänge berufen. Bei solcher Betrachtung der Lage kann es echte Sachzwänge nämlich gar nicht geben.
Nach der Aufgabe des Goldstandards wurde von Ökonomen zur Kenntnis genommen, dass es weltweit nur noch fiat money gibt, dass sich die staatliche Theorie des Geldes in der Realität durchgesetzt hat, nach der Geld ein staatliches Konstrukt ohne eigenen Wert ist. Diese staatliche Theorie des Geldes (Chartalismus) wurde von Modern Monetary Theory unter Einbeziehung der Einsichten von Keynes, Lerner, Minsky u.a. weiterentwickelt und mit dem Konzept von Jobgarantie verbunden. MMT kam dabei schlüssig und logisch einwandfrei zu
der Feststellung: Ein souveräner Staat mit eigener Währung hat bei der Finanzierung seiner Ausgaben und Aufgaben keine Schwierigkeiten, wenn er sich nicht in fremder Währung verschuldet; als Herausgeber der eigenen Währung durch die staatliche Institution Zentralbank ist er im Prinzip nicht auf Einnahmen durch Steuern, Abgaben oder Anleihen angewiesen, diese dienen vielmehr politischen Zielen wie der Korrektur von
Marktergebnissen, der Verhinderung von Inflation usw. Wenn nun ein solcher Staat zwecks Bezahlung seiner Ausgaben sein eigenes Geld direkt in den Wirtschaftskreislauf einschleust, also die Waren und Dienstleistungen bezahlt, die er im Privatsektor (Privathaushalte und Unternehmen des Inlandes) durch Aufträge abgefordert hat, dann kann es keine Forderung nach Zinszahlung oder Schuldentilgung seitens des Privatsektors oder Auslandes geben, da der Staat ja nur bei sich selbst verschuldet ist. In der Realität und Realwirtschaft verwandeln sich diese virtuellen Schulden in öffentliches Vermögen (Staatsvermögen), in Infrastruktur im weitesten Sinne.
Natürlich lassen sich diese fiktiven Schulden rein theoretisch tilgen, wenn der Staat dieses öffentliche Vermögen zu Herstellungspreisen an den Privatsektor verkauft (privatisiert) und die dabei erzielten Einnahmen an die Zentralbank zwecks Tilgung der „Schulden“ weiterreicht. Dann fehlt das Geld allerdings im Privatsektor und in der Privatwirtschaft mit unabsehbaren Folgen für die Wirtschaft.
Um es klar und deutlich zu wiederholen: Es muss klar unterschieden werden zwischen dem Staatssektor und dem Privatsektor, es muss demzufolge auch ein wenigstens zweistufiges Bankensystem geben: die Zentralbank ist als staatliche Institution dem Staatssektor zugeordnet, sie schleust Zentralbankgeld durch Auftragsvergabe des Staates in die Wirtschaft, dabei ist dieses Geld durch fiktive Schulden gekennzeichnet; im Privatsektor gibt es ein zweites Bankensystem, das mit dem Privileg ausgestattet ist, dass es Geld „schöpfen“ darf und Kredite vergeben; im Bankensektor wird die ursprüngliche Menge an Zentralbankgeld durch Geldschöpfung Bilanzverlängerung: Forderung = Schulden) vervielfacht (Zentralbankgeld macht nur 5 % der Geldmenge aus); dieses im Bankensektor geschöpfte Geld ist „Schuldengeld“ (Kreditgeld), dafür müssen Zinsen gezahlt werden, der Kredit muss getilgt werden, das ursprüngliche Zentralbankgeld ist Teil der gesamten Geldmenge, gewissermaßen als ein Gemeinschaftsgut darin enthalten. Der Banken- und Finanzsektor muss sorgfältig reguliert und beaufsichtigt werden . Man kann dabei an ein Trennbankensystem denken, an höheres Eigenkapital, Reserve- und Bewertungsvorschriften, Finanzprodukte und Derivate müssen genehmigt werden, nichts darf außerhalb der Bilanz versteckt werden, Spielbanken mit ihren Wettgeschäften sind nicht systemrelevant, werden nicht vom Staat gerettet, man mag über eine Art Bancor nachdenken, um Spekulation gegen Währungen einzudämmen, es gibt im Rahmen von Kartellbetrachtung ein“too big to save“
usw. .
Eine staatliche Finanzierung, die zu den oben beschriebenen virtuellen Schulden führt, ist bislang verboten, weil so etwas starken wirtschaftlichen Interessen widerspricht und in diesem Sinne auch gesetzlich geregelt wurde. Eine andere gesetzliche Regelung ist jedoch möglich, wenn die Politik das wirklich will, um sich aus der Gefangenschaft durch die Finanzmärkte (Tietmeyer) zu befreien. – Diese virtuellen Schulden müssen gedanklich scharf unterschieden werden von den Schulden, die ein Staat macht, wenn er Anleihen auflegt und diese an den Privatsektor verkauft zwecks Erzielung von Einnahmen; solche staatlichen Anleihen werden im Privatsektor gehandelt, dafür müssen Zinsen gezahlt werden, diese Schulden müssen auch getilgt werden. Angesichts des riesigen Investitionsstaus gerade im öffentlichen Bereich sollte es an der Zeit sein, auf diesem Wege (mittels virtueller Schulden) öffentliches Vermögen aufzubauen, zu investieren und mit der Manie von Privatisierung aufzuhören, mit dieser Verschleuderung des öffentlichen Vermögens. Denn mangels Gewinnaussichten wird ja von den Privatunternehmen seit längerer Zeit nicht mehr in die Realwirtschaft investiert (die
Privatwirtschaft „investiert“ vielmehr in Finanzprodukte, die höhere Rendite versprechen, und produziert dadurch „Blasen“), es entsteht also auch da eine zusätzliche Investitionslücke und vergrößert diese in der Volkswirtschaft insgesamt.
Sicher, ein gewöhnungsbedürftiger Denkansatz, aber das ist kein hinreichender Grund, um jede Diskussion darüber zu verweigern. Und mir geht es zunächst einmal darum, dass so etwas ernsthaft diskutiert wird. In diesem Falle könnte man nämlich dank besserer Diagnose die Banken- und Finanzkrise von ihren Ursachen her angehen und sogar lösen. Und das ewige Gerede über die Staatsschulden könnte ad acta gelegt werden, weil es schlichter Aberglaube ist. Natürlich ist mir auch klar, dass es erhebliche Schwierigkeiten geben wird bei der Regelung des Finanzbereichs im Privatsektor, wo es vornehmlich um Privilegien geht und deren Verteidigung. Aber vielleicht würde die Finanzkrise dann nicht mehr alle anderen Probleme aus den Blickwinkel verdrängen, könnte sich die Politik ernsthaft mit den wirklich wichtigen Themen der Nachhaltigkeit beschäftigen. Ich gebe die Hoffnung jedenfalls nicht auf, vielleicht ist der Mensch ja kein Irrläufer der Natur, wie A. Koestler meinte, der scheitert, weil er seine Lebensgrundlagen vernichtet. Und ich gehe davon aus, dass der Kapitalismus in
seiner bisherigen Form nicht überlebensfähig ist, dass er aber im Prinzip reformiert werden kann; ich maße mir nicht an, vorauszusagen, wie das Ergebnis solcher Reformen aussieht. Falls man übrigens an einer gut lesbaren und mit historischen Fakten gespickten Darstellung der gegenwärtigen Wirtschaftslage interessiert ist, dann kann ich ohne Vorbehalt empfehlen „Der Sieg des Kapitals“ von Ulrike Herrmann; ich habe bei der Lektüre eine Menge gelernt. Die Lektüre von „23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen“ von Ha-Joon Chang sowie „66 starke Thesen zum Euro, zur Wirtschaftspolitik und zum deutschen Wesen“ von Heiner Flassbeck lassen einen grübeln, ob die von den meinungsbildenden Medien verbreiteten Wirtschaftsnachrichten so wirklich stimmen können. Natürlich gibt es viele weitere kritische Beiträge zu Fragen der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik.
Und falls man einen logischen oder sachlich-fachlichen Fehler in meiner Argumentation entdeckt, dann teile man mir das bitte mit; ich belästige andere nämlich nicht gern mit Unsinn . Dabei kann ich „utopisch“, „nicht realisierbar“ und andere Totschlag“argumente“ nicht akzeptieren, weil sie nichts mit Logik oder Fachkenntnis zu tun haben.
PS 1: Financial debt is a debt, but government debt is financial wealth to the private sector (jedenfalls bei keiner Auslandsverschuldung in fremder Währung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht; R. Wray, einer der Pioniere von MMT).
PS 2: Den USA gelingt es bislang immer noch, sich auch im Ausland in eigener Währung zu verschulden (Export von Dollar gegen Import von Waren und Diensten aus dem Ausland), so dass sie keine Schwierigkeiten bei der Zinszahlung haben; die Staatshaushaltsprobleme und die Schuldenobergrenze der USA sind hausgemacht; der Gesetzgeber könnte diese gesetzliche und finanzielle Selbstfesselung der Politik per Gesetz auflösen, falls Wall Street das erlauben würde, was unwahrscheinlich ist. Es müsste ein mindestens zweistufiges Bankensystem installiert werden mit der Zentralbank als staatlicher Institution einerseits, dem Bankensektor im Privatsektor andererseits, wie von MMT vorgeschlagen.