Griechenlands Misere und die Lehren der alten deutschen Wirtschaftsdenker

BuchtitelVon Frederic Spohr*, Bangkok. Mehr als ein Viertel seiner Wirtschaftsleistung hat Griechenland in der Krise eingebüßt. So misslungen ist die Rettung, dass sich Entwicklungsökonomen inzwischen mit dem Land befassen. Für den Norweger Erik Reinert, einen früheren Industriellen, heute Ökonomieprofessor, wirken auf Griechenland ähnliche Kräfte wie auf abgehängte Länder.

Asiens und Afrikas. Die EU gehe mit Krisenstaaten um wie Europas Mächte einst mit Kolonien. Oder wie der Internationale Währungsfonds früher mit Entwicklungsländern.

Des Pudels Kern ist für Reinert die Neoklassik, die starken Einfluss auf die EU habe. Demnach sei es unproblematisch, wenn sich Märkte mit unterschiedlich entwickelten Industrien zusammenschlössen. Denn jedes Land könne sich auf die Güter spezialisieren, die es am besten produzieren könne. Dabei glichen sich die jeweiligen Preise für Kapital und Arbeit in den Ländern einander an. Es sei also egal, ob ein Land Autos produziere oder vor allem Oliven anbaue. 
 
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Erick Reinert: Warum manche Länder reich und andere arm sind. Schäffer-Poeschel, 2014. Leseprobe

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Reinert hält das für absurd: Schließlich würde man seinen Kindern ja auch nicht raten, Tellerwäscher statt Anwalt zu werden. Damit ist er nicht allein: Patrick Artus, Chefvolkswirt der französischen Investmentbank Natixis, wird nicht müde zu betonen, dass die Deindustrialisierung von Europas Peripherie mit einem Finanzausgleich einhergehen müsse wie etwa in den USA. Sonst sei es ein Verarmungsprogramm. Reinert erinnert daran, dass die EU noch bis in die 90er-Jahre behutsam bei der Integration ihrer nationalen Märkte vorgegangen sei. Sie habe etwa darauf geachtet, dass in Spanien eine Automobilbranche aufgebaut wurde. Doch seit der raschen Osterweiterung und der Euro-Einführung sei das passé.

Selbst die harten Gehaltskürzungen haben die griechische Industrie nicht wettbewerbsfähig gemacht. Den aktuellsten Daten zufolge sank die Produktion im verarbeitenden Gewerbe im August im Vergleich zum Vorjahr um rund 5,7 Prozent. Rettungsanker soll der Tourismus sein. Die Branche rechnet für 2015 mit einem Rekordjahr. „Viele Länder flüchten sich in den Tourismus, denn das ist einfach“, sagt Jesus Felipe, Berater des Chefökonomen der Asiatischen Entwicklungsbank. „Aber ein tragfähiges Geschäftskonzept ist das für die wenigsten.“ Frederic Spohr

Reinert ist ein intimer Kenner der europäischen und insbesondere auch der deutsch-niederländischen Wirtschaftsgeschichte, aus der er viele seiner Lehren zieht. Seine Helden heißen nicht Smith und Ricardo, sondern von Seckendorff, List und Sombart.

Holland hatte Veit Ludwig von Seckendorff tief beeindruckt: Handwerker bastelten an Ferngläsern für die Seefahrt, Tüftler werkelten an Mikroskopen, und nicht weit davon entfernt wurden Karten für die Offiziere gezeichnet. Deutsche Städte waren dagegen wirtschaftlich am Ende: Der Dreißigjährige Krieg hatte die Mitte des Kontinents in Schutt und Asche gelegt.  Der Gelehrte Seckendorff studierte die Wirtschaftspolitik der Nachbarn genau.  Er wollte ihren Reichtum auch nach Deutschland holen. Vor allem beeindruckten ihn die Technologietransfers zwischen den Wirtschaftszweigen. Also empfahl er auch deutschen Herrschern, das Handwerk konzentriert anzusiedeln. Heute würde man „clustern“ dazu sagen. 

Viele Jahrzehnte interessierte sich im Westen kaum jemand für die alten deutschen Ökonomen. In Entwicklungs- und Schwellenländern sind die Thesen und Werke eines Friedrich List präsenter als in seiner Heimat. Der norwegische Entwicklungsökonom Erik Reinert hat alte deutsche Lehren zum Herzstück seines Gegenentwurfs zur heutigen angelsächsischen Schule gemacht. Sein Buch „Warum manche Länder reich und andere arm sind: Wie der Westen seine Geschichte ignoriert und deshalb seine Wirtschaftsmacht verliert“ ist nun auch auf Deutsch erschienen. 

Ökonomen wie List oder Werner Sombart folgten der Tradition Seckendorffs, das Wirtschaftsleben zu studieren und daraus Empfehlungen abzuleiten. In der heutigen deduktiven Modell-Ökonomik hat dieses Vorgehen weder Platz noch Ansehen. Reinert möchte das ändern. „Die deutsche Ökonomie zwischen 1650 und 1950 liefert eine vollwertige Alternative zum heutigen Mainstream“, ist er überzeugt. 

Die Deutschen widersprachen ihren britischen Kollegen Adam Smith und David Ricardo entschieden. Auf der Insel proklamierten diese, dass der Markt von selbst zu perfekten Lösungen führe. Der Franzose Léon Walras formte daraus das allgemeine Gleichgewichtsmodell. Es bildet das Rückgrat der heutigen neoklassischen Mainstream-Ökonomie, die hauptsächlich auf Mathematik beruht.  Die exakte Ableitung der Ergebnisse aus gesetzten Prämissen hat einen hohen Preis: Was mathematisch nicht gefasst werden kann, wird ignoriert. Ökonomen würden lieber genau danebenliegen als ungefähr richtig, ätzte der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen. Die frühen deutschen Ökonomen begriffen die Wirtschaftswissenschaft anders, weil ihre Ausgangssituation eine andere war. Die meisten verdingten sich als Berater der vielen Fürsten im zerstückelten Deutschland. Die Ein-Mann-Thinktanks sollten ihren Herren erklären, wie deren verarmte Kleinstaaten wirtschaftlich zu den Industriemächten aufschließen konnten. 

Sie konzentrierten sich auf Faktoren wie Innovation, Unternehmertum und natürliche Gegebenheiten. Sie unterschieden zwischen Handel und Produktion und zwischen verschiedenen Produktionszweigen. Sie reduzierten nicht alles auf den Faktor „Arbeit“. Industrie und Handwerk waren für sie wertvoller als Landwirtschaft oder Rohstoffabbau. Denn nur dort komme es zu Vorteilen der Massenproduktion und vielen Innovationen. Also galt es, diese Sektoren zu pflegen und zu schützen. Vor allem bei anderen industriellen Spätzündern wie in den Vereinigten Staaten, Japan oder den asiatischen Tigerstaaten stießen die deutschen Denker auf großes Interesse. In Amerika mussten beispielsweise noch zu Beginn des 20.  Jahrhunderts Doktoranden Deutsch lesen können. Die Fallstudien der deutschen Ökonomen inspirierten in der Betriebswirtschaftslehre den Case-Study-Ansatz der Universität Harvard. 

Dass die Thesen der Deutschen vergessen wurden, erklärt Reinert damit, dass die alternative Theorie im Sinne der reichen Industriestaaten ist. Da sie nicht zwischen der wirtschaftlichen Entwicklungsstufe von Staaten differenzierten, hätten die Stärkeren bei völlig freiem Handel einen Vorteil. Die Neoklassik ignoriere, was einen zwölfjährigen Betreiber einer „Schuhputzfirma“ qualitativ von Microsoft unterscheide, moniert Reinert. 

In den letzten Jahren haben derartige Einsichten auch bei internationalen Organisationen Einzug gehalten – und selbst die deutschen Denker haben mittlerweile wieder größeren Einfluss. Das hängt vor allem an ihrem Erfolg in Asien. Der Deutsche Friedrich List hat beispielsweise den ehemaligen Weltbank-Vizechef Justin Yifu Lin stark geprägt. List hatte an der deutschen Zollunion mitgewirkt. Er war für Freihandel nur von Ländern mit gleichem Entwicklungsstand eingetreten und für die Förderung der Industrie. Auch Lin ist ein Verfechter einer aktiven Industriepolitik in Entwicklungsländern. Die zähen Verhandlungen, die Industriestaaten mittlerweile mit aufstrebenden Nationen in der Handelspolitik führen, zeigen das geschärfte Bewusstsein der mittlerweile sehr vorsichtigen asiatischen Staaten. 

Auch die USA handelten einst nicht anders. Bevor sie ein starker Industriestaat wurden, führten sie einen jahrzehntelangen Kampf gegen die Engländer, um ihre Industrie zu schützen. Der erste Finanzminister der USA, Alexander Hamilton, hätte mit der Weltbank auf Kriegsfuß gestanden.  Der Untertitel von Reinerts Buch hebt auf die These ab, dass die Neoklassik sich inzwischen gegen ihre Erfinder in den reichen Industrienationen wendet.  Sie lasse sie vergessen, dass nicht alle Aktivitäten gleich seien. 

Wir vernachlässigten deshalb die industrielle Basis unseres Wohlstandes

* Frederic Spohr ist freier Journalist mit Sitz in Bangkok. Er berichtet unter anderem für das Handelsblatt über Asien. Kontakt: spohr@wpbangkok.com 

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