Es ist der 17 April 2020. Die USA sind zum globalen Hotspot der Covid-19-Epidemie geworden. Die Zahl der erfassten Infizierten beträgt über 700.000, die Zahl der tatsächlich infizierten dürfte um eine Vielfaches höher liegen. Gut 34.000 Menschen sind an Covid-19 gestorben, fast die Hälfte davon in der Finanzmetropole New York. In nur vier Wochen haben 22 Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz verloren und sich arbeitslos gemeldet (16. April) . In den Medien sind kilometerlange Autoschlangen vor Essensausgaben für Mittellose zu sehen. Die US-Bürger erleben eine gesundheitliche, wirtschaftliche und existenzielle Katastrophe.
Es gibt aber auch das andere New York, die Wall Street, und die anderen USA, die USA der Superreichen. Schaut man zur gleichen Zeit (15. April) auf die Bloomberg-Liste der Superreichen und ihr Amerika, so glaubt man blühende Landschaften zu sehen.
Die 10 reichsten US-Oligarchen waren Mitte April in Dollar gerechnet so reich wie zu Jahresanfang, als noch niemand die heraufziehende Pandemie erahnte. 740 Milliarden Dollar Vermögen besaßen sie gemeinsam. Relativ waren sie und ihre Unternehmen Mitte April viel reicher und mächtiger geworden als die übrigen US-Amerikaner und als der Rest der Welt. Die vier, die unter den Oligarchen der Welt am meisten Vermögen gewonnen haben waren US-Amerikaner. Jeff Bezos (Amazon), Elon Musk (Tesla u.a.), Jeffs Ex-Frau MacKenzie Bezos und Steve Balmer (Microsoft) wurden seit Jahresanfang zusammen 47 Milliarden Dollar schwerer. Der US-Amerikaner Eric Yuan (Zoom) verpasste den fünften Platz der Mega-Krisengewinner nur knapp.
Alle anderen verlieren
Der breit gefasste US-Aktienindex S&P 500 stand Mitte April noch 13 Prozent niedriger als zu Jahresbeginn. In den drei Wochen, in denen sich die Arbeitsmarktlage so zuspitzte, gewann er immerhin 20 Prozent an Wert. Die meisten ausländischen Aktienindizes litten erheblich stärker unter der Krise. Der deutsche Dax etwa lag Mitte April noch 20 Prozent im Minus. Hauptgrund für das relativ gute Abschneiden der US-Konzerne dürfte sein, dass die Krise einen Digitalisierungsschub auslöste, von dem die derzeitigen und künftigen Quasi-Monopolisten in den USA besonders profitieren.
Die vier größten Verlierer unter den Oligarchen waren entsprechend allesamt Nicht-US-Amerikaner. Zusammen 77 Milliarden Dollar verloren Bernard Arnault (Frankreich), Amancio Ortega (Spanien), Carlos Slim (Mexiko) und Mukesh Ambani (Indien).
„Ein Oligarch (vom griech.: ὀλίγοι oligoi = „wenige“ und ἄρχων archon = „Herrscher, Führer“) ist ein Wirtschaftsmagnat oder Tycoon, der durch seinen Reichtum über ein Land oder eine Region weitgehende Macht zu seinem alleinigen Vorteil ausübt. (Wikipedia)
Während also Abermillionen US-Amerikaner in Armut und Not stürzen, werden die vier größten Krisengewinner des Landes um schwer zu erfassende 47 Milliarden Dollar reicher, umgelegt wären das immerhin rund 150 Dollar für jeden der 327 Millionen US-Amerikaner oder 2000 Dollar für jeden der 22 Millionen in den vier Wochen bis Mitte April arbeitslos gewordenen US-Bürger. Die zehn Reichsten können ihr unfassbares Vermögen immerhin halten. Relativ wurden auch sie damit deutlich reicher und mächtiger.
Denn mit ihrem unangetasteten oder sogar noch gestiegenen Vermögen können die Oligarchen der USA und ihre Unternehmen die Unternehmen im Rest der Welt und der USA, deren Wert relativ zu ihrem eingebrochen ist, billig aufkaufen.
So funktioniert Kapitalismus
Der Kontrast zwischen der Not der Massen und dem Gewinn großer, quasi-monopolistischer Unternehmen ist kein Betriebsunfall. Er beruht auf einem Funktionsprinzip des Kapitalismus, der Kapitalisierung der Macht und der Vorteile, die man sich mit dieser kapitalisierten Macht verschaffen kann.
Kapitalisierung ist ein Fachbegriff der Finanzwirtschaft. Er bedeutet, dass ein Zahlungsstrom der Zukunft, zum Beispiel 100.000 Dollar pro Jahr bis in alle Ewigkeit, auf seinen heutigen Wert hin taxiert und in nutzbaren Wert umgewandelt wird. Dabei wird der jährliche Zufluss jedes Jahr, den er weiter in der Zukunft liegt, weniger wert; einerseits, weil Geld, das man heute hat, meistens stärker wertgeschätzt wird als Geld, das man morgen bekommt. Der Faktor, der bestimmt, wie viel der Wert künftiger Erlöse abnimmt, ist der Zins, mit dem kalkuliert wird. Hinzu kommt, dass alles was in der Zukunft passiert unsicher ist. Der Kalkulationszins enthält also auch noch einen Zuschlag für das Risiko. Für eine ewige Reihe gibt es eine einfache Formel: Der Gegenwartswert oder Kapitalwert (K) ist der jährliche Erlös (E) geteilt durch Zins (i).
Im Beispiel mit einem jährlichen Erlös (E) von 100.000 und einem Kalkulationszins (i) von 5%, geschrieben als 0,05 oder 1/20:
K = 100.000 / 0,05 = 2.000.000
Die ewige Reihe von 100.000 Dollar pro Jahr ist also heute 2 Mio. Dollar wert, man könnte sie heute jemand, der entsprechend rechnet, für diesen Betrag verkaufen.
Sinkt der Zins hat das dramatische Auswirkungen auf die Kapitalisierung. Bei einem Kalkulationszins von 2 Prozent gilt:
K = 100.000 / 0,02 = 5.000.000
Ein weiterer Rückgang auf 1% würde den Kapitalwert auf 10 Millionen erhöhen, bei noch niedrigeren Zinsen geht er rasch gegen unendlich. Hier ahnt man, warum die Niedrigzinspolitik so ein Segen für die Kapitalisten ist.
Der Wert, der herauskommt, ist alles andere als ein unwichtiger theoretischer Wert. Mit diesem Wert wird gearbeitet. Das ist die Aufgabe der Finanz- und Kapitalmärkte. Wer Rechte hat, die einen solchen Zahlungsstrom erwarten lassen, zum Beispiel Patente oder andere Schutzrechte für geistiges Eigentum, der kann diesen Wert schon heute in Geld umwandeln, mit dem er einkaufen gehen kann, seien es (potentielle) Konkurrenten, die besten Ingenieure, oder willfährige Politiker. Man kann den Kapitalwert als Sicherheit anbieten, um einen entsprechenden Kredit zu bekommen. Man kann Aktien ausgeben, dann wird der Kapitalwert zum Eigenkapital.
Recht und Rechte sind käuflich
Die deutsche Rechtswissenschaftlerin an der renommierten Columbia Universität in New York, Katharina Pistor, hat in ihrem Buch „The Code of Capital“, das demnächst auch auf deutsch erscheinen soll, aufgezeigt, wie historisch die Eigentumsrechte der Kapitalisten immer mehr ausgeweitet und immer stärker geschützt wurden, zu Lasten des einfachen Volks und der Bauern, die von „ihrem“ Land vertrieben wurden, das sich nach und nach andere aneigneten – ganz einfach, weil diese sich die besten Anwälte leisten konnten. Man darf hinzufügen, auch die einflussreichsten Politiker.
In den USA ist das sehr ausgeprägt. Dort sind die Wahlkämpfe zu finanziellen Materialschlachten geworden, die keiner gegen und ohne die Unterstützung der Wall Street und des sonstigen großen Geldes gewinnen kann.
Das spielt sich gerade jetzt wieder im Corona-geplagten New York ab, wo die junge linke Alexandria Ocasio-Cortez einen Sitz im US-Kongress eroberte und seither für viel Aufsehen und Frust bei der Wall Street und generell bei den Reichen sorgt. Was tun diese? Sie schicken eine frühere Republikanerin, die die Sozialversicherungssystem abschaffen will, mit viel Geld als Demokratin ins Rennen, damit sie Ocasio-Cortez bei den anstehenden Vorwahlen die Nominierung der Partei für den Wahlkreis in New York streitig macht.
„Dieses verrückte und unsymmetrische Muster der Hilfe geht auf Jahrzehnte des Umpolens des Staates und der Staatsmacht zurück
Im Kongress muss man, um einflussreiche Positionen zu bekommen, zum Beispiel als Vorsitzende des Gesundheitsausschusses oder des Finanzausschusses, vor allem seiner Partei mehr Spenden einwerben als Konkurrenten. Wer für Regeln eintritt, die die traumhaften Gewinne des US-Gesundheitssektors oder der Finanzbranche sichern und steigern, der, und nur der, kann seine Konkurrenten in diesem Rennen ausstechen.
Das Ergebnis kann man in dieser Krise besichtigen. Die US-Notenbank Federal Reserve bringt in Rekordtempo Billionen-Dollar schwere Hilfspakete auf den Weg, um neben dem Staat vor allem die Finanzinstitute und die größten Unternehmen zu unterstützten, letztere indem sie deren Anleihen aufkauft und so dafür sorgt, dass sie billigst an Geld kommen.
Den nicht ganz so großen und kleinen Unternehmen, hilft der Kongress, vielleicht, ein bisschen, wenn er sich irgendwann darauf einigen kann. Die Bürger bekommen einen Scheck von 1200 Dollar, einmalig, irgend wann einmal, wenn es die Regierung geschafft hat ihn zuzustellen. Das muss reichen, auch wenn man seinen Job verloren hat und 1000 Dollar Miete im Monat oder mehr und Studentenkredite von oft 50.000 Dollar und mehr bedienen und den Kredit für das Auto abstottern muss.
„Dieses verrückte und unsymmetrische Muster der Hilfe geht auf Jahrzehnte des Umpolens des Staates und der Staatsmacht zurück“, kommentiert Pistor auf Twitter, dass den Größten schnell geholfen wird, während die Kleinen im Regen stehen bleiben: „Die Covid-19-Krise macht das jetzt nur besonders deutlich sichtbar.“
Dem Kapital wird geholfen
Egal wie viel es ist, jeder Dollar oder Euro Staatshilfe füllt letztlich auch, und oft vor allem, die Taschen der Kapitalbesitzer. Der Vermieter von Wohn- und Geschäftsräumen muss nicht die Miete mindern oder mit Konkurs der Mieter und Leerstand umgehen, wenn der Staat den Mietern hilft, ihre Miete zu bezahlen. Den Banken wird erspart, dass die Studentenkredite notleidend und nicht mehr eintreibbar sind. Den Kreditkartenunternehmen werden Ausfälle der darüber ausgereichten Kredite erspart. Die Aktienmärkte werden mit dem Geld der Federal Reserve aufgepumpt. Das erspart den Aktiengesellschaften und vor allem den Aktienbesitzern herbe Verluste.
Dahinter steht das Geld und die Macht der Kapitalbesitzer, die über die Jahrhunderte das Prinzip etabliert haben, dass, egal was passiert, das Kapital zuletzt Verluste erleiden darf. Es gibt keine Regeln und Gesetze, die in solchen Katastrophenfällen dafür sorgen würden, dass nicht die Reichsten, die es am wenigsten brauchen, mit öffentlichen Hilfsgeld herausgepaukt werden. Das ginge durchaus, etwa indem für eine gewisse Zeit per Gesetz der Schuldendienst und die Mieten gekürzt oder ganz gestrichen werden. Aber nein: die Ansprüche des Kapitals sind immer zu bedienen, solange es irgendwie geht, egal was kommt.
In Deutschland nur weniger extrem
In Deutschland gab es immerhin eine kleine Krisenbeteiligung der Vermieter indem den Mietern unter bestimmten Bedingungen das Rechts zugestand wurde, vorübergehend weniger Miete zu zahlen. Das war es aber auch schon. Zwar kommt hier ein sehr viel größerer Anteil des Hilfskuchens direkt erst einmal den Arbeitnehmern und den kleineren Unternehmen zugute als in den USA. Im Großen und Ganzen gilt auch hier. Die richtig großen Summen verteilt die EZB schnell und unbürokratisch an die Finanzbranche und die größten Unternehmen. Die Vermieter und die Kreditgeber werden von den Hilfsgeldern, die an die Menschen und die Unternehmen gehen, mit herausgehauen.
Selbst dumme Dreistigkeiten der Großunternehmen, die dem Volk recht deutlich vor Augen führen, was gespielt wird, blieben in Deutschland nicht aus. Nach einer Erhebung des Handelsblatts vom 16.4.2020 wollen die börsennotierten Unternehmen in Deutschland trotz der tiefen Rezession 44 Milliarden Euro Dividende an ihre Aktionäre ausschütten, auch die vielen, die wie BASF, Daimler, Volkswagen und Co. ihre Mitarbeiter massenhaft in Kurzarbeit geschickt haben, sodass diese teilweise vom Staat bezahlt werden. Viele beziehen auch Kredithilfen oder werden wahrscheinlich, wenn die Krise anhält, demnächst staatliche Hilfe brauchen.
Ansprüche des Kapitals müssen bedient werden.
Die Episode zeigt, wie mächtig das Kapital ist. Die Unternehmen fürchten, wenn sie das Kapital an Verlusten beteiligen, die Gunst der Anlegervertreter zu verlieren, und dann zum Beispiel ein leichtes Übernahmeopfer zu werden. Das ist kein theoretisches Risiko. Die Unternehmen sind zur Abwehr feindliche Übernahmen, die in einem Ausschlachten des Unternehmens enden könnten, auf die Unterstützung von riesigen Kapitalsammelstellen wie Blackrock, Vanguard oder State Street angewiesen. Denn diese verfügen über die Stimmrechte der Aktien, die Anleger über sie gekauft haben. Wenn diese drei dem Vorstand sagen, „Schüttet mal brav aus“, dann schüttet der Vorstand aus.
Nun sollte halbwegs klar sein, warum die Krisenbewältigung so asymmetrisch läuft, vor allem in den USA, aber auch bei uns.
Wie lässt sich das ändern?
Wenn wir wollen, dass in der Wirtschaft der Mensch in den Vordergrund rückt, statt dem Kapital, müssen wir an zwei Stellen ansetzen: bei der Kapitalisierung und bei den überzogenen Eigentumsrechten der Kapitalisten.
Die grundlegendere Veränderung besteht darin, die Eigentumsrechte auf das zurückzuschneiden, was für die freie, selbstbestimmte Entfaltung der Menschen und ihrer Potentiale notwendig und hilfreich ist. Aber selbst wenn das gelingt, kann es nur Bestand haben, wenn die Kapitalisierung der Zukunft eingeschränkt wird. Wir müssen verhindern, dass der Finanzsektor es ermöglicht, jede künftige Gelegenheit Geld zu verdienen in heutiges Kapital umzusetzen, mit dem man die Macht erhält, dafür zu sorgen, dass diese künftigen Erlösmöglichkeiten erst entstehen. Weniger abstrakt ausgedrückt: Wenn ein Eigentumsrecht große Gewinne verspricht, werden diese hypothetischen künftigen Gewinne in Geld umgewandelt, über das man heute verfügen kann. Damit beeinflusst man Politiker, Regulierer und die öffentliche Meinung, bis man die notwendigen Rechte zugestanden bekommt, und aus hypothetischen künftigen Gewinne tatsächliche werden.