Die Systemfrage ist zurück – 5 neue Bücher zum Kapitalismus

Juso-Chef Kevin Kühnert hat Gespür für den Zeitgeist bewiesen, als er jüngst für die Vergemeinschaftung von Großbetrieben plädierte und dabei das Wort „Sozialismus“ in den Mund nahm. Man muss nur den aktuellen Buchmarkt betrachten, um zu erahnen, dass der Kapitalismus in die Defensive geraten ist. Die Systemfrage wird wieder gestellt.

Gleich fünf neue Bücher suchen nach Antworten – und kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Elizabeth Anderson verdammt, dass die Kapitalisten über Arbeitnehmer herrschten „wie kommunistische Diktatoren“. Rainer Mausfeld wirft dem Kapitalismus vor, er sei „wesensmäßig mit der Erzeugung von Angst verbunden“, und Raghuram Rajan bemängelt, dass die Überbetonung von Markt und Staat lokale Gemeinschaften untergraben und damit eine tragende Säule der Gesellschaft beschädigt hätte. Paul Collier will den Kapitalismus sozialer machen, während Werner Plumpe sich zu dessen kompromissloser Verteidigung in die Bresche wirft.

Kapitalismus unterdrückt

Die Philosophieprofessorin Anderson vertritt in „Private Regierung“ die These, dass Arbeitnehmer ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt würden. Wir würden das aber nicht wahrnehmen, weil sich das Herrschaftsverhältnis hinter einer Markt- und Freiwilligkeitsideologie verstecke. Anderson betont, dass die Forderung nach freien Märkten und Privateigentum zu Zeiten Adam Smiths noch auf eine Befreiung der Menschen von Zwängen der Feudalherrschaft hinausgelaufen sei. Das Massenphänomen der Unfreiheit am Arbeitsplatz sei daraus erst entstanden, als die selbstständigen Handwerker und kleinen Familienbetriebe, die Smith im Sinn gehabt hätte, immer mehr von großen, kapitalkräftigen Unternehmen verdrängt worden seien.

Andersons Text, der aus zwei Vorlesungen hervorgegangen ist, wird ergänzt von Kommentatoren aus unterschiedlichen Fächern. Zwei weisen zu Recht auf die Blauäugigkeit hin, mit der Anderson die Vorstellungen von einer egalitär-befreienden Wirkung eines freien Arbeitsmarkts referiert. Sie vergisst zu erwähnen, dass es sehr stark auf die ökonomische Ausgangslage der Marktteilnehmer ankommt. Denn diese bestimmt deren Verhandlungsposition. So nahm die Einzäunung und Inbesitznahme von Grundstücken (Enclosure) der britischen Landbevölkerung einst die Möglichkeit zur Selbstversorgung und zwang sie zur Lohnarbeit – oft durchaus absichtsvoll. Der Ökonom Tyler Cowen merkt außerdem an, dass die Arbeitnehmer sehr wohl die hierarchische Natur des Arbeitsverhältnisses sähen. Sie akzeptierten diese aber im Tausch gegen ein Gehalt. Bei den Reformvorschlägen und den Beispielen wird die starke US-Zentriertheit des Buches deutlich. Viele der Rechte, die Anderson einfordert, genießen deutsche Arbeitnehmer längst.

Kapitalismus macht Angst

Der emeritierte Psychologieprofessor Mausfeld geht die Sache in „Angst und Macht“ grundsätzlicher an. Für ihn ist „Arbeit im Kapitalismus grundsätzlich ohne Angst undenkbar“. Der existenzielle Zwang, seine Arbeitskraft erfolgreich zu vermieten – und die Versagensangst, die daraus resultiert – hielten das System am Laufen. Der Kapitalismus bringe zwar großen materiellen Wohlstand hervor, argumentiert Mausfeld. Zu wenig würden aber die hohen Kosten gesehen und diskutiert. Dazu zählt er die psychologischen Kosten bei den Verlierern und den vielen, die Angst vor dem Verlieren haben, sowie die ökologischen Kosten. Sein Hauptthema sind die Mechanismen, mit denen die vom Kapitalismus erzeugte Angst als Herrschaftsinstrument der Eliten verstärkt und missbraucht werde. Sein schmaler Band ist die radikalste der fünf Neuerscheinungen und für Anhänger der liberalen, oder wie Mausfeld es nennt, der „kapitalistischen Demokratie“ am schwersten zu verdauen.

Kapitalismus vereinzelt

Raghuram Rajan ist als Chicago-Ökonom, der schon Notenbankchef Indiens und Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds war, definitiv nicht sozialismusverdächtig. Und doch kritisiert er die heutige Erscheinungsform des Kapitalismus recht deutlich. Seine Idealvorstellung erinnert an die Vorstellungen mancher Ordoliberaler, die sich funktionierende Marktwirtschaft und Demokratie am besten in überschaubaren örtlichen Gemeinschaften vorstellen konnten, in denen man sich kennt und einander vertraut. „The Third Pillar“ beschreibt die namensgebende „Dritte Säule“ als ein Geflecht aus gegenseitigen Abhängigkeiten in lokalen Gemeinschaften. Einen großen Teil des Buches macht die Darstellung einer historischen Entwicklung aus, bei der sich die Entscheidungszentren auf immer höhere Ebenen verlagerten und die lokalen Gemeinschaften abseits der Metropolen ihres Wesens beraubt wurden. Diese Gemeinschaften will Rajan gestärkt sehen. Sie sollen wieder mehr über die Belange entscheiden dürfen, die für ihre Mitglieder wichtig sind. Hier gibt es sicher Potenzial. Die Auflösung der Wirtschaftsfakultät der Uni Chicago, die die heutige Überbetonung des Individuums wie kaum eine andere Institution vorangetrieben hat, wäre ein erster Schritt. Das Spannungsverhältnis von globalisierter Wirtschaft und lokaler Verbundenheit der Menschen wird sich mit den Vorschlägen Rajans aber kaum auflösen lassen.

Kapitalismus spaltet

Auch Paul Collier, ein renommierter britischer Ökonom, akzeptiert den Kapitalismus als „unabdingbare Voraussetzung für den Wohlstand der Massen“ und will ihn durch mehr Gemeinschaft verbessern „Sozialer Kapitalismus!“ ist sein Ziel und Titel seines Buches. Das Grundproblem sieht er in drei zunehmenden Spaltungen: der regionalen zwischen Metropolen und dem traurigen Rest des jeweiligen Landes, der zwischen Qualifizierten und Unqualifizierten und der zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Er betont den Pragmatismus seiner Reformvorschläge – im etwas zu oft und zu selbstgefällig herausgestellten Gegensatz zu angeblich ideologischen Vorschlägen ungenannter anderer. Heraus kommt ein Potpourri an möglichen Maßnahmen. Gegen die regionale Spaltung schlägt er eine besondere Agglomerationssteuer auf hohe Einkommen in Metropolen vor, gegen die soziale Spaltung mehr Unterstützung für Familien, bessere Bildungspolitik und ein bisschen mehr Umverteilung. Die Auswahl ist stark an britischen Gegebenheiten ausgerichtet. Ausgerechnet für die globale Spaltung, eigentlich Fachgebiet des Entwicklungsökonomen, bietet er trotz vorheriger Ankündigung nicht wirklich Gegenmaßnahmen an – abgesehen vom wohlfeilen Vorschlag, mehr „gute“ Unternehmen zum Engagement in Entwicklungsländern zu motivieren.

Kapitalismus ist alternativlos

Der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Plumpe hat mit „Das kalte Herz“ eine sehr ausführliche und gut lesbare Geschichte des westlichen Kapitalismus vorgelegt. Getrübt wird die Lesefreude durch eine sehr einseitig-defensive Grundhaltung des Autors, der den Kapitalismus durchgängig und oft holzschnittartig gegen jegliche Kritik verteidigt. Argumente wie: Ungleichheit gehöre zwar zwingend zum Kapitalismus, sei aber kein großes Problem, weil der „Fahrstuhleffekt“ alle reicher mache, helfen kaum beim Versuch, Skeptiker zu überzeugen. An der jüngsten Finanzkrise war für Plumpe der Staat schuld, weil er zur Krisenbewältigung vorhersehbar in das freie Spiel der Marktkräfte eingriff und so die Marktteilnehmer zu übermäßigem Risiko verleitete. Trotz der inzwischen sehr reichhaltigen Literatur dazu, dass Spekulationsblasen und schwere Finanzkrisen ein häufig wiederkehrender Bestandteil unseres Wirtschaftssystems sind (zum Beispiel „Dieses Mal ist alles anders: Acht Jahrhunderte Finanzkrisen“), betont Plumpe unbefangen, die letzte Finanzkrise sei keine kapitalismustypische Erscheinung gewesen. Sie sei vielmehr einer speziellen historischen Situation geschuldet, in der die Geld- und Kapitalsummen zu-, die Investitionschancen aber abgenommen hätten.

Aus der Zeit gefallen wirkt der Band dadurch, dass Umweltzerstörung und Klimaveränderung als Problem des Kapitalismus auf über 700 Seiten praktisch nicht vorkommen. So kann Plumpe dem Kapitalismus wegen seiner angeblich überlegenen „Problemlösungselastizität“ eine goldene Zukunft prognostizieren. Dabei räumen selbst konservative Ökonomen seit Langem ein, dass der Markt mit ökologischen Problemen, die viele Menschen heute für existenziell halten, nur schlecht zurechtkommt.

Die Bücher

Elizabeth Anderson: Private Regierung: Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden).“ Februar 2019 (Engl. Original 2017). Gebunden. 24€.

Paul Collier: „Sozialer Kapitalismus: Mein Manifest gegen den Zerfall unserer Gesellschaft.“ Februar 2019 (Engl. Original 2018). Gebunden. 20€.

Rainer Mausfeld: „Angst und Macht: Herrschaftstechniken der Angsterzeugung in kapitalistischen Demokratien.“ Juli 2019. Taschenbuch. 14€.

Raghuram Rajan: „The Third Pillar: The Revival of Community in a Polarised World.“ Februar 2019. Taschenbuch. 17,35€.

Werner Plumpe: „Das kalte Herz: Kapitalismus: die Geschichte eine andauernden Revolution.“ Februar 2019. Gebunden, 34€.

[13.8.2019]

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