Buchempfehlung mit Leseprobe: „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut“

9.5. 2022 | Von Albrecht Müller stammt eine der besten Anleitungen zur Selbstverteidigung gegen Manipulation und Propaganda. Nun ist, zweieinhalb Jahre nach der Erstausgabe, eine erweiterte und überarbeiteter Neuauflage erschienen. Müller war Planungschef im Bundeskanzleramt unter Brandt und Schmidt und Abgeordneter. Seit 2003 ist er Herausgeber des laut Wikipedia „verschwörungstheoretischen“ Portals NachDenkSeiten. Ich würde es aufklärerisch nennen. Gleich ein schönes Beispiel für die Manipulationstechniken, die Müller beschreibt.

Die Manipulation mit Begriffen wie „verschwörungstheretisch“ seziert Müller im dritten Kapitel unter „Manipulationstechniken“. Einschlägig sind die Unterkapitel „Manipulation mithilfe von ständig gebrauchten und mit einer Bewertung versehenen Begriffen“ und „Übertreiben – es wird schon etwas hängen bleiben“, wobei das Wort Verschwörungstheoretiker selbst nicht vorkommt, dafür der Populist, ebenfalls ein inflationär gebrauchter Schmähbegriff, den jeder zu verstehen meint, aber keiner sinnvoll definieren kann.

Den zweiten Hauptteil des Buches bilden Beispiele von manipulierten Sichtweisen, die dem Publikum mit diesen Techniken eingepflanzt worden sind, von gerechten, eigenen Kriegen, über die „Staats“-Schuldenkrise bis zur unausweichlichen Rentenkürzung aufgrund des „demographischen Wandels“.

Mir freundlicher Genehmigung des Westend-Verlags veröffentliche ich hier im Auszug das Unterkapitel zu „Mehr Fortschritt wagen“, dem Slogan der Ampelkoalition.

Mehr Fortschritt wagen – eine clevere Täuschung des Publikums

»Mehr Fortschritt wagen« – dieses Motto der Ampelkoalition ist eine sehr bewusst formulierte Parole. Sie erinnert an Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen«. Damit werden Anleihen von einer Person übernommen, die inzwischen bei einer breiten Öffentlichkeit großes Ansehen genießt. Es ist nicht zu bestreiten, dass das Programm, das am 24. November 2021 von den Koalitionären vorgestellt worden ist, fortschrittliche Elemente enthält. Aber bei den Antworten auf zentrale Fragen der äußeren und inneren Politik kann man nicht von Fortschritt sprechen. An vier Beispielen will ich das zeigen.

Altersvorsorge

In Kapitel IV.2. war beschrieben worden, welch ein Irrtum es ist anzunehmen, man könne durch Verschiebung von Beiträgen zur Gesetzlichen Rentenversicherung hin zu einem kapitalgedeckten Altersvorsorgesystem die Folgen des demographischen Wandels für die Altersvorsorge auffangen. Man konnte schon bei Einführung der Riester-Rente wissen, dass das nicht funktioniert.

Trotz der unumstößlichen Erkenntnis, dass die Sorge und der Unterhalt für die alten Menschen wie für die Jugendlichen und Kinder von den Arbeitsfähigen einer Generation geleistet werden müssen und irgendwelche Verschiebungsversuche mithilfe sogenannter Kapitaldeckung grundsätzlich nicht möglich sind, also trotz dieser klaren Erkenntnis hat die Ampelkoalition beschlossen, erneut in die Förderung einer kapitalgedeckten Altersvorsorge eintreten zu wollen.

Jetzt soll es mit den eingesammelten Altersvorsorgeprämien sogar auf die Aktienmärkte gehen. Das ist nicht Fortschritt, sondern Rückschritt. Offensichtlich haben die Kräfte, die die Ampelkoalition prägen, das Desaster der Riester-Rente verschlafen und sie glauben auch daran, dass mit steigenden Kursen an den Aktienmärkten Werte geschaffen würden, reale Werte, und dass man an diesem vermeintlichen Wertzuwachs partizipieren könne, wenn man Teile der Altersvorsorgebeiträge der arbeitenden Bevölkerung in den Aktienmärkten investiert.

Die wirkliche Lösung des Problems liegt in der konsequenten Konzentration auf die Gesetzliche Rente, mit der man zum Beispiel in Österreich höhere Renten erreicht. Es hätte auch nahegelegen, andere Gruppen, die bisher nicht im System der Gesetzlichen Rente integriert sind, mit einzubeziehen. Also Beamte, Soldaten, Freiberufler. Diese einzubeziehen, hätte auf lange Sicht zwar keine Entlastung des Systems gebracht, weil die neuen Beitragszahler mit dem Eintritt in die Gesetzliche Rentenversicherung auch Ansprüche auf Rentenzahlungen erwerben würden. Aber diese Gruppen einzubeziehen wäre gesellschaftlich betrachtet fair gewesen, weil dann die Gesellschaft nicht gespalten wäre in solche, die eine gute Altersvorsorge haben, und in solche, die eine magere Altersvorsorge haben.

Außen- und Sicherheitspolitik – vom Volk der guten Nachbarn zur neuen Konfrontation

1989 fiel die Mauer, 1989 und 1990 beendete man die Konfrontation zwischen Ost und West, und wer auch nur ein bisschen friedenspolitisch unterwegs war oder wer auch nur die Kriege noch im Gedächtnis oder sich historisch gebildet hatte, wusste, welch ein Wahnsinn, welch ein Leid der Erste Weltkrieg und der Zweite Weltkrieg über die Deutschen und andere Völker gebracht hatte. Wer sich nicht nur am Interesse des eigenen Volkes orientierte, sondern auch ein bisschen darauf schaute, wie andere Völker unter uns gelitten hatten, war 1989 und 1990 glücklich.

Da waren nicht nur Mauern eingerissen worden, da hatte man sich auch darauf verständigt, dass man abrüsten will, statt aufzurüsten, dass Frieden mit allen europäischen Völkern sein solle. Das schloss selbstverständlich Russland mit ein. Doch das ist jetzt alles durch den Kamin gejagt. Im Koalitionspapier der Ampel wird EU-Europa gefeiert. Das kann man ja machen, aber dann sollte man ganz Europa einbeziehen und diesen Kontinent als Ganzes hochleben lassen. Aber auf Betreiben der USA ist in den 1990er Jahren Russland Stück für Stück aus Europa hinausgedrängt worden, obwohl es dazugehört.

1989 haben wirklich fortschrittliche Menschen über die Sicherheit Europas nachgedacht. Man sprach von Gemeinsamer Sicherheit. Jene Partei, die die Initiative zur Entspannungspolitik der 1960er, 1970er und 80er Jahre ergriffen hatte, die SPD, hat 1989 in ihrem Berliner Grundsatzprogramm festgehalten, dass die militärischen Bündnisse der Vergangenheit angehören sollten, nicht nur der Warschauer Pakt, auch die NATO. Welch ein Fortschritt! Aber das ist mittlerweile, das ist in Zeiten der Regierungsübernahme durch die SPD-geführte Ampel im Herbst 2021 alles vergessen. Nach ihrer Vorstellung soll aufgerüstet werden. Ich sehe keinen Unterschied zur Regierung Merkel. Die NATO wird gefeiert, statt sie abzubauen und unnötig zu machen. Die Koalition hat beschlossen, dass es bewaffnete Drohnen der Bundeswehr geben soll. Es soll also nicht, was wirklicher Fortschritt erfordern würde, den USA untersagt werden, von deutschem Boden aus, von Ramstein aus den US-Drohnenkrieg in Europa, Afrika und Asien zu koordinieren Es gibt im Koalitionspapier keine differenzierte Betrachtung des Konfliktes um die Ukraine und Russland. Die neue Koalition betet das nach, was die USA und deren Verbündete in Osteuropa vorsagen.

Die außenpolitischen Vorstellungen der neuen Koalition in Kombination mit der Personalwahl, nämlich die Vorsitzende der Grünen Annalena Baerbock zur Außenministerin zu machen, sind alles andere als fortschrittlich. Es ist friedenspolitisch betrachtet ein großer Rückfall, Rückschritt, Restauration und es ist gefährlich.

Überall im außen- und sicherheitspolitischen Programm der Ampel-Koalitionsvereinbarung ist zu spüren, dass die neue Koalition genauso wie die vorige Große Koalition unter der Fuchtel der USA steht. Das ist kein Fortschritt. Das ist festgeschriebener Rückschritt.

Wie wenig eigenständig die Außen- und Sicherheitspolitik der Ampelkoalition in der Praxis ist, konnten wir sehen und erleben, als der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland immer schärfer wurde und Russland am 24. März 2022 einen Krieg gegen die Ukraine begann. Jetzt wären letzte Versuche zur Rettung des Friedens nötig gewesen. Die Ampel hat stattdessen alle Verschärfungen mitgemacht: Waffenlieferungen, Fixierung der Auseinandersetzung auf Personen, konkret auf Putin, massive Aufstockung der Rüstung um 100 Milliarden. Damit ist auf Jahre hinaus die ursprüngliche Idee der führenden Regierungspartei SPD, sich auch in schwierigen Situationen zu verständigen zu suchen, den notwendigen Wandel durch Kooperation statt durch Konfrontation zu suchen, hinfällig. Alles verlernt, alles vergessen. Das ist kein Fortschritt.

Es ist verständlich, dass es schwer zu vermitteln ist, Krieg führenden Nationen die Hand zur Verständigung zu reichen. Das war möglich. Eine deutsche Regierung, die Regierung Willy Brandt, hat trotz der im August 1968 stattfindenden militärischen Intervention der Sowjetunion in Prag die begonnene Entspannungspolitik fortgesetzt und dann schon 1970 mit Moskau einen Vertrag über Gewaltverzicht abgeschlossen. Diese Politik hat sich später ausgezahlt. Die Berliner Mauer fiel. Ost und West haben sich verständigt. Was jetzt geschieht, ist alles andere als Fortschritt. Es ist die Anpassung an die übliche Denkweise und allgemein verbreitete Stimmung: wie du mir, so ich dir. Außer der Politik der Stärke fällt der Ampel auch nichts Besseres ein als der abgelösten CDU/CSU.

Ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung

Die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland war schon vor 30 Jahren ungerecht und unfair. Dieser Zustand hat sich noch weiter verschärft, korrekter müsste man wohl sagen: wurde verschärft. Die Gewinne der Unternehmen steigen, die Dividenden auch; zugleich ist der sogenannte Niedriglohnsektor ausgebaut worden. Darauf war ein leibhaftiger Bundeskanzler, Gerhard Schröder, stolz. »Der Wohlstand in Deutschland konzentriert sich zunehmend am oberen Ende der Skala: Das reichste Zehntel der erwachsenen Bevölkerung besitzt inzwischen mehr als 60 Prozent des gesamten Privatvermögens. Dagegen haben zwei Drittel fast gar nichts.«25 Gut 12 Prozent der Männer über 18 Jahren galten 2020 als überschuldet.26 Es wäre fortschrittlich, wenn die Ampel jetzt alles täte, um diesen Zustand zu ändern und zu verbessern. Dazu würde zum Beispiel gehören: die Wiedereinführung der Vermögensteuer – Fehlanzeige. Dazu würde gehören eine Erbschaftssteuerregelung, die die Verteilung der Vermögen wenigstens ein bisschen verändert – Fehlanzeige. Dazu würde auch gehören, den Spitzensatz der Einkommensteuer und damit die Einkommensteuer insgesamt etwas zu erhöhen, wenigstens so hoch, wie der Spitzensteuersatz zu Zeiten von Bundeskanzler Schmidt und Kohl lag: Zunächst bei 56 Prozent, dann bei Kohl abgesenkt auf immer noch 53 Prozent – Fehlanzeige. Heute sind es 42 Prozent plus 3 Prozentpunkte Reichensteuer.

Der Einfluss der internationalen Finanzkonzerne

In den letzten zwei Jahrzehnten haben meist angelsächsische Finanzkonzerne einige tausend deutsche Unternehmen aufgekauft und beherrschen außerdem mit minimalen Beteiligungen die Entscheidungen in vielen deutschen Unternehmen – dank ihrer großen Verflechtung und ihrer Markt- und Finanzmacht. Das schaffen Finanzkonzerne wie BlackRock und Blackstone mit niedrigen Kapitalanteilen von rund vier Prozent. Zurzeit versuchen sie zudem, die Gesellschafts- und Sozialpolitik der Europäischen Union und Deutschlands zu bestimmen. BlackRock zum Beispiel erhebt den Anspruch, die Altersvorsorgesysteme in Europa mitzugestalten und mitzubetreiben.

Was soll fortschrittlich sein daran, dass die Fremdbestimmung unserer Wirtschaft so weit gediehen ist und nichts dagegen unternommen wird?

Das Mindeste, was man von der Ampelkoalition verlangen müsste, wäre, dass sie offenlegt, wie stark der Einfluss ausländischen Kapitels auf die Parteien schon jetzt ist. Friedrich Merz war von 2016 bis 2020 Aufsichtsratschef des deutschen Ablegers des Vermögensverwalters BlackRock. 2022 ist er CDU-Vorsitzender geworden. Seine Funktion bei BlackRock hat er aufgegeben. Wer glaubt, dass damit auch der direkte personelle Einfluss der Finanzkonzerne auf eine der großen Parteien in Deutschland aufgegeben sei, soll in diesem Glauben selig werden.

Wenn die Ampel fortschrittlich sein wollte, dann hätte sie doch diesen Vorgang als Skandal bezeichnen und zu einem großen öffentlichen Thema und das Zurückdrängen internationaler Finanzkonzerne zum programmatischen Punkt machen müssen – Fehlanzeige.

Die Propaganda zur Fortschrittlichkeit des Koalitionsvertrags der Ampel war übrigens schon vor Regierungsbildung so wirkungsvoll, dass am 4. Dezember 2021 98,84 Prozent der Delegierten des virtuellen SPD-Parteitages dem neuen Regierungsprogramm zugestimmt haben. Das sind DDR-Abstimmungsverhältnisse – das passt zu der gewachsenen Bedeutung der Propaganda in der deutschen Politik. 98,84 Prozent Zustimmung zu diesem Ampelprogramm – soll das Fortschritt sein?

Albrecht Müller: „Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut“ , erweiterte und überarbeitete Neuauflage, 192 Seiten, Westend Verlag, 10 Euro, 9.5.2022, ISBN 978-3-86489-910-2.

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