Buchempfehlung: Walter Lippmann, der Großmeister der Meinungsmanipulation, neu aufgelegt

Walter Lippmann war ein ungemein einflussreicher Journalist und Medientheoretiker. Seine Schrift „Die öffentliche Meinung“ aus dem Jahr 1922 war ein Vorläufer des vielleicht noch einflussreicheren Buchs „Propaganda“ von Edward Bernays. Die beiden waren Pioniere der systematischen Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die Schaffung von Stereotypen und das Erzeugen von Bildern. Im Colleque Lippmann in Paris wurde der Neoliberalismus aus der Taufe gehoben.

Silja Graupe und Walter Otto Ötsch haben „Die öffentliche Meinung“ neu aufgelegt, mit einem längeren einordnenden Vorwort, das ich hier mit freundlicher Genehmigung in Auszügen widergebe. Zusätzlich möchte ich darauf hinweisen, dass meine ordoliberal-neoliberale Kollegin Karen Horn in der NZZ eine lesenswerte Rezension dreier englischsprachiger Bücher zum Colloque Lippmann und der Entstehung des Neoliberalismus veröffentlicht hat, die im Internet frei zugänglich ist.

Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung. Frankfurt am Main: Westend Verlag 2018 (amerikanisches Original 1922)

Auszug aus dem Vorwort von Walter Otto Ötsch und Silja Graupe*

Walter Lippmann beginnt Die Öffentliche Meinung mit seinem Kerngedanken: Menschen verfügen über keinen einfachen und direkten Zugang zu der „äußeren Welt“, stattdessen ist eine „Pseudo-Umwelt“ dazwischen angesiedelt. Allein auf diese [imaginäre] Vorstellungswelt reagieren Menschen. Aber ihr Handeln hat Folgen, – nicht in der Vorstellungswelt, sondern in der Realität, der Handlungswelt. Dieser Unterschied stellt für Lippmann den Schlüssel schlechthin dar, um die moderne Gesellschaft zu verstehen und der Frage nachzugehen, wie sie gestaltet werden kann.

Was und wie lässt sich in diesen, unseren Zeiten von Lippmann lernen? Wo kann Die öffentliche Meinung uns helfen, wieder mehr Tiefgang in aktuelle Debatten und Handlungsstrategien zu bringen? Zentral scheint uns zunächst Folgendes: Bereits 1922 plädiert Lippmann dafür, die Komplexität der Dreiecksbeziehungen von Mensch, Pseudo-Umwelt und Umwelt nicht mehr aus den Augen zu verlieren oder auf eine bloße Gegenüberstellung von Mensch und Umwelt zu reduzieren. Gerade in der heutigen Gesellschaft, in der wir uns mehr über Bilder von Erfahrungen, denn mittels unmittelbarer Kontakte und direktem Austausch aufeinander beziehen, ist es aus unserer Sicht bestenfalls naiv und schlimmstenfalls gefährlich, die Dimension der Pseudo-Umwelt und ihre gestalterische Macht auszublenden. Genau diese Art der Ignoranz stellt aus unserer Sicht aber ein Kernmerkmal aktueller politischer Debatten dar: Während ein ganzes Heer von Think Tanks, PR-Agenturen, Markentechnikern und Spin-Doktoren im praktischen Sinne buchstäblich von der Ausbeutung und Manipulation dieser Pseudo-Umwelt lebt und es eine unüberschaubare Menge insbesondere ökonomischer, kognitionswissenschaftlicher und psychologischer Forschung gibt (die dieser Praxis das notwendige Know-How bis hinein in die tiefsten Tiefen des Individuums, die diesem selbst weitgehend unbewusst sind, vermittelt), existiert ein breit angelegter politischer Diskurs über gewünschte und verantwortbare Formen dieser Pseudo-Umwelt nicht. Auch findet in den Bildungssystemen kaum eine Form der Aufklärung über die gegenwärtig existierenden Manipulationsformen statt. Es wirkt, als ob sich sowohl die Politiker als auch die breite Bevölkerung damit abgefunden hätten, stets auf der Seite der Beeinflussten zu stehen und von einer unsichtbaren Regierung im Sinne Edward Bernays dominiert zu werden.

Das Problem, wie wir es sehen, liegt darin, dass die Entscheidung, sich unbewusst von einer nicht weiter erkennbaren Elite beeinflussen zu lassen, selbst bereits auf der Ebene des Unbewussten angesiedelt zu sein scheint. Schaut man auf Lippmanns Werk, so muss dies aber keineswegs der Fall sein: Selbst wenn wir als Gesellschaft darüber übereinkämen, dass wir uns in der heutigen Zeit auf bildgebende Eliten verlassen müssen, so ließe sich dennoch durchaus wieder Hoheit über die Frage erlangen, wer genau diese Eliten sein und nach welchen Regeln sie agieren sollen. Doch diese Entscheidungsmacht beansprucht weder die Politik noch die Zivilgesellschaft in ausreichendem Maße. Ja, sie wird häufig (aus unserer Sicht zu häufig) noch nicht einmal als bloße Möglichkeit erkannt. Stattdessen dominiert eine „Realpolitik“, die sich eng an den als real anerkannten Bedingungen und Möglichkeiten orientiert, ohne zu verstehen, dass diese Anerkenntnis immer schon ein bereits bestehendes Klima der öffentlichen Meinung voraussetzt, d.h. im Sinne der Beeinflussung immer schon einen Schritt zu spät einzusetzen droht.

Die Folge, so meinen wir, droht eine (postdemokratische) Abwertung von Politik insgesamt zu sein, die sich in einer Krise der Repräsentation manifestieren kann, in der sich Teile der Bevölkerung von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Eine eingehende Studie von Lippmanns Werk kann auf das grundlegende Problem hinweisen: Wie soll sich die Bevölkerung bei jenen aufgehoben fühlen, die trotz ihrer herausgehobenen Position als sichtbare Vertreter von Herrschaft, sich am Ende ebenso blindlings einer unsichtbaren Machtelite unterwerfen, als ob sie Teil der „Masse“ selbst wären?

Dies führt zu einer weiteren Frage: Wer können und sollen heute jene Eliten sein, die den Willen und die Verantwortung aufbringen, die Welt (unsichtbar für die Masse) zu führen? Wie könnten sie demokratisch legitimiert werden, wenn sie doch stets drohen, jene grundlegenden Weltanschauungen zu formen, die darüber entscheiden, was wir als Gesellschaft überhaupt unter ‚legitim‘ verstehen und kommunizieren können? Wo und worin werden sie gebildet? Die öffentliche Meinung zeigt, dass Lippmann damals um solche brennenden Fragen zumindest noch wusste. Auch wenn seine Antworten recht kursorisch ausgefallen sein mögen, so zielen sie dennoch in die richtige Richtung. Wichtig erscheint uns dabei insbesondere seine  klare Auffassung, dass die Eliten keinesfalls allein Kapitalinteressen dienen dürfen.

 Wo sind also die Eliten der heutigen Zeit geblieben? Sind sie womöglich Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden? Wissen die manipulierenden Eliten womöglich nicht mehr, was sie manipulieren, weil sie selbst über kein Bild der Gesellschaft mehr verfügen? Haben sie die durch ihre eigene Propaganda vermittelte Abwertung der Politik selbst schon verinnerlicht?

Folgt man den Ausführungen Lippmanns in Die öffentliche Meinung genau, dann ist keinesfalls gesagt, dass wir allein nach neuen bildsteuernden Eliten rufen müssten. Insbesondere seine Vorschläge zur Bildung, die wir oben skizziert haben, weisen darauf hin, dass sich Politiker ebenso wenig wie die Zivilgesellschaft damit zufrieden geben müssen, lediglich die Rolle einer weitgehend bewusstlosen „Masse“ zu spielen. Der lange Prozess einer zunehmenden Steuerung gesellschaftlicher „Pseudo-Umwelten“ über ein Jahrhundert wurde nur möglich durch eine abnehmende Bewusstheit der bildgebenden Kraft im Menschen selbst (Ötsch/Graupe 2018). Doch jede Beeinflussung durch soziale Bilder geht durch den Menschen hindurch, jeder und jede ist betroffen. Als soziale Wesen benötigen wir imaginative Bilder, in denen wir uns an andere binden. Als Gesellschaft teilen wir einen imaginativen Raum, der uns als Individuen trägt. Wenn dieser Raum manipulativ beeinflusst wird, dann berührt die Manipulation das, was als der kostbarste Teil jedes Menschen gesehen werden kann: seinen und ihren imaginativen Innen-Raum.

Wir sehen mit größter Besorgnis, dass heutzutage eher bei jenen ein Wissen über diesen Raum und dessen Veränderbarkeit besteht, die ihn für ihre eigenen Zwecke auszunutzen suchen und dafür das stillschweigende Vertrauen unzähliger Menschen manipulieren, ausbeuten und ultimativ aufs Spiel setzen. Doch auch wenn bei den so Ausgebeuteten über diese Form der Ausbeutung nur noch wenig explizites Wissen existieren mag, so scheint doch eine dunkle Ahnung zu bestehen. Was aber, wenn diese Ahnung dazu führt, dass das Vertrauen in den sozialen Raum selbst verloren geht? Wird dann das Kostbarste, weil auf fundamentale Weise Verbindende, das wir in der Gesellschaft haben, zerstört? Wir meinen: Es wird höchste Zeit, dass wir uns als Gesellschaft über die Macht innerer Bilder zumindest wieder jenes Wissen aneignen, das vor gut 90 Jahren über sie existierte. Lippmanns Werk ist hierfür ein guter Ausgangspunkt.

* Walter Ötsch und Silja Graupe sind Professoren an der Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues: Ötsch für Ökonomie und Kulturgeschichte und Graupe für Ökonomie und Philosophie. Beide forschen gemeinsam über die Macht der Bilder und ihren Einfluss in ökonomisierten Gesellschaften und neoliberalen Wirtschaftssystemen in der neu von ihnen begründeten Teildiziplin „Wirkungsforschung der Ökonomie“, die sie auch zum Lehrinhalt des Masterstudiengangs „Ökonomie und Gesellschaftsgestaltung“ an der Cusanus Hochschule erhoben haben.

[1.8.2018]

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