Ulrike Guérot: „Wer schweigt, stimmt zu“ – Buchtipp mit Leseprobe

7. 03. 3022 | Dieses Buch von einer (bisher?) angesehenen und hochgelobten Politikwissenschaftlerin über Auswüchse und Folgen des Corona-Regiments ist deshalb so wertvoll, weil es aus einer linken Perspektive kraftvoll hinterfragt, was eine fast komplett mit schönen Floskeln gekaperte Linke inzwischen als gegeben nimmt – ob die Verteidigung der Freiheit gegen staatlich-korporatistische Unterwerfung des Menschen tatsächlich ein rechtes oder gar rechtsradikales Anliegen ist.

Mit freundlicher Genehmigung des Westend-Verlags, der sich dieses vom eigentlich vorgesehenen Verlag abgelehnten Essays angenommen hat, veröffentliche ich hier einige Auszüge – als Appetithappen vor der unbedingt empfehlenswerten Lektüre des ganzen Essays. Die Auszüge beschäftigen sich vor allem mit den Themen „Was ist links – was ist rechts“ und „Neuer Feudalismus“.

 

Ulrike Guérot: „Wer schweigt, stimmt zu. Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen.“ Westend. Hardcover. 144 Seiten. März 2022. 16 Euro. ISBN 978-3-86489-359-9.

Ulrike Guérot. Alle drängten unter Panik in einen Zug, der immer schneller an Fahrt aufnahm. Es war der Zug der Coronamaßnahmen. Wer, wie ich, nicht in diesen Zug eingestiegen ist, hat das Zeitgeschehen von einer anderen Warte aus beobachtet und ist heute von der Gesellschaft entfremdet. Zwei Jahre schon fährt dieser Zug unaufhaltsam einem Ziel entgegen, das niemand mehr kennt. Diejenigen, die nicht eingestiegen sind, sind nur noch Zuschauer:innen eines Zeitgeschehens, das politisch und sozial höchst merkwürdig geworden ist und in dem die Fundamente von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gesellschaft inzwischen ernsthaft gefährdet sind. (…)

Die Gefahr des »Beifalls von der falschen Seite« ist nicht nur das falsche Argument, es ist das totalitäre Argument, wusste schon Hans Magnus Enzensberger. Sonst überlässt man anderen die Kontrolle darüber, was man selbst denken darf. Wenn der das sagt, darf ich das nicht denken, weil der andere eben pfui ist. Dieser Text hier wurde Anfang Januar 2022 von dem österreichischen Verlag, für den ich ihn ursprünglich geschrieben hatte, abgelehnt, nicht etwa, weil der Text schlecht sei, sondern weil man befürchtete, man werde den Reaktionen auf sozialen Medien nicht Herr. Ach so? Nach der Selbstzensur kommt die Zensur, kann man da nur sagen. Umso dankbarer bin ich dem Westend Verlag, dass er den kleinen Band jetzt veröffentlicht!

Entweder gelingt es, einen inzwischen unhaltbaren, auf immer mehr Widersprüchen und einem kolossalen Datensalat aufbauenden Corona-Diskurs zu entlarven und dem politischen Schrauben an der Maßnahmen-Spirale, vor allem aber der Verstetigung der Maßnahmen ein Ende zu setzen, also ein demokratisches System wieder in seine Spur zu bringen. Oder das System wird notwendigerweise autoritär, weil ein Systemversagen kaschiert und de facto ein Lügengebäude stabilisiert werden muss. (…)

Professionelle Agenturen wie etwa »Correctiv« oder der »Faktenchecker der ARD« hatten während der Corona-Berichterstattung eher den Haut Goût eines Wächterrates à la Iran, nämlich die Anmaßung, eine Wahrheit zu haben; und aus dieser Anmaßung heraus das Recht, Artikel auszusondern, wegen fehlerhafter Petitessen (zum Beispiel einer falschen Zahl hinter dem Komma) ganze Argumentationsketten zu verwerfen, Autor:innen moralisch oder persönlich zu diskreditieren, gar Beiträge zu löschen und den Verfasser:innen verwerfliche Absichten oder eine »false balance« zu unterstellen. Anstatt den Fehler zu korrigieren, aber den Einwand ernst zu nehmen, wie man das in einem normalen Diskurs tut. Twitter, YouTube & Co. säuberten fleißig mit. Dass der Begriff der »false balance« sich schon allein dadurch diskreditiert, dass ein Artikel kein Balanceakt ist, sondern die Ausleuchtung eines Themas von einem gewissen Standpunkt aus, soll hier nur am Rande erwähnt werden. Jedes Faktum sieht von einer anderen Seite, mit anderen Augen beleuchtet anders aus. (…)

Eine moralisch überlegene Elite

Selten wurde diskurstechnisch eine meritokratische und formal gebildete Elite (Personen, die meist nicht unter den Maßnahmen gelitten und zum Beispiel ihre Existenz verloren haben) so sehr gegen das sogenannte einfache Volk gestellt (das geprellt, um nicht zu sagen: nachgerade geschädigt wurde!). Und das sich weder wehren noch artikulieren konnte, fast notwendigerweise in alternative Medien flüchtete, in die Gleichgültigkeit abtauchte – oder sich (leider!) radikalisierte. Jeder, der während der Coronakrise mit einem Handwerker, Taxifahrer, Winzer oder Bäcker gesprochen hat, weiß das.

Da ist es dann bequem, diejenigen Volksstimmen, die auf der Straße waren, als wahlweise rechts oder radikalisierten Rand abzutun. Selten wurde über einen Diskurs so viel strukturelle Macht – um nicht zu sagen: Gewalt! – einer meritokratischen Elite ausgeübt wie in den letzten zwei Jahren. Der Corona-Diskurs war insofern gleichsam die elitäre Begleitmusik zur parallel unter der Oberfläche stattfindenden Refeudalisierung der Gesellschaft, der fast obszönen Bereicherung der oberen Klasse und der Krisenprofiteure: Wer erinnert sich noch an die Geldschiebereien im Zuge des Maskenskandals im Frühjahr 2021? Allein Deutschland verzeichnet heute 70 000 Millionäre mehr als vor Corona. Kurz: Es gab beziehungsweise gibt einen nie dagewesenen Extremismus der bürgerlichen Mitte! (…)

Alle die – und das waren viele –, die in den vergangenen Monaten im Namen der Wahrheit dem Volkssport der »Diskurs-Säuberung« verfallen sind, seien kurz daran erinnert, dass selbst die Lüge in einer Demokratie erlaubt und die systemische Antwort der Demokratie die Entlarvung der Lüge, nicht das Löschen von YouTube-Clips oder die Beschlagnahmung von Computern ist. Würde man im politischen Betrieb bei allen Lügen so verfahren, dann müsste man wahrscheinlich im halben Bundestag oder den hiesigen Parteizentralen einen Großteil der Computer beschlagnahmen: Was ist den letzten Monaten – CumEx-Skandal, Wirecard oder Maut-Affäre – nicht gelogen worden, dass sich die Balken biegen? (..)

Eine mit schönen Worten gekaparte Linke

Mit dem Begriff der Solidarität wurde vor allem die politische Linke gekapert und in den Staatsgehorsam eines paternalistischen Staates geführt, den sie sonst immer gerne der Übergriffigkeit bezichtigt. Der Begriff Solidarität ist gleichsam das Mutterkorn progressiver Rhetorik, wer möchte nicht solidarisch sein? Auf einmal verteidigte die politische Linke die geschlossene Gemeinschaft und die Rechte die Freiheit: Das ist nicht nur eine verkehrte Welt, sondern man sollte mal darüber nachdenken, was es für eine Gesellschaft eigentlich heißt, wenn die sogenannte (populistische) Rechte jetzt die kulturelle Hegemonie für die Freiheit für sich beansprucht . (…)

Auch ist Demokratie eigentlich kein System, in dem es um eine Art Ablasshandel mit Privilegien geht, den man eher aus feudalen Systemen kennt. Und doch wurden die ganzen Monate über freie Bürger:innen mit Privilegien – wenn nicht gleich mit Bratwürsten oder Bier – gleichsam geködert: erst impfen, dann boostern, dann bist du 2G, dann bist du wieder frei. Und es passierte psychologisch genau das, nämlich das die meisten sich diese Privilegien sichern wollten, anstatt darauf zu insistieren, dass Grundrechte genau darum Grundrechte sind, weil sie unveräußerlich und nicht konditionierbar sind. (…)

Dass auf diese Weise jede Form der legitimen Gesellschaftskritik – eigentlich das Betätigungsfeld der Linken – zur Verschwörung umgemodelt wurde, die man nicht ernst nehmen muss und nach Belieben stigmatisieren kann, ist das eigentlich Fatale, das Skandalöse am Corona-Diskurs. Denn damit ist Verschwörung ein Kampfbegriff im Diskurs geworden, um das soziale Leid und die Schädigungen durch die Coronamaßnahmen nicht sehen zu müssen, ja, um sie verdrängen zu können.

Durch den Kampfbegriff der Verschwörung ist die Gesellschaftskritik, früher Treiber für Fortschritt und bessere Verhältnisse, quasi aus Politik und Gesellschaft verschwunden. Die hochgradig moralisierte Gesellschaft der Guten hat eben ein Problem mit denen, die aufgrund der gesellschaftlichen oder sozialen Zustände, die aufgrund der Durchsetzung des Guten geschaffen wurden, ein Problem haben. Ebenso schwer wiegt, dass das Umstülpen von Gesellschaftskritik in Verschwörung komplett übersieht, dass sich das, was die vermeintlichen Verschwörer thematisieren, sogar als richtig erweisen könnte.

Letztlich wurde kritische Gesellschaftstheorie – also die eigentlich zutreffende Analyse einer massiven gesellschaftlichen Transformation, die wir gerade erleben – mit dem Hinweis diskreditiert, dass sie einen konspirativen Erklärungszusammenhang über das Zeitgeschehen stülpe, wo doch nur die klar vor den Augen liegen Realität zähle: die Pandemie. (…)

Antifa wird Speerspitze des Corona-Regimes

Da in der Coronakrise selbst die Antifa, eigentlich der institutionalisierte Ungehorsam gegenüber staatlicher Übergriffigkeit, zur Speerspitze des Coronamaßnahmen-Gehorsams mutierte, anstatt sich auf die progressive Seite der Freiheit und gegen digitale Kontrolle und Überwachung zu schlagen, wanderte der Freiheitskampf nach rechts und mutierte dort zum Landesverrat.

Wie die Studien von Luc Boltanski zeigen, gehört das sublimierte Kapern der Linken unter dem Vorwand des Guten zu den erfolgreichsten Strategien diffuser, kapitalistischer Herrschaftssysteme. Wenn Rechte aber gegen diese Strukturen opponieren, ist das vermeintlich eine Verschwörung. War die Linke immer bereit, gegen den militärisch-industriellen Komplex zu kämpfen [wirklich? N.H.], so obsiegt der digital-biometrisch-finanzkapitalistische Komplex einfach dadurch, dass man ihn nicht sehen kann (keine brutalen Kriegsbilder, sondern stilles Leid der Vereinzelten); und sowieso alle in ihm gefangen sind wie in einem Fischernetz, mit ihren Smartphones, auf denen demnächst das digitale Zentralbankgeld direkt ankommt.

Der heute größte Vorteil der Macht ist, dass sie sublimiert ist, selten physisch – also mit Schlagstöcken – daherkommt, daher nicht schmerzhaft ist, sondern uns tiefenpsychologisch mittels Algorithmen so umgarnt, dass stets der Eindruck entsteht, es entstehe alles freiwillig und nur für das Gute. Selten war diese Fiktion perfekter inszeniert als heute. (…)

Ein neuartiger Totalitarismus

Das Perfide an dem heute sich ankündigenden Totalitarismus ist, dass er auf Samtpfötchen daherkommt. War es in bisherigen Epochen so, dass zuerst meist durch brutale Gewalt – etwa in den Gulags – eine Lüge zementiert wurde, so kommt die Lüge heute medial so perfekt eingekleidet daher, dass es (fast) keiner Gewalt mehr bedarf und man die schmuddelige Wirklichkeit auch gar nicht mehr gerne anschaut. Dazu braucht es erst einmal nicht viel Gewalt, außer der Vertuschung jenes Quäntchens, mit der man derzeit viele unbescholtene Bürger:innen durch Repressalien aller Art in die Ecke eines tatsächlich radikalisierten Randes und damit in die Ohnmacht drängt, tendenziell mutlos macht und so zum Schweigen bringt. Gegen strukturelle Gewalt ist eben nicht viel Kraut gewachsen.

Wenn Hannah Arendt schreibt, dass Totalitarismus die physische Extinktion des Individuums ist, so haben die Akteure der heute eher diffusen politischen und wirtschaftlichen Herrschaftsstrukturen – »der Schoß ist fruchtbar noch« – genau das aus dem letzten Jahrhundert gelernt: Totalitäre Regime, die physische Gewalt anwenden, sind out. Wie viel einfacher und angenehmer ist es da, stattdessen (nur) das Bewusstsein des Individuums zu erobern, ihm seinen ganz dem Kapitalismus unterworfenen Körper zu belassen – und doch gleichzeitig die volle Kontrolle über diese Körper und ihre vollständige Kommerzialisierung zu erhalten. Was heißt es schon, dass wir durch unsere digitalen Geräte alle permanent überwachbar sind, wenn es doch unser alltägliches Leben so sehr erleichtert? Und welche Freude, dass es bald dank implantierter Chips noch nicht einmal mehr ein Smartphone braucht und wahrscheinlich beizeiten auch keinen Türsteher mehr. Wer will noch Einblick haben in das Gesetz, wer braucht seine eigene Tür, wenn draußen Gleichheit und Sicherheit warten? Adieu, Individuum … (…)

Dass der Mittelstand hinweggefegt wurde, dürfte eine Tatsache sein, und jeder, der ein paar Essays über die Ursprünge totalitärer Herrschaft gelesen hat, weiß, dass diese fast immer mit der Vernichtung des Mittelstandes beginnt.

Seit mindestens 20 Jahren schreiben Soziologen wie Wilhelm Heitmeyer, aber auch der liberale Lord Dahrendorf, von einem heraufziehenden »autoritären Kapitalismus«, bei dem meistens die Populisten gewinnen. Am Anfang stehen Auflösungserscheinungen und bürgerkriegsähnliche Zustände, von denen der »Sturm auf das Kapitol« oder die Fackelträger in Ostdeutschland einen Vorgeschmack bieten. (…)

Dem religiösen oder jedem anderem Fanatismus geht eine soziale Krise voraus, das ist in den USA nicht anders als zum Beispiel im Nahen Osten. Wer keine Zukunft hat, radikalisiert sich und flüchtet sich in Ideologien. Neurologen können zeigen, dass es eine Art »Gerechtigkeitsgen« gibt: Verteilt man an Kinder im Kleinkindalter, also noch bevor sie zählen können, unterschiedlich viele Nüsse, werden diejenigen, die weniger bekommen, aggressiv. (…)

Die globale Linke, euphorisch bei dem Gedanken an unbegrenzte Solidarität, sah im Lockdown den kapitalistischen Tempel wanken, als sei Jesus Christus persönlich in der Postmoderne erschienen, um Blackrock, Vanguard & Co. einzureißen. Žižek, Chomsky oder auch Habermas schrieben ihre dümmsten Artikel ever. Dem Nimbus der Solidarität, des unbedingt Guten der verabsolutierten Lebensrettung, waren alle erlegen, so betörend war die Idee. Dort, wo die soziale Solidarität spätestens seit der Bankenkrise nicht mehr hergestellt werden konnte (»Europe, turn left«, schrieb damals, 2012, sogar der Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher), war die Linke nur allzu bereit, von »sozial« auf »Gesundheit« umzusteigen. Hauptsache Solidarität!

Was von der Linken noch letztes Jahr triumphal als Rückkehr des Staates gefeiert wurde, könnte sich indes bald als sein Ausverkauf entpuppen. Ebenfalls auf dem Altar der Lebensrettung landen könnten das Prinzip des Politischen selbst, die Demokratie und ihre beiden Grundpfeiler, das mündige oder emanzipierte Individuum, sprich Autonomie und Selbstbestimmung.

Anstatt in einer posthumanen Gesellschaft zu landen, in der der Mensch nicht mehr das Epizentrum des Planeten und Geld nicht mehr die Messgröße für Erfolg ist, könnte das Pandemiegeschehen den Weg in einen technologiegetriebenen Transhumanismus ebnen, den letzten großen Traum eines sinnentleerten, dafür aber autoritären Kapitalismus und die größte kapitalistische Einverleibung ever, seit Karl Polanyi 1944 seine Great Transformation geschrieben hat.

Der Mensch wird zum Datenpaket

Die Impfpflicht ist möglicherweise nur der Einstieg in eine unverfrorene Ausweitung der kapitalistischen Landnahme durch einen »Gebrauch der Körper« (Giorgio Agamben), indem der Körper selbst zum verhandelten Objekt von Politik und Gesellschaft wird. Und damit zur Grundlage eines digital-biometrischen Komplexes, der den ausklingenden Zyklus des militärisch-industriellen Komplexes ablöst. Die zentrale Frage ist, ob eine Demokratie strukturell mit einer solchen Ent-Subjektivierung und zugleich Kommerzialisierung des Körpers vereinbar ist? Welche Demokratie soll es geben können, wenn letztlich Würde, Individuum, Rechte und Autonomie, die zentralen Elemente demokratischer Theorien, digital beziehungsweise biometrisch erfasst, normiert und kommerzialisiert werden?

Der Impfpass, so Andrew Bud, der Geschäftsführer von iProov, einem Unternehmen für biometrische Zertifizierung, ist der Vorläufer eines »Digital Wallet«, einer digitalen Brieftasche. Dieser Vorläufer dürfte den gesamten Bereich der digitalen Identifizierung vorantreiben. Auf den Barcodes der grünen Pässe kann ein gewissermaßen unentrinnbares Netz der Überwachung etabliert werden, bei dem man Geolokalisierungsdaten eines jeden verfolgt: wer wann in welchem Restaurant, Hotel, Kino, Universität oder Fitnessstudio ein- und auscheckt, ist dann alles »trace­ able« – nachverfolgbar.

In Australien, Indien, China oder den USA ist dieser Prozess längst im Gang. In Indien ist ein digital-biometrisches System namens Aadhaar etabliert, eine Milliarde Inder hängen bereits an diesem System, das bisher größte biometrische digitale ID-Programm, an dem über Fingerabdrücke zum Beispiel Zuweisungen von Reis hängen. Wenn sich das System vertut, gibt es halt keinen Reis. Eine solche digitale Identitätsinfrastruktur öffnet Tür und Tor zu digitaler Kontrolle, social-scoring- und socialcredit-Systemen: eine leere Straße bei roter Ampel zu überqueren, ein unkontrollierter Wutausbruch, das Schludern bei der Lektüre von Texten von Xi Jinping, deren Abendlektüre für Chines:innen Pflicht ist, das alles kann unmittelbar sanktioniert werden: kein Flug- oder Zugticket mehr,kein Eintritt in das Theater oder kein Zugang zu begehrten Produkten.

Viele Menschen, die sich wegen der Sorge um ihre Existenz nach einem Ende der Einschränkungen sehnten oder einfach ihren Job behalten wollten, haben sich resigniert in digitale Ausweisprogramme gefügt, die eine Impfung gegen Corona bescheinigen und als Schlüssel zur Wiederherstellung der persönlichen Freiheit bezeichnet wurden. Die Umdrehung von Freiheit und Abhängigkeit ist inzwischen so perfekt gelungen, dass einem nur noch die Spucke wegbleibt. Weltweit werden Nicht-Geimpften der Zugang zu öffentlichen Räumen sowie Bürgerrechte verwehrt: Sie sind von Einkaufzentren, Bibliotheken, Banken, Universitäten und teilweise sogar von stationärer medizinischer Betreuung ausgegrenzt. Diese »Politik der Verbannung« ist längst in Europa angekommen.

Die Frage ist, ob es dabei wirklich nur um den Schutz vor Corona, Immunität oder gar Gesundheit geht oder um die Installation von Bewegungs- und mithin Überwachungs systemen, vorangetrieben, als nächstem Wertschöpfungszyklus, von einer gigantischen Tech-Branche, deren Namen alle kennen – Google, Amazon & Co. –, die wiederum auf das engste verbandelt ist mit Finanzgiganten wie Blackrock oder Vanguard. Beide zusammen übernehmen jetzt den »Sicherheitsrat« des autoritären Kapitalismus. Staaten waren gestern. Wen interessieren noch UN-Resolutionen? Die digitalen Überwachungssysteme werden jetzt vom »autoritären Kapitalismus« installiert, um den Körper als letzte »Ware« zu kapitalisieren, denn sonst ist kaum noch etwas auf der Welt, mit dem man Geld verdienen kann.

Verknüpft werden also – um nur ganz schnell dar­über zu fliegen – in einem ersten Schritt das Handy mit dem Körper (digitaler Impfpass). In einem zweiten Schritt dann Geld, Handy und Körper, zum Beispiel durch das geplante digitale Zentralbankgeld, also die Abschaffung von Bargeld. Das Einkommen kommt demnächst direkt aufs Handy und wird wohl – ein kleines Zuckerstückchen für die bittere Medizin muss sein – an ein bedingungsloses Grundeinkommen, gekoppelt. Die Linke jubelt schon, denn wenn der soziale Flurschaden (Inflation, Geschäfte­ ster­ben, Bildungsverlierer:innen) der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen erst sichtbar wird, steht – simsalabim – das universal basic income als prompte politische Antwort schon parat, um den sozialen Protest zu verhindern. Und schließlich sollen – das ist durchaus in Planung, aber noch Zukunftsmusik – Geld, Handy und Körper mit der Mensch-Maschine verknüpft werden, die die Menschen über Brain-Computer-Interfaces (BCI), also Implantate, direkt untereinander vernetzt. Man braucht in Zukunft also nicht einmal mehr das Smartphone zu zücken, um die WhatsApp der Freundin zu lesen, sie ist buchstäblich gleich unter der Haut und von da wahrscheinlich gleich auf der 3D-Brille. Digital vernetzt und die menschlichen Gehirne zentral zusammengeschaltet, kann keiner mehr raus aus dem Homo Deus. (…)

Dem Green Pass dürfte die nationale oder staatliche Zugehörigkeit egal sein, der nationale Pass, einst Symbol der Staatenwelt, wird zum Relikt vergangener Zeiten. Sowie alle anderen Identitäten, über die in den letzten Jahren der Identitätspolitik so gestritten wurde: Nicht trivial für das zukünftige (un)demokratische Geschehen ist also, dass der digitale Impfpass durch die Hintertür sämtliche Identitäts- und Zugehörigkeitskonzepte überlagert, die in den letzten Jahren en masse in den Demokratien des Westens diskutiert wurden: divers, jüdisch, migrantisch, homosexuell, transgender. Race, class, gender: Alles wieder egal! Der gemeinsame Nenner ist der digitale grüne (Impf-)Pass, der damit eigentümlich identitätsstiftend ist in Gesellschaften, deren Homogenität in den letzten Jahren durch Individualisierung und Wokeness arg strapaziert wurde. Die Gesellschaft der Singularitäten (Andreas Reckwitz) wird zusammengeklammert durch 2G: Hauptsache geimpft, heute gegen CORONA, morgen gegen etwas anders.

Man möchte die neue Einheit im fast universellen Sinn begrüßen, wenn die Substituierung der Ausgrenzung nicht so verblüffen würde: ausgegrenzt werden jetzt freie, gesunde Menschen, egal welcher Herkunft, die sich nicht impfen lassen und die nichts anderes tun, als auf ihrer Freiheit und ihrer körperlichen Selbstbestimmung zu bestehen – also auf Würde und Mündigkeit –, und die sich digitaler Bewegungskontrolle entziehen wollen. Damit liegt das Paradoxon für die neue Demokratie in ihrer dystopischen Varianz schon auf dem Tisch: Frei ist nur noch, wer sich in die – körperliche und geistige – Unfreiheit begibt.

Wenn diese bürgerliche Mehrheit jetzt über asymmetrischen Machtzugang zum Beispiel eine Impfpflicht »nur« für Pflegepersonal durchsetzen sollte, weil die allgemeine Impfpflicht vielleicht doch noch blockiert wird, man aber politischen Tribut zahlen muss an die Agenda der Lebensrettung (»wenigstens das haben wir durchgesetzt«), dann könnte das exemplarisch stehen für das, was es ist: eine perfide Entdemokatisierung und Refeudalisierung zugleich. Die Pflegekräfte sind nur mehr niedere Wesen, Arbeitsvieh, enthoben ihres rechtlichen Anspruchs auf körperliche Selbstbestimmung, und werden wie die Hunde vom Hof gejagt, wenn sie sich nicht impfen lassen. Die Demokratie, so könnte man sagen, wandelt sich in ihrem simulativen Zustand von einem progressiven in ein reaktionäres Instrument. Im neuen demokratischen Raum befindet sich, wer gehorcht und wer Geld hat. Der gesellschaftliche Protest dagegen wird wiederum seit Längerem sehr geschickt und präventiv unter Verweis auf die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung unterbunden. Ein ungerechtes System verbarrikadiert sich, was soll es sonst auch tun?

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