Scholz hatte am Mittwoch 13. März bei der Kanzlerbefragung im Bundestag einen heftigen Streit mit seinem Duzfreund Norbert Röttgen. Er sagte, ihn ärgere sehr, „dass du alles weißt und eine öffentliche Kommunikation betreibst, die darauf baut, dass dein Wissen kein öffentliches Wissen ist“. Das sollte heißen, dass Röttgen es unfair ausnutze, dass Scholz nicht offen über seine Gründe sprechen könne
Röttgens Erwiderung verstärkte diesen Eindruck noch, statt ihm entgegenzuwirken. Er sagte: „Wenn er auf Geheimwissen verweist, über das ich angeblich verfüge, muss er wohl selbst welches haben.“
Aus Sicht des Kanzlers sind die Außen- und Verteidigungspolitiker des Bundestages seit Ende September im Bilde über seine Beweggründe. Damals besuchte Scholz eine vertrauliche Sitzung des Auswärtigen Ausschusses, dem auch Röttgen angehört.
Der Elefant im Raum
Was könnte das für ein Geheimwissen sein, fragen wir uns und suchen ein bisschen herum. Wir finden eine schriftliche Anfrage der (damals noch) Linken-Abgeordneten Sevim Dagdelen an die Bundesregierung mit folgendem Wortlaut:
„Atomare Bestückung von Taurus-Marschflugkörpern
Veröffentlicht 29. August 2023 · Aktualisiert 19. September 2023Ist der Bundesregierung bekannt, dass Taurus-Marschflugkörper mit verschiedener Bestückung (Multiple Warhead, Modular Payload) und damit auch nuklear bestückbar sind (www.wochenblitz.com/news/ausland/deutschland-vorerst-keine-deutsche-taurus-raketen-fuer-die-urkaine), besonders vor dem Hintergrund, dass der Aufbau eines Atomwaffenarsenals der Ukraine beispielsweise durch den ehemaligen Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, und Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) als Option debattiert wird (www.spiegel.de/ausland/ukraine-botschafter-droht-mit-atomarer-aufruestung-a-de71361f-d7f6-40fb-a62c-99b8aaa172da, www.swp-berlin.org/publikation/dauerhafte-sicherheit-fuer-die-ukraine), und trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass die diskutierte Reichweitenbegrenzung der Marschflugkörper (AFP vom 15. August 2023) nach Aussagen von Militär-Experten nicht irreversibel ist (www.zdf.de/nachrichten/politik/taurus-lieferung-marschflugkoerper-debatte-thiele-ukraine-krieg-russland-100.html)?“
Der als Quelle für die Information angeführte Beitrag der etwas obskuren Online-Zeitung Wochenblitz, der wiederum auf einer Meldung der Nachrichtenagentur Al Arabiya beruht, ist nur noch bruchstückhaft vorhanden. In der englischen Al-Arabiya-Meldung heißt es übersetzt:
„Mit einer Reichweite von über 500 Kilometern kann der Taurus einen 500 Kilogramm schweren Sprengkopf tragen, mit sowohl konventionellen als auch nuklearen Nutzlasten.“
(Änderungshinweis: Den Link zu und das Zitat aus Al Arabiya am 19.3. hinzugefügt.)
Ich finde es bemerkenswert, dass unsere Regierung offenbar in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass solche wichtigen Informationen nur in kulturell und regional weit entfernten Gegenden den Weg in die Medien finden.
Die Antwort der Bundesregierung lautete:
„Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Hitschler vom 29. August 2023
Die Beantwortung der Frage kann in offener Form nicht erfolgen.
Die Einstufung als Verschlusssache mit dem Geheimhaltungsgrad „VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ ist im vorliegenden Fall im Hinblick auf das Staatswohl erforderlich.* Nach § 2 Absatz 2 Nummer 4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum materiellen Geheimschutz (Verschlusssachenanweisung – VSA) vom 10. August 2018 sind Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann, entsprechend einzustufen.
Eine zur Veröffentlichung bestimmte Antwort der Bundesregierung auf diese Frage würde Rückschlüsse auf die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr ermöglichen. Auf die als „VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH“ eingestufte Anlage wird verwiesen.“
Ein Dementi klingt anders.
Gehen wir also davon aus, dass Taurus-Marschflugkörper mit Atomwaffen bestückt werden können. Oder dass zumindest Russland im Glauben gelassen werden soll, dass dem so ist. Was hieße das bei einer Lieferung an die Ukraine, die mit Russland im Krieg ist.
Taurus aus russischer Sicht
Taurus-Marschflugkörper haben eine Reichweite von 500 Kilometern. Von der nördlichen Grenze der Ukraine mit Russland können sie Moskau erreichen. Das unterscheidet Taurus von den Marschflugkörpern mit kürzerer Reichweite, die andere Nato-Länder liefern. Taurus-Marschflugkörper haben außerdem die Fähigkeit, besonders tief zu fliegen. Sie sind dadurch von gegnerischen Luftabwehrsystemen kaum frühzeitig zu orten.
Aus russischer Sicht bedeutet also eine Lieferung von Taurus an die Ukraine, dass die Ukraine damit Moskau atomar vernichten könnte. Jedenfalls wenn es die passenden nuklearen Sprengköpfe mitgeliefert oder nachgeliefert bekommt. Ob das der Fall ist, kann Russland kaum verlässlich feststellen bzw. ausschließen.
Das heisst für Russland: wenn es zulässt, dass die Ukraine diese Marschflugkörper bekommt, verändern sich die militärischen Machtverhältnisse radikal. Die Ukraine käme in die Lage, mehr oder weniger glaubwürdig damit zu drohen, Moskau zu vernichten.
Russland wäre außerdem von der Möglichkeit bedroht, dass die USA/Nato vom Nachbarland und Nicht-Natomitglied Ukraine aus einen atomaren Erstschlag gegen Russland versuchen.
Drohung als offenkundige Antwort
Was tut man in einer solchen Situation, um dieses bedrohliche Szenario abzuwenden? Man droht. Es wäre verwunderlich, wenn die russische Regierung dem Kanzleramt nicht etwas in Richtung der folgenden zwei Botschaften übermittelt hätte:
Im günstigeren Fall: Wenn diese Marschflugkörper mit uns unbekannter Ladung unsere Grenze in Richtung Moskau passieren, betrachten wir das als versuchten atomaren Erstschlag. Wir werden dann unsere Atomraketen auf die amerikanische Atomwaffenbasis in Ramstein (Pfalz) und auf die Nato-Kommandozentralen in Stuttgart und anderen Orten regnen lassen.
Im weniger günstigen Fall lautete die Botschaft, dass Russland präventiv taktische Atomwaffen gegen die Taurus-Stationierungsorte in der Ukraine einsetzen würde, um eine unkalkulierbare Bedrohung auszuschalten.
Im ersten Fall würde die Bundesregierung mit einer Taurus-Lieferung die deutsche Bevölkerung auf Gedeih und Verderb den Militärstrategen in Kiew und Washington ausliefern. Im zweiten Fall würde die Gefahr sehr groß, dass der Konflikt zum Atomkrieg ausartet und weite Teile Europas oder der Welt unbewohnbar macht.
Die alternative Erklärung
Nicht verschwiegen sei, dass es auch eine alternative Erklärung für Scholzens Zögern und sein Austeilen gegen Röttgen gibt. Diese wird offiziell herumgereicht, nachdem es praktischerweise einen entsprechenden „Leak“ aus dem Verteidigungsausschuss gegeben hat. Danach geht es bei Scholzens Gründen, über die er nicht sprechen kann, um technische Details zur Zieldatenplanung der Raketen.
Generalinspekteur Carsten Breuer hat laut dem Bericht des Portals t-online, das die vorgeblichen Geheiminformationen verbreitete, dem Ausschuss erklärt, dass man für den Taurus große und komplexe Datenmengen brauche, die von speziellen technischen Anlagen aufbereitet werden müssen. Diese technischen Anlagen gebe es in der Bundeswehr aber nur in begrenztem Maße. Würden diese an die Ukraine mitgeliefert, stünden sie der Bundeswehr nicht mehr zur Verfügung – was die deutsche Verteidigungsfähigkeit schwächen würde.
Ich halte das für ein Ablenkungsmanöver, damit die Öffentlichkeit den Elefanten im Raum weiterhin nicht beachtet.