Deutschland als digitale Kolonie: Interview mit Professor Harald Wehnes von der Gesellschaft für Informatik

21. 10. 2024 | In Frankfurt halten Regierung und Digitalwirtschaft gemeinsam ab heute ein Hochamt der Digitalisierung ab, bei dem uns Digitalisierung als großes Heilsversprechen präsentiert wird, dem sich keiner entziehen darf. Von der Gesellschaft für Informatik kommt scharfer Widerspruch. Ein Interview mit dem Vorsitzenden des Präsidiumsarbeitskreises „Digitale Souveränität“.

Anfang Oktober gab die Gesellschaft für Informatik, mit 20.000 persönlichen und 250 institutionellen Mitgliedern der größte Digitalverband im deutschsprachigen Raum, eine Pressemitteilung heraus, in der sie eindringlich davor warnte, dass Deutschland drohe, zur „digitalen Kolonie“ zu werden:

„Für den neuen Arbeitskreis „Digitale Souveränität“ des GI-Präsidiums hat die digitale Abhängigkeit Deutschlands und Europas ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht, das mit konkreten Gefahren für Wirtschaft und politische Selbstbestimmung einhergeht. Prof. Harald Wehnes, Sprecher des Präsidiumsarbeitskreises „Digitale Souveränität“ der GI: „Ohne digitale Souveränität steht die selbstbestimmte Zukunft unserer Gesellschaft auf dem Spiel. Es droht die ‚digitale Kolonie‘, wie es Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft treffend formuliert haben. Ein prominentes Beispiel ist die extrem hohe Abhängigkeit der Bundesverwaltung von der Firma Microsoft mit den daraus resultierenden Risiken.“

Liest man das Programm des in gelb-grüner Zusammenarbeit vom Wissing- und vom Habeck-Ministerium organisierten „Digital-Gipfel 2024: Deutschland Digital – Innovativ. Souverän. International“, der am 21.10. in Frankfurt beginnt, ahnt man nichts von solchen Problemen. Der Gipfel, an dem die Digitalwirtschaft intensiv mitwirken durfte, ist so etwas wie ein Hochamt der staatlichen Digitalreligion. Weil diese die einzig wahre Religion ist, müssen alle mitmachen, notfalls zu ihrem Glück gezwungen werden.

Wie in der Digitalstrategie der Regierung angelegt, sind auch hier Privatsphäre, informationelle Sebstbestimmung und Freiwilligkeit allenfalls Randthemen, die in ein, zwei Nebensätzen abgehandelt werden. Probleme der Digitalisierung sind, wenn sie überhaupt erwähnt werden, irgendwie abzumildern, aber keinesfalls dadurch, dass man darauf verzichtet, bestimmte Lebensbereiche (noch weiter) zu digitalisieren. Oder dass man sicherstellt, dass analoge Alternativen für diejenigen bleiben, die diese brauchen oder möchten, etwa weil ihnen menschliche Interaktion wichtig ist.

Eines der großen Probleme der Digitalisierung, die Bewahrung der nationalen Souveränität, ist wiederkehrendes Thema des Gipfels, allerdings nicht als Problem eingekleidet, eher als Verheißung. „Souverän“ kommt im Programm 45 mal vor. In der ersten Veranstaltung dazu erklären ein Vertreter der US-Botschaft in Berlin und ein Spitzenmanager des US-Konzerns Salesforce, wie wir das mit der digitalen Souveränität am besten handhaben. Frauen für die Digitalisierung zu gewinnen, sei zentral für die Gewährleistung digitaler Souveränität, lernen wir in der nächsten, nicht minder albernen Veranstaltung zum Thema.

So viel zur fehlenden Ernsthaftigkeit, mit der die Regierung das Thema Digitale Souveränität angeht.

Interview mit Prof. Harald Wehnes

Ich habe den Sprecher des Präsidiumsarbeitskreises „Digitale Souveränität“ der Gesellschaft für Informatik, Prof. Harald Wehnes, schriftlich gefragt, wo die Gefahren liegen, und was zu tun wäre.

Herr Prof. Wehnes, Sie warnen vor einer „extrem hohen Abhängigkeit der Bundesverwaltung von der Firma Microsoft“. Woran bemessen Sie die hohe Abhängigkeit? Betrifft die Thematik ebenso Landes- und Kommunalverwaltungen?

Harald Wehnes: Der Abschlussbericht der PwC-Marktanalyse “zur Reduzierung von Abhängigkeiten von einzelnen Software-Anbietern”, der im Auftrag des Bundesinnenministeriums erstellt wurde, dokumentiert die extrem hohe Abhängigkeit der Bundesverwaltung, insbesondere von der Firma Microsoft und weist auch auf die Folgen dieser Abhängigkeit hin. Ein Zitat daraus: „Anbieter scheinen ihre Angebotsmacht zu ihrem Vorteil zu nutzen und Anforderungen ihrer Kunden, z.B. das erhöhte Bedürfnis nach Informationssicherheit im öffentlichen Sektor, nicht bzw. nur unzureichend zu adressieren. Dies kann die Digitale Souveränität der Verwaltung gefährden.“ Allein in den letzten sieben Jahren haben sich die Ausgaben der Bundesverwaltung für Microsoft fast verfünffacht. Bei den Landes- und Kommunalverwaltungen ist die Microsoft-Abhängigkeit leider ähnlich hoch wie beim Bund. Microsoft Rahmenverträge des Bundes werden auch von den Ländern genutzt.

Sehen Sie eine realistische Möglichkeit für die öffentliche Verwaltung, auf Alternativen zu Microsoft-Produkten umzusteigen?

HW: Ja. Die Bundesregierung muss nur ihre Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag und aus der Digitalstrategie 2021 umsetzen. In den letzten Jahren hat sie sich mit Maßnahmen, die die digitale Abhängigkeit zementieren, unglaubwürdig gemacht. Es gibt genügend Alternativen zu Microsoft Produkten. Linux als Alternative zu Windows; Libre Office, Only Office, Grommunio u.a. als Alternative zu MS Office. Man muss die Alternativen nur einsetzen. Länder wie Schleswig Holstein und Thüringen sind hier auf dem richtigen Weg.

Sie warnen davor, dass Deutschland durch die DelosCloud, ein Cloud-Hosting-Angebot für Programme von Microsoft, zur digitalen Kolonie zu werden droht. Was bedeutet es, eine digitale Kolonie zu sein?

HW: Ich empfehle hierzu eine ZDF-Dokumentation, die eindrucksvoll zeigt, wie Amazon systematisch vertrauliche Daten von Anbietern analysiert, Produktkopien erstellt, diese Eigenprodukte hart pusht und damit die Originalanbieter vom Markt drängt. Gleiches wurde von Reuters in Bezug auf Amazon in Indien aufgedeckt. Wenn vertrauliche Daten in Amazon-Rechenzentren missbraucht werden und keiner kann was dagegen unternehmen, ist die Gefahr groß, dass dies auch mit Daten von Startups, Unternehmen und Organisationen in den „Clouds“ der Hyperscaler (die drei großen Cloud-Anbieter Amazon, Microsoft und Google; N.H.) passiert. Viele Verantwortliche haben dies noch nicht erkannt und glauben den Marketing-Narrativen von einer „Sorglos-IT“.

Welche Rolle spielt der CLOUD-Act der USA für Ihre Überlegungen?

HW: Der CLOUD-Act ist bekanntlich ein US-Überwachungsgesetz, das US-Behörden legitimiert, auf alle Daten, die in US-Rechenzentren außerhalb der USA gespeichert werden, zuzugreifen, ohne dass die Dateneigner informiert werden.
Wer seine Daten in „Clouds“ von US-Unternehmen speichert, verliert die Kontrolle über seine Daten. Er muss davon ausgehen, dass er damit ein hohes Risiko eingeht – bis hin zur Existenzgefährdung und Unfähigkeit, seine Zukunft selbständig gestalten zu können.

Welche Rolle spielt der Bürger als Souverän für Ihren Arbeitskreis?

HW: Die Digitalisierung muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen, Handlungs- und Informationsfreiheit sowie Wettbewerb, Wahlmöglichkeiten, Wohlstand und Demokratie sichern. Der Präsidiumsarbeitskreis der GI ist gegen eine Digitalisierung, die dem Überwachungs- und Datenkapitalismus dient, die uns manipuliert, digitale Monopole stärkt und unsere Wirtschaft und Gesellschaft zerstört. Aktuell läuft die Digitalisierung in die falsche Richtung: Monopole sammeln unsere Daten und wir bezahlen sogar noch für die Programme, die dies bewerkstelligen. Inzwischen warnt sogar Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst: „Wir dürfen keine digitale Kolonie werden“.

Wie beurteilen Sie unter dem Blickwinkel der digitalen Souveränität die Kooperation des u.a. von Bund, Hessen und Hamburg getragenen GovTech Campus Deutschland (GTC) mit dem Weltwirtschaftsforum zur Gründung des Global Government Technology Centre in Berlin? Immerhin spielen beim Weltwirtschaftsforum US-IT-Konzerne wie Microsoft, Apple, Amazon und Accenture mir ihren eigenen Interessen eine maßgebliche Rolle.

HW: Aus Sicht der digitalen Souveränität sehe ich es als Unding, wenn die Verursacher der digitalen Abhängigkeit beteiligt werden. Aus den negativen Erfahrungen mit Gaia-X (eine EU-Initiative zur Förderung dezentraler digitaler Systeme; N.H.) müssen wir lernen. Gaia-X wird gar als ”Trojanisches Pferd für den deutschen Technologiesektor“ bezeichnet. Wenn Boeing beim Airbus-Projekt beteiligt worden wäre, hätte es die Airbus Erfolgsstory niemals gegeben. Wenn die Big Techs beim GTC beteiligt werden, liegt ein Zielkonflikt vor. Unsere Bürger, unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft benötigen verstärkte digitale Souveränität. Dem widersprechen die Geschäftsinteressen von Big Techs, die auf den Ausbau ihrer Imperien ausgerichtet sind. Das kann nicht gut gehen. Bei Gaia-X wurden die Big Techs bekanntlich immer dominanter. Als ehemaliges Vorstandsmitglied der GPM Deutsche Gesellschaft für Projektmanagement e.V. und als erfahrener Großprojektleiter ist mir kein erfolgreiches Projekt mit einem derartigen Zielkonflikt bekannt.

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Dossier zu Digitalzwang und Zwangsdigitalisierung

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