Mit freundlicher Genehmigung des Westend-Verlags hier ein Leseprobe:
„Was passieren könnte: Krieg in unserem Land
»Im Kriege mehr als irgendwo sonst in der Welt
kommen die Dinge anders,
als man sich es gedacht hat, und sehen in der Nähe anders aus als in der Entfernung.«
Carl von Clausewitz
Deutschland, August 2025: Die Sonne scheint, es ist noch heiß, obwohl sich die warme Jahreszeit bald dem Ende zuneigen wird. Eigentlich sollten sich die Menschen im Freibad oder im nahen See tummeln, sie sollten in ihren Gärten grillen, in Biergärten oder in Restaurants mit Terrasse und Aussicht die lauen Abende genießen. Sie sollten in der Nachtwärme nach Hause schlendern, neue Eissorten probieren, laut über die Hitze klagen und sie doch dem kühlen Winter vorziehen. Sie sollten diese besondere Leichtigkeit auskosten, die sich nur bei Sonnenschein einstellt. Die Menschen sollten das Leben genießen.
Stattdessen bangen sie darum.
Sommer, Sonne, Schlachtfeld
Der »Worst Case« ist eingetreten. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat sich nicht um Grenzübergänge geschert. Er ist über die Linien geschwappt, die im Grunde nur auf dem Papier und in der Politik ein ernstzunehmendes Hindernis sind. In der Realität sind sie meist nicht mehr als ein Schild, das Autofahrer auf dem Staatsgebiet eines anderen Landes willkommen heißt – oft gefolgt von einem zweiten Schild, das darüber informiert, wie schnell man innerhalb und außerhalb von Ortschaften sowie auf der Autobahn fahren darf und ob das Tagfahrlicht eingeschaltet werden muss. Was diese Linien nicht sind, ist Sicherheit.
Aus dem Krieg in der Ukraine ist ein europäischer Krieg geworden. Man kann nicht behaupten, das sei von heute auf morgen geschehen, denn diese Gefahr war seit dem russischen Überfall im Februar 2022 bekannt.
Wie gefährlich können uns unsere Waffenlieferungen an die Ukraine werden? (Um vorzugreifen: sehr.) Wie weit kann sich die NATO aus dem Fenster lehnen, bevor sie Kriegspartei wird? (Einmal aus dem Fenster gefallen, wäre es zu spät.) Liegt nicht ausreichend geografischer Puffer zwischen Deutschland und der russischen Grenze? (Nicht für moderne Waffensysteme. Abgesehen davon: Polen dankt.) Ist Kremlchef Putin ein Realist, der sich nicht ernsthaft mit der geballten Schlagkraft des Westens anlegen würde? (Die wenigsten Kriege entstehen aufgrund von realistischen Situationsbeurteilungen.) Oder ist er ein größenwahnsinniger Diktator, bei dem man mit allem rechnen muss? (»Make Russia Great Again.«) Natürlich haben wir – der Westen – uns mit diesen und anderen Fragen auseinandergesetzt, wir waren auf der Hut, die einen mehr, die anderen weniger. Trotzdem wurden wir überrascht.
Von heute auf morgen, quasi über Nacht, herrschte Krieg. In Deutschland. In Europa.
Wir haben doch schon Krieg seit dem Überfall der Russen Anfang 2022, behaupteten manche deutsche Politiker. In der Ukraine, ja. Aber doch nicht in Deutschland! In Deutschland bekamen wir Angst, hohe Stromrechnungen und teurere Lebensmittel, nachdem Putin in die Ukraine einmarschiert war. Wir standen mitunter vor einem leeren Regal im Supermarkt, beherbergten Flüchtende aus dem Kriegsgebiet und verspürten den Drang zu helfen. Aber es wurde kein Blut in Deutschland vergossen, es gab keine Einberufungsbescheide, kein Training an der Waffe für alle, die eine Waffe halten können, keinen Luftalarm, keine Raketen, keine zerstörten Wohnstätten, Krankenhäuser und Schulen, keine Folterungen, Vergewaltigungen, Erschießungen.
In Deutschland war der Krieg in erster Linie ein TV-Ereignis. Er war weit weg, war wahrnehmbar, als Sonnenblumenöl und Weizen knapp wurden, die Benzinpreise stiegen und Flüchtende zu uns kamen. Er sprach durch die Politiker, die ihm das Wort redeten als wären sie nicht einem friedlichen Ortsverband entsprungen, sondern der Serie Game of Thrones. Er war die politische Mitte, die verlässlich pazifistisch gewesen war und sich mit einem Mal radikalisierte. Man spürte den Krieg an den vielen Desinformationen, die die russische Seite verbreitete. Man bemerkte ihn auf den Kirchentagen, die die Unterstützung der Ukraine propagierten. Und man erkannte ihn an der entmenschlichenden Sprache, wenn es um Russen im Allgemeinen und um russische Verluste im Besonderen ging. Jeder Russe ist ein böser Russe, nur ein toter Russe ist ein guter Russe …
Vor ein paar Wochen ist der Krieg tatsächlich über uns hereingebrochen. Nun lehrt er uns tatsächlich das Fürchten.
Game over
Rückblickend lässt sich leicht rekonstruieren, wie es dazu kommen konnte. Man kannte es von den Leopard-Panzern, obwohl der Bundeskanzler dieses Mal lange standhaft geblieben war: Nach erheblichem Druck durch etliche Medien und massivem Drängen von NATO-Bündnispartnern, insbesondere den USA und Großbritannien, lieferte die Bundesregierung 2025 schließlich doch das viel beschworene und heftig diskutierte Taurus-Waffensystem an die Ukraine. Der »Stier« (lateinisch: »taurus«) sollte zum Gamechanger des Krieges werden. Gleiches hatte man von den deutschen Leopard-Panzern und den amerikanischen F-16 Kampfflugzeugen erwartet. Doch erst der Taurus hielt, was man sich von ihm versprach: Er hat die Situation grundlegend verändert – nur nicht so, wie gedacht.
Die Ukraine setzte Taurus ein, um die Kertsch-Brücke zu zerstören, die die Krim-Halbinsel bis dahin mit russischem Festland verbunden hatte. Die Brücke wurde mittig bis in die Fundamente zertrümmert und unbrauchbar gemacht. Der Verlust machte es für die Russen, die zu diesem Zeitpunkt die Krim besetzt hielten, schwieriger, aber nicht unmöglich, für Nachschub zu sorgen – man war längst vorbereitet. Die russischen Truppen wurden nicht lahmgelegt, die Ukraine konnte den Krieg weder beenden noch gewinnen. Er nahm aber nun eine neue Wendung: Die Kertsch-Brücke war strategisch wichtig gewesen, vor allem war sie jedoch ein nationales Prestigeprojekt der Russen. Man hätte also mit einem russischen Vergeltungsschlag rechnen müssen; zu lange hatten westliche Politiker öffentlich gefordert, die Brücke zu zerstören.
Auf der Wunschliste vieler deutscher Politiker, Medien und hauptsächlich ziviler Militärexperten stand außerdem ein Beschuss russischen Hinterlandes. Das mag nach einem Waldgebiet im Nirgendwo klingen, meint aber alles, was hinter der Front liegt und mit Waffen erreichbar ist. Gefordert, getan: Die Ukrainer feuerten deutsche Taurus-Marschflugkörper ins russische Hinterland hinein, zerlegten das russische Verteidigungsministerium in Moskau und zerstörten den Kreml.
Der Vergeltungsschlag kam schnell, wirkte von langer Hand vorbereitet und richtete sich unmittelbar gegen Deutschland. Die russische Propaganda hatte Deutschland längst ins Zentrum gerückt: Taurus ist ein deutsches Waffensystem, es wurde aus Deutschland geliefert und, das ließen die entsprechenden deutschen und NATO-Veröffentlichungen offen, womöglich mit deutscher Unterstützung bedient. Also ließ Putin zunächst die ähnlich symbolträchtige Fehmarnsundbrücke per Raketenbeschuss zertrümmern. Dann machte er die Produktionsstätte von Taurus im einst malerischen bayerischen Schrobenhausen dem Erdboden gleich. Zu guter Letzt zerstörte er das Bundeskanzleramt in Berlin – alles an einem Wochenende. Zumindest im Kanzleramt waren dadurch weniger Tote und Verletzte zu beklagen als an einem Wochentag, viele Mitarbeitende hatten frei oder befanden sich nicht in ihren Büros. Zufall? Rücksichtname? Auf jeden Fall war es ein wohl kalkulierter, symbolträchtiger Vergeltungsschlag mit gravierenden Folgen.
Wochenende mit Folgen
Deutschland reagierte umgehend: Die Bundesregierung bat die NATO, den Bündnisfall auszurufen, und verlegte – um politisch funktionsfähig zu bleiben – ihren Hauptsitz zunächst in eine Kaserne außerhalb Berlins, kurz darauf an die Ostküste der USA. Die NATO begann, rund eine Million französische, niederländische, belgische, spanische, italienische und portugiesische Soldaten an die Ostgrenze des Bündnisses zu verlegen. Die US-Regierung hielt sich zurück und erklärte, ihre Truppen in Europa nur geringfügig zu verstärken, aber vorerst keine neuen, zusätzlichen Truppen zu entsenden. Man habe wegen der sich zuspitzenden Lage im Indopazifik und im Nahen Osten anderweitig alle Hände voll zu tun.
Der Aufmarsch der NATO-Truppen führte quer durch Deutschland, so war und ist es in den Plänen der NATO vorgesehen. Die Bundesrepublik liegt im Zentrum Europas. Aus Sicht des Bündnisses ist diese Lage geografisch und logistisch ideal, um als Drehscheibe zu fungieren. Jeder, der sich in Europa von Westen nach Osten oder von Norden nach Süden bewegen will, muss durch Deutschland hindurch – egal ob Ferienverkehr oder NATO-Aufmarsch. Aus deutscher Sicht ist das Ganze weniger optimal: Wir befinden uns immer mittendrin, egal was passiert. Die letzten fünfhundert Jahre unserer Geschichte wären ansonsten vielleicht weniger bewegt gewesen. Wir kommen nicht schnell »raus«, wenn wir oder die Bundeswehr die Mitte Europas verlassen wollen; und es birgt nicht nur Vorteile, der »Hub« – besagte Drehscheibe – für unsere Bündnispartner und deren Truppen zu sein oder als Standort für US-amerikanische Waffensysteme zu dienen. Stattdessen macht uns unsere geografische Lage in der Mitte Europas angreifbar und zerstörbar. Das hat bereits der Dreißigjährige Krieg recht eindrucksvoll gezeigt, als die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausgelöscht und das Land verwüstet wurde.
Eine Million Soldaten nebst Material zu verlegen – vom Kampfpanzer bis zum Feldbett –, ist keine Kleinigkeit und geschieht auch nicht über Nacht, auch wenn eine schnelle strategische Verlegung das A und O der Verteidigungspläne der NATO ist. Aufmärsche und Truppenbewegungen wie diese können zur Zielscheibe werden. Warum gegen eine Armee kämpfen, wenn man sie bereits auf dem Weg zum Schlachtfeld außer Gefecht setzen kann? Russland begann, die Bewegungsachsen der NATO durch Deutschland mit Raketen vornehmlich aus dem Oblast Kaliningrad zu beschießen, insbesondere die in west-östlicher Richtung verlaufenden Autobahnen. Etwa die A2, die vom Ruhrgebiet aus nach Berlin führt, sowie ihre Autobahnknotenpunkte. Putin drohte darüber hinaus, das gesamte deutsche Autobahnnetz zu zerstören, um Deutschland als Drehscheibe für Truppentransporte in Europa unbrauchbar zu machen. Die Landes- und Bündnisverteidigung lief Gefahr, bereits auf der Autobahnauffahrt zu scheitern.
Wie du mir, so ich dir, so du mir, so ich dir …
Die USA nahmen sich die Freiheit, für Deutschland zu antworten. Sie schickten weiterhin keine Truppen nach Deutschland, aber ihre Cruise-Missiles nach Russland – von deutschem Boden aus. Die deutsche und die US-Regierung hatten erst im Sommer 2024 vereinbart, amerikanische Waffensysteme in Deutschland zu stationieren. Die Stationierung war für 2026 geplant gewesen, aber vorgezogen worden, weil die Amerikaner die Situation als »extrem heikel« bewertet hatten: Der Ukraine-Krieg hatte sich nicht eindämmen lassen wie erhofft; Putin stehe sprichwörtlich vor der Tür des Westens; und die NATO habe eine Befähigungslücke: Es fehle das westliche Pendant zu den landgestützten Waffensystemen der Russen, die unter anderem von Kaliningrad aus auf Europa gerichtet waren. Also hatte die US-Regierung ihre Waffen frühzeitig in Deutschland stationiert – in Reichweite für russische Ziele, aber auch in Reichweite russischer Vergeltungsschläge gegenüber Deutschland. Die Befähigungslücke wurde geschlossen, aber Deutschland zur Zielscheibe gemacht. Außer Reichweite blieben nur die USA selbst.
Als Putin die NATO-Truppen auf den deutschen Autobahnen beschoss, schossen also die Amerikaner mit ihren in Deutschland stationierten Marschflugkörpern, Raketen und Überschallwaffen zurück. Die Waffen hätten in kürzester Zeit und mit einer Reichweite von bis zu dreitausend Kilometern von Deutschland aus zentrale russische Ziele zerstören können: Armeebasen, Häfen, Flugplätze, Transportwege, wichtige Städte und natürlich den Kreml (bei Letzterem war allerdings Taurus den US-Waffen zuvorgekommen). Ich schreibe »hätten«, denn der amerikanische Vergeltungsschlag löste postwendend einen erneuten russischen Vergeltungsschlag aus: Russland nahm die mehr als vierzig amerikanischen Militäreinrichtungen in Deutschland unmittelbar unter Feuer, …“
Das Buch ist am 18.11.2024 erschienen und kann u.a. bei Buchkomplizen bestellt werden.