Fast nichts spricht gegen einen deutlich höheren Mindestlohn

6. 10. 2019 | Bevor in Deutschland im Januar 2015 erstmals eine allgemeine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro eingeführt wurde, hatten deutsche Ökonomen entsprechende Pläne scharf kritisiert und hohe Beschäftigungsverluste vorausgesagt, die nie eintraten. Praktisch der gesamte ökonomische Mainstream machte mit, angeführt vom Sachverständigenrat, der auch vor Publikumstäuschung nicht zurückschreckte. Jetzt wo aus dem gewerkschaftlichen und linken Lager eine Erhöhung auf 12,50 Euro gefordert wird, werden die alten, diskretitierten Argumente unerschrocken weiter geführt.

Die simple Logik der Mindestlohnwarner: Wenn Arbeitskräfte teurer werden, werden weniger Arbeitskräfte nachgefragt. Wer weniger bringt, als er nach der neuen Regelung kostet, wird arbeitslos. Die Kritiker sagten den Verlust von 500.000 bis zu mehr als einer Million Arbeitsplätzen durch die Mindestlohneinführung voraus.

Andreas Knabe, Ronnie Schöb und Marcel Thun etwa prognostizierten 2014 in ihrem Standardmodell den Verlust von einer halben Million Minijobs, 250.000 sozialversicherungspflichtigen Stellen sowie 90.000 Rentner- und Studentenjobs. Mit der Offenlegung von Verbindungen zur Arbeitgerberinitiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) nahmen sie es dabei nicht so genau.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung schrieb in seinen Jahresgutachten seit 2004 gegen den Mindestlohn an, mit dem Argument, er werde sehr viele Stellen kosten. Als es nicht so kam, schrieb er erst, es sei noch zu früh für eine abschließende Beurteilung, und breitete dann den Mantel des Schweigens über die unrühmliche Geschichte.

Der Verein für Socialpolitik, die führende deutschsprachige Ökonomenvereinigung, hat sich mit einem Themenheft seiner Zeitschrift „German Economic Review“ der Frage gewidmet, ob und wie viele Arbeitsplätze die Lohnuntergrenze nun tatsächlich gekostet hat. Den ersten Anschein haben die Kritiker gegen sich. Die Beschäftigung stieg im Jahr der Einführung des Mindestlohns und in den Folgejahren kräftig an. Das kann aber natürlich nicht direkt auf die Mindestlohneinführung zurückgeführt werden. Es ist ja möglich, dass bei der guten Konjunkturlage noch mehr Stellen geschaffen worden wären, wenn der Mindestlohn nicht eingeführt worden wäre.

Um den Einfluss der Lohnuntergrenze zu isolieren, vergleichen empirische Studien, wie die Beschäftigungsentwicklung dort war, wo der Mindestlohn eine große Rolle spielt und wie sie dort war, wo er eine geringe oder keine Rolle spielt, weil das allgemeine Lohnniveau zu hoch ist. Die Gruppenbildung kann sich dabei nach Regionen richten, also Niedriglohnregionen versus Hochlohnregionen, oder nach Wirtschaftszweigen, oder nach persönlichen Merkmalen der Arbeitnehmer.

Effekt kann in beide Richtungen gehen

Theoretisch lassen sich sowohl positive als auch negative Wirkungen des Mindestlohns auf die Beschäftigung begründen. Das von Kritikern favorisierte theoretische Modell geht davon aus, dass auf Güter- und Arbeitsmärkten annähernd vollkommene Konkurrenz herrscht. Es gäbe dann keine Gewinne zu verteilen und die Beschäftigten würden annähernd mit dem Ertrag vergütet, den ihre Arbeit hervorbringt. Zwingt man unter solchen Bedingungen die Arbeitgeber, Niedriglöhnern mehr zu bezahlen, werden deren Arbeitsplätze wegrationalisiert, weil sie sich nicht mehr lohnen.

Das wichtigste Konkurrenzmodell geht davon aus, dass die Arbeitgeber in unterschiedlich großem Umfang Marktmacht als Arbeitsnachfrager haben. Das beruht vor allem darauf, dass die Arbeitnehmer in Pendelreichweite nur eine sehr begrenzte Auswahl an möglichen Arbeitgebern und freien Stellen vorfinden. Eingeschränkte Konkurrenz erlaubt den Arbeitgebern, die Löhne niedrig zu halten und dadurch ihren Gewinn zu steigern. Eine Vorschrift zur Erhöhung der niedrigsten Löhne muss daher nicht dazu führen, dass sich die entsprechenden Arbeitsplätze für die Arbeitgeber nicht mehr lohnen. Sie kann sogar theoretisch dazu führen, dass sie mehr Leute einstellen. Denn der sonst übliche Effekt, dass man höhere Löhne bieten muss, um mehr Arbeitsplätze zu füllen, fällt weg, wenn die Löhne ohnehin erhöht sind. Wenn man eh mehr bezahlen muss, kann man auch gleich so viele Leute einstellen, wie man zu dem erhöhten Lohn bekommen kann.

Zwei Beiträge mit sehr ähnlicher Methodik von Alfred Garloff vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und Sebastian Schmitz vom Arbeitsministerium sind symptomatisch für das Spektrum der Ergebnisse. Beide nutzen den Anteil Niedriglohnbeschäftigter verschiedener Regionen, um die Effekte des Mindestlohns zu isolieren. Sie verglichen die Beschäftigungsentwicklung in Regionen mit einem hohen Anteil von Löhnen unterhalb des künftigen Mindestlohns mit der in Regionen mit einem höheren Lohnniveau, wo der Mindestlohn weniger stark greift. Garloff verfeinerte die Vergleichsgruppen noch, indem er auch noch Altersgruppe und Geschlecht berücksichtigte, die in unterschiedlichem Maß vom Mindestlohn betroffen sind. Er ermittelt eine leicht positive Wirkung der Mindestlohneinführung auf die Beschäftigung. Bei Schmitz ist der Effekt dagegen leicht negativ.

Schmitz, der die Studie vor Aufnahme seiner Tätigkeit im Ministerium erstellte, ist sich mit Garloff einig, dass die ermittelten Effekte in beiden Fällen so gering sind, dass man sich darauf einigen könne, keinen ökonomisch bedeutsamen Effekt ermittelt zu haben.

In einem Überblicksartikel fassen Marco Caliendo, Carsten Schröder und Linda Wittbrodt die Ergebnisse dieser beiden und einer Reihe weiterer Studien so zusammen, dass empirische Studien entweder einen schwach-negativen oder einen nicht vorhandenen Einfluss des Mindestlohns auf die Beschäftigung ermitteln. Eindeutig negativ ist nur der Einfluss auf die Zahl der Minijobs, die aber ohnehin als Arbeitsmarktsegment nicht den besten Ruf genießen. Bei den regulären Beschäftigungsverhältnissen reichte die Bandbreite der ermittelten Wirkungen von schwach negativ bis schwach positiv.

Folgenlose Evaluierung

In Großbritannien, wo es schon seit 20 Jahren einen Mindestlohn gibt, hat eine sogenannte Niedriglohnkommission den Auftrag, die wissenschaftlichen Studien zu den Wirkungen auszuwerten. Auf Basis ihrer Empfehlung soll der Mindestlohn so weit erhöht werden wie möglich, ohne die Beschäftigungsaussichten zu beschädigen.

In einem jüngst veröffentlichten Bericht zu 20 Jahren Mindestlohn schreibt die Kommission, die Lohnuntergrenze habe den bis 1999 vorherrschenden Trend umgekehrt, dass die niedrigen Lohngruppen immer weiter zurückfallen. Immerhin 30 Prozent der Arbeitnehmer hätten durch den Mindestlohn profitiert, entweder direkt oder indirekt, weil die nach oben angrenzenden Lohngruppen besser bezahlt wurden, um den Abstand zum Mindestlohn zu wahren. „Die Niedriglohnkommission hat keine signifikanten negativen Wirkungen der Mindestlohnerhöhungen auf die Beschäftigung gefunden“, stellt diese resümierend fest. Dabei wurde das gesetzliche Minimum allein zwischen 2010 und 2017 von 46 Prozent des mittleren Lohns auf 54 Prozent angehoben. Mit dieser Relation liegt Großbritannien nach einem Vergleich der Industrieländerorganisation OECD eher im oberen Bereich der Länder mit einem Mindestlohn. In Deutschland war er mit 48 Prozent im Vergleich zum mittleren Lohn deutlich niedriger.

Hätte die deutsche Mindestlohnkommission den gleichen Auftrag wie die britische Low Pay Commission, so würde die Datenlage wohl für eine überproportionale Erhöhung des Mindestlohns relativ zur allgemeinen Lohnentwicklung sprechen.

Aber die deutsche Kommission hat diesen Auftrag nicht, sodass den Wirkungsstudien hier eine viel geringere wirtschaftspolitische Bedeutung zukommt. Die deutsche Kommission, die mit Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern sowie Wissenschaftlern besetzt ist, soll im Kern nur nachlaufend den Mindestlohn der allgemeinen Lohnentwicklung anpassen. Im Januar 2020 steigt er von derzeit 9,19 Euro auf 9,35 Euro.

[6.10.2019]

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