Junckers Fünfpräsidentenbericht: Der Weg zum postdemokratischen Europa

27. 7. 2015 |  In „Die Lügen des Jean-Claude Juncker (2)“ hatte ich aufgeschrieben, was in dem programmatischen Fünfpräsidentenbericht zur Härtung der Währungsunion alles grob falsch dargestellt wird. Nun will ich die Fäden zusammenziehen und aufschreiben, was die Lügen verbergen sollen, den Plan für ein postdemokratisches, allein von Technokraten regiertes Europa.

Wer das für übertrieben oder den Bericht für nicht so wichtig hält, der sei an Jean-Claude Junckers Maxime erinnert. „…wir warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände… dann machen wir weiter.“

Der Bericht von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker „in enger Abstimmung mit“ Ratspräsident Donald Tusk, Eurogruppenchef Jeroen Dijsselbloem, EZB-Präsident Mario Draghi und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz wurde am 22.6. ohne viel Fanfare vorgelegt. Wie beabsichtigt, nahm die Öffentlichkeit kaum Notiz. Dabei wird auf diesen Bericht schon sehr fleißig Bezug genommen. Allein auf der letzten Seite des Handelsblatts haben in den letzten Tagen DIW-Chef Marcel Fratzscher und der Präsident des Instituts für Weltwirtschaft Dennis Snower dazu aufgerufen, die Krise um Griechenland für Schritte zur „Vervollständigung der Währungsunion“ zu nutzen, die der Bericht vorschlägt. „Für den folgenden Akt (nach dem griechischen Finale) ist nämlich schon ein Handlungsstrang entworfen“, schreibt Snower und verweist auf den Fünf-Präsidenten-Bericht. „Eine Krise ist immer auch eine Chance“, stellt Fratzscher fest und fordert genau das, was im Fünfpräsidentenbericht steht, plus eine Insolvenzordnung für Staaten. Und auch Finanzminister Wolfgang Schäuble bezog sich im Interview mit dem Spiegel vom 18.7. auf den Fünfpräsidentenbericht, der die Basis für die Diskussionen der nächsten Monate bieten werde. Auch auf höchster politischer Ebene werden Absichten erklärt, die erkennbar von dem Juncker-Bericht gestützt werden und werden sollen. So haben sich in den letzten Tagen sowohl der französische Staatspräsident Hollande als auch der deutsche Finanzminister Schäuble für die Schaffung eines europäischen Finanzministers oder Kommissars ausgesprochen, der in die nationale Budgetplanung und –ausführung hineinregieren soll.

Der Bericht ist das Ergebnis zahlreicher Treffen der Sherpas, also der für die EU-Treffen zuständigen, der 18 Euro-Mitgliedsländer und der Präsidenten der involvierten Institutionen.. Er ist nicht das Ergebnis von ein bisschen Nachdenken der Junckers unter Beteiligung seiner Präsidentenkollegen. Er wurde unter Beteiligung der Regierungen alle Mitgliedsländer ausverhandelt. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben. Leute wie die fünf Präsidenten hätten anderes zu tun, als solche Berichte zu schreiben, wenn diese nichts brächten. Aber sie bringen etwas. Sie setzen die Agenda. Sie kommen unauffällig und dröge daher. Keiner macht Aufhebens darum und Juncker kann sich ins Fäustchen lachen. Denn der Bericht ist da und bleibt da. Jeder bezieht sich darauf. Niemand hat ihn kritisiert. Er tut seine Wirkung als stetiger Bezugspunkt. Man braucht nichts von den Maßnahmen rechtfertigen, die man vorschlägt, wenn man einfach auf diesen Bericht verweist, dem diesmal ja sogar der Parlamentspräsident seinen Namen geliehen hat.

Worauf der Bericht letztlich abzielt, ist ein von Technokraten regiertes Europa. Aber für wenn regieren dann diese Technokraten? Das lässt sich am prägnantesten mit einer rhetorischen  Frage klarstellen: Gibt es in dem Bericht irgendetwas, was ein großer Unternehmensverband, eine Großbank oder sonstige internationale Finanzinstitution, oder ein Arbeitgeberverband mit Missfallen lesen würde? Denn eines sollte klar sein:

Entdemokratisierung ist kein Selbstzweck. Sie dient immer dazu irgendwelche Ziele zu erreichen, die man irgendwie gegen den Willen der Mehrheit des Staatsvolkes erreichen muss. Wessen Wille stattdessen zählt, macht die folgende Nachricht klar:

Finanzindustrie befürwortet Weiterentwicklung der Währungsunion

Umfrage: Mehrheit plädiert für eine europäische Reformagenda, die über EU-Grundlagenvertrag hinausgeht

FRANKFURT, 20. Juli 2015. Rund 70% der Entscheidungsträger aus der deutschen Finanzbranche sprechen sich dafür aus, die politische und fiskalische Zusammenarbeit in der Europäischen Währungsunion zu vertiefen. Das ergab eine Umfrage des Center for Financial Studies unter Entscheidern aus Finanzinstituten und Dienstleistungsunternehmen am Finanzplatz Deutschland. Eine große Mehrheit der Umfrageteilnehmer hält die Zielsetzung, die kürzlich in einem Papier der „fünf Präsidenten“ – Jean-Claude Juncker (EU-Kommission), Donald Tusk (Euro-Gipfel), Jeroen Dijsselbloem (Euro-Gruppe), Mario Draghi (EZB) und Martin Schulz (EU-Parlament) – formuliert wurde, im Großen und Ganzen für den richtigen Weg nach vorne. Eine Mehrheit von 55% der Umfrageteilnehmer plädiert zudem für eine europäische Reformagenda, die über den derzeitigen EU-Grundlagenvertrag hinausgeht. Mehr als zwei Drittel der Befragten halten es für sinnvoll, die von den Präsidenten vorgeschlagene Agenda spätestens bis zum Jahr 2025 umzusetzen.“

(Hinweis: Absatz eingefügt am 28.7.)

„Es ist ein wichtiges Zeichen in der derzeit schweren Krise in Europa, dass einer Politik zur Weiterentwicklung der Währungsunion von Seiten der deutschen Finanzindustrie der Rücken gestärkt wird, selbst dann, wenn dadurch eine Änderung des EU-Grundlagenvertrags notwendig würde“, kommentiert Prof. Dr. Jan Pieter Krahnen, Direktor des Center for Financial Studies und wissenschaftlicher Leiter der Umfrage, die Ergebnisse.

Kurz zusammengefasst hatten wir an wichtigen Lügen ermittelt, dass vorne im Bericht behauptet wird, die Ziele seien Wohlstand und Fairness für alle, während weiter hinten die Prosperität der Unternehmen, sprich deren Gewinne, mit dem gesellschaftlichen Wohl gleichgesetzt wird. Allenthalben wird zum Ausgleich der Wegnahme von Kompetenzen von nationalen Parlamenten durch mehr demokratische Kontrolle auf Brüsseler Ebene versprochen, tatsächlich aber werden nur  zusätzliche oder genauer terminierte unverbindliche Diskussionsrunden in Aussicht gestellt.. Eine automatische Stabilisierungsfunktion, die im Fall von Konjunkturkrisen in  Teilen  der Währungsunion zu ausgleichenden Finanzströmen führen würde, wird zwar erwähnt, stellt sich dann aber als Geld heraus, dass man nur bekommt, wenn die Brüsseler Technokraten und die informelle Eurogruppe zum Schluss kommen, dass man genügend spart und sich auch sonst an die Brüsseler Vorgaben hält. Zu diesen Vorgaben gehört auch das Zurückdrängen der Schutz- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer.

Das zeigt schon ziemlich gut die Richtung in die es weiter gehen soll. Das ist aber noch nicht alles.

Aushöhlung der Tarifautonomie durch Wettbewerbsfähigkeitsräte

Neu an dem Bericht, und von den Medien trotzdem praktisch ignoriert,  ist vor allem das Drängen, dass Europa mit einem Netz von „Wettbewerbsfähigkeitsräten“ überzogen werden soll, die dazu beitragen sollen, dass die angebotsorientierte Politik der EU überall durchgesetzt wird. Das sollen nicht gewählte Technokraten sein, die Kraft ihres Expertentums Lohnleitlinien festlegen sollen. Sie sollen also bestimmen, wo der korrekte Ausgleich zwischen Arbeitnehmerinteressen und Arbeitgeberinteressen zu finden ist. Bisher hatte man die Vorstellung, dass das die Tarifpartner suchen und finden. In Deutschland ist das sogar grundgesetzlich so vorgesehen. Aber künftig sollen nach den Vorstellungen der fünf Präsidenten irgendwelche „Experten“ Lohnleitlinien festlegen.

Dass es dabei vor allem darum geht, die Löhne zu drücken, stellt der Bericht in dankenswerter Offenheit an klar. Löhne werden ohne Einschränkung als reiner Kostenfaktor und Problem für die Wettbewerbsfähigkeit behandelt, ohne jede Berücksichtigung der Tatsache, dass sie die Grundlage für den im Vorwort betonten Wohlstand „aller Bürger“ sind. Das A und O in dem Bericht ist die Wettbewerbsfähigkeit, und zu dieser heißt es:

Schließlich ist eine wettbewerbsfähige Wirtschaft eine, in der die Institutionen und die Politiken es produktiven Firmen erlauben, zu gedeihen. Die Entwicklung dieser Unternehmen wiederum unterstützt die Ausdehnung der Beschäftigung, der Investitionen und des Handels.“

Alles was gut ist für die Unternehmen ist gut für die Beschäftigung. Zu welchen Löhnen Beschäftigung stattfindet, ist nicht nur zweitrangig. Es ist für die Autoren des Berichts völlig unerheblich, sodass hohe Unternehmensgewinne  letztlich das Hauptziel sein können.

Die Präsidenten um Juncker wollen von Brüssel aus druchsetzen, dass die Länder von einer verteilungs- und preisneutralen Lohnpolitik durch die Sozialpartner abrücken. Stattdessen soll die Lohnkostenentwicklung an jene in den wichtigsten Exportländern angeglichen werden. Eine schlechte Lohnentwicklung in einem Land, wie das vor der Krise insbesondere in Deutschland und nun in den Krisenstaaten der Fall ist, soll also erklärter Maßen zu Abwärtskorrekturen überall führen. Das ist argumentativ auch bereits zu beobachten. Allenthalben hört man in Deutschland, man dürfe sich nicht auf vergangenen „Rerformerfolgen“ (volgo: Lohnkürzungen) ausruhen, weil die anderen nachzögen. Deshalb müsse Deutschland weiter reformieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Und den griechischen Arbeitnehmern wird angeraten, nicht so sehr auf die um ein Viertel oder ein Fünftel gesunkenen Löhne zu schauen und darüber zu lamentieren, sondern darauf, dass die Löhne in Bulgarien und Litauen noch deutlich niedriger sind. Das funktioniert immer, weil es immer Nachzügler bei den Löhnen gibt.

Es funktioniert natürlich nur, wenn man Exportüberschüsse weitgehend ausblendet. Denn sonst wäre es absurd zu sagen, Deutschland müsse mehr für seine Wettbewerbsfähigkeit tun, wo es doch einen extremen Außenhandelsübeschuss aufweist. Und siehe da, die makroökonomsiche Koordinierung, die sich die Präsidenten vorstellen ist auf diesem Auge tatsächlich zwar nicht ghanz blind, aber extrem schwachsichtig. Der Schwerpunkt bei der Abwehr von gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichten soll nämlich weiterhin bei Außenhandelsdefiziten liegen. Überschüsse werden in zweiter Linie als ein mögliches Problem genannt. Das ist anders als bei Defiziten aber nur der Fall, wenn sie „lang-anhaltend und groß sind und zum Beispiel von unzureichender Binnennachfrage oder unzureichendem Wachstumspotential herrühren.“ Deutschland und die EU-Kommission können danach auch wenn der Außenhandelsüberschuss (Leistungsbilanz) von derzeit schon extremen 7,5 Prozent der Wirtschaftsleistung noch stärker ansteigt, behaupten, das liege nicht an Nachfrageschwäche, sondern im Gegenteil daran, dass die deutschen Unternehmen so erfolgreich sind, und schon ist alles gut. Deutschland muss sich nicht anpassen und die anderen müssen weiter ihre Löhne kürzen, um wettbewerbsfähig zu werden.

Die Wettbewerbsräte sollen nicht etwa nur die öffentliche Meinung im Sinne der Arbeitgeber beeinflussen. Die Technokraten der EU-Kommission sollen die nationalen Lohnleitlinien der Technokraten in den Wettbewerbsräten durchsetzen können. Denn ein komplementäre Maßnahme der Präsidentenstrategie besteht darin, das Verfahren zur Feststellung makroökonomischer Ungleichgewichte zu verschärfen und gleichzeitig zur „Förderung von Strukturreformen“ zu nutzen. Die Lohnpolitik wird also zum makroökonomischen Ungleichgewicht erklärt und sanktioniert, wenn die Löhne nicht moderat genug steigen oder nicht genug fallen.  Frei von parlamentarischer Kontrolle könnte kann die Brüsseler Technokratie dann in jedem Land – oder besser in jedem kleinen und machtlosen oder verschuldeten Land – Druck ausüben, dass den Wünschen der Arbeitgeber nachgekommen wird. Denn, ob die Tarifpartner sich an die Lohndämpfungsleitlinie halten, soll mitbestimmen, ob die Kommission ein Verfahren wegen makroökonomischer Ungleichgewichte gegen ein Land beginnt. Dabei soll freundlicher Weise nicht angetastet werden, welche Institutionen in den jeweiligen Ländern auf welche Weise die Löhne aushandeln, solange sie sich an die Leitlinien der Wettbewerbsräte halten.

Die Performance und die Politiken auf dem Gebiet der Wettbewerbsfähigkeit zu beobachten und zu beurteilen, „würde helfen, divergierende ökonomische Entwicklungen zu verhindern“, wird in dem Bericht allen Ernstes behauptet.  Wie das geht, wird aus gutem Grund nicht zu erklären versucht. Denn wenn alle dauernd wettbewerbsfähiger werden sollen – also keine Land einen Vorsprung in höhere Lebensqualität in Form von höheren Masseneinkommen umsetzen soll – dann braucht es nur wenig, damit sich die Länder unter dieser Politik auseinanderentwickeln. Es müssen nur manche besser darin sein, wettbewerbsfähiger zu werden, als andere.

Ökonomisch ist es durchaus nötig und sinnvoll, in einer Währungsunion, die Lohnpolitik zu koordinieren, denn Wechselkursänderungen können sich auseinanderentwickelnde Wettbewerbsfähigkeit nicht mehr ausgleichen. Entwickelt sie sich auseinander, müssen die Löhne in den davonziehenden Ländern stärker steigen, und die Kostenvorteile in höheren Wohlstand umgesetzt werden. Wenn aber die Leitlinie nur lautet, sich bei der Lohnentwicklung an den Wettbewerbern mit der jeweils schwächsten Entwicklung der Löhne zu orientieren, dann bringt das nichts in Sachen Ausgleich. Es lässt sich nur mit dem Interesse der Arbeitgeber und der Investoren erklären an möglichst niedrigen Löhnen erklären.

Dabei ist die Fokussierung auf die sogenannte Wettbewerbsfähigkeit, die sich in hohen Gewinnen für Unternehmen messen lässt, in einem großen Wirtschaftsraum wie der EU, die nur 12 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung exportiert, völlig widersinnig. Zumal der Euro-Wechselkurs flexibel ist. Man muss also jederzeit damit rechnen, dass eine Aufwertung einen Gewinn an Wettbewerbsfähigkeit laufend wettmacht.

Die Binnenexporte innerhalb der EU kann zwar jedes Land durch Senkung der Löhne und sonstige Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Aber es ist offenkundig, dass dabei immer andere Länder das verlieren, was die einen gewinnen. Die Euro-Eliten sind auch keineswegs so dumm, dass sie das nicht verstünden, auch wenn gern so sie so tun. Ein Vortrag von Mark Carney, einem ehemaligen Goldman-Sachs-Manager, der heute die Bank von England leitet, mit dem schönen Titel „Fortune Favors the Bold”  von Januar wird  in einem Protokoll der EU-Kommission als einer von drei besonders wichtigen Inspirationsquellen für den Fünfpräsidentenbericht genannt.  (Ein anderer ist der Vortrag des ehemaligen Goldman-Sachs-Managers Mario Draghi, der die EZB leitet.) Carney sagt in diesem Vortrag unmissverständlich folgendes:

„Interne Abwertungen (=Lohnsenkungen etc.) verteilen nur Nachfrage innerhalb einer Währungsunion um. Sie erhöhen nicht die Nachfrage für die Wirtschaft des Euroraums insgesamt. Anders ausgedrückt: da Wettbewerbsfähigkeit relativ ist, kann eine Lösung für manche, keine Lösung für alle sein.“

Carney erklärt damit die zentrale Philosophie des Fünfpräsidentenbericht für ökonomische Quacksalberei. EZB-Präsident Draghi weiß das natürlich auch, und würde es seinen vier Mit-Präsidenten sicherlich bei Bedarf erklären. Aber es geht hier ja nicht um verstehen. Es geht hier um den Umbau Europas nach angelsächsischer Art, in eine neobliberale Hire-and-fire-Ökonomie, in der die Arbeitnehmer spuren und die Gewinne sprudeln – und entsprechend die „Gehälter“ der Spitzenleute in der Finanzbranche. Der oberste Angestellt der Finanzfirma, für die Draghi und Carney vorher gearbeitet haben, Lloyd Blankfein ist von seinem Gehalt gerade Milliardär geworden.

Die Geldpolitik wurde bereits technokratisiert, der Entscheidungsgewalt der Parlamente und damit des Volkes entzogen.  Die Finanzpolitik wurde in ein Korsett aus Regeln gesteckt und wird von Fiskalräten überwacht. Nun soll also nach den Vorstellungen der EU-Eliten die übrigen Wirtschafts- und Sozialpolitik auch noch den Technokraten überantwortet und den Volksvertretern entzogen werden. Wenn das gelungen ist, so ist die Entdemokratisierung von allem was Arbeitgebern und Finanzkapital wichtig ist, komplett.

Umdeutung der Krise um eine antidemokratische Prophylaxe zu rechtfertigen

Mit beträchtlicher lügnerischer Energie wird in dem Bericht die Geschichte der Finanz- und Eurokrise umgedichtet, in eine Krise, die wegen zu ausgabenfreudiger Regierungen entstanden, beziehungsweise eskaliert ist. Ich sage das mit der „lügnerischen Energie“ nicht leicht dahin. Die Täuschungsabsicht ist nachweisbar.

In der Präsentation der vier Präsidenten (ohne Schulz) für den informellen EU-Rat vom 12. Februar hieß es noch ziemlich korrekt und ehrlich (meine Übersetzung):

Zu Anfang war die Krise vor allem eine Finanzkrise, die im US-Subprimemarkt ausbrach und sich schnell über das global vernetzte Finanzsystem ausbreitete, einschließlich der europäischen Banken und sonstigen Finanzinstitutionen, insbesondere in den Ländern, wo die guten Zeiten der ersten Dekade des Euro zu Finanz- und Immobilienblasen geführt hatten. Für den Euroraum von besonderer Bedeutung war der negative Rückkopplungseffekt zwischen Bankschulden und Staatschulden: als Banken, die von zu großer Systemrelevanz waren, um scheitern zu dürfen, in finanzielle Schwierigkeiten gerieten und sich an ihre Staaten wandten und um Hilfe baten, konnte die Stabilität des Bankensystems nur zu Lasten der öffentlichen Finanzen der betreffenden Staaten garantiert werden …Daher wurde in diesen Ländern aus einer Bankenkrise schnell eine Krise der öffentlichen Finanzen, mit direkten Auswirkungen auf die Wirtschaft. Nicht zuletzt kann man auch sagen, dass die Krise eine Krise der Märkte war, was ihre Kapazität angeht, Länderrisiko korrekt zu bepreisen. Während der Maastricht-Vertrag auf der Annahme basierte, dass die Marktdisziplin das Schlüsselelement zur Vermeidung divergierender Entwicklungen der Volkswirtschaften des Euroraums und ihrer Staatshaushalte sein würde, mit steigenden Zinsen für Staatsanleihen als Signalgeber, so war dies in der Realität des Euroraum von 1999 bis 2008 nicht der Fall.“

Daraus wurde im endgültigen Bericht die folgende völlig verdrehte und verzerrte Darstellung:

„Eine der Hauptlektionen der Krise war, dass die (nationalen) Haushaltspolitiken eine Angelegenheit von vitalem gemeinsamem Interesse in einer Währungsunion ist. Nicht tragfähige Haushaltspolitiken gefährden nicht nur die Preisstabilität in der Währungsunion, sie beschädigen auch die Finanzstabilität, indem sie Ansteckung zwischen Mitgliedstaaten und Fragmentierung der Finanzmärkte verursachen.“

Die zentrale Rolle der Banken und das Versagen der Finanzmärkte bei der Ausfüllung der ihnen zugedachten Rolle, wurden aus den Lehren der Krise gestrichen.

Verantwortliche nationale Haushaltspolitik ist daher der Grundpfeiler der Währungsunion“, auf den es sich zu konzentrieren gelte, heißt es auf Basis dieser absichtsvoll verfälschten Krisenanalyse.

Das wird in dem Grundlagenpapier der vier Präsidenten unterfüttert durch die Behauptung: „Außerdem hat hohe Verschuldung normalerweise eine negative Wirkung auf das Wachstum (siehe Schaubild 6).“ Wenn man aber tatsächlich auf besagtes  Schaubild 6 schaut, dann zeigt das in keiner Weise einen negativen Zusammenhang von Verschuldung und Wachstum. Im Zuge der Diskussion um genau diese Behauptung von Ken Rogoff und Carmen Reinhardt, hatte sich ohnehin herausgestellt hat, dass sie allein auf einem Rechenfehler basierte, und das es diesen Zusammenhang einfach so nicht gibt. Vermutlich fehlte die theoretische Unterfütterung, seit klar ist, dass man mit dem Rogoff-Papier keinen Staat mehr machen kann, und so wurde schnell eine kleine Grafik gebastellt und den ökonomisch unbedarften Politikern beim EU-Rat weißgemacht, diese Grafik stützte die Behauptung.

Die Staaten finanziell austrocknen und mit finanziellen Anreizen aus Brüssel lenken

Nicht neu ist das Bestreben der fünf Präsidenten die Regierungen immer mehr finanziell auszutrocknen, damit sie noch so viel Geld für Soziales und ähnlich unnütze Dingen ausgeben können.

Die gemeinsame (also Brüsseler) (Entscheidungskompetenz über nationale Haushalte soll aber weiter gestärkt werden. Mit den bereits etablierten unabhängigen Fiskalräten auf nationaler Ebene scheint die Euro-Elite noch nicht richtig zufrieden zu sein. Darin sitzen oft keine Ökonomen und sie bewerten noch zu oft nach Recht und Gesetz und nicht nach der neoliberalen Vorstellung, dass die Ausgaben gar nicht niedrig genug sein können. Deshalb schlagen die fünf Präsidenten einen Europäischen Fiskalrat vor, der „die nationalen Fiskalräte koordiniert und ergänzt“. Er soll eine öffentliche und unabhängige Einschätzung abgeben, wie die Aufstellung und Umsetzung der nationalen Haushalte „gemessen an den ökonomischen Zielen des Rahmenwerks der EU Fiskalaufsicht“ zu beurteilen sind. Wer in diesem EU-Fiskalrat sitzen soll, und wer hierüber bestimmt, wird offen gelassen. Man darf wetten, dass die Mitglieder nicht vom Parlament gewählt werden sollen. Das Urteil soll „ökonomischer“, nicht „rechtlicher“ Art sein. Die Kommission wäre ausdrücklich frei, sich auszusuchen, ob sie sich bei der Verhängung von Sanktionen am Urteil des nationalen Fiskalrats, des europäischen oder keines von beiden ausrichtet.

Wenn alle nationalen Haushalte hinreichend auf Austerität gepolt sind, soll eine europäische fiskalische Stabilisierungsfunktion eingerichtet werden. Das soll aber keinesfalls ein automatischer Stabilisator werden, auch wenn der Präsidentenbericht das fälschlicher Weise so nennt. Vielmehr soll sie ebenfalls in den Dienst der Durchsetzung von Austerität und investorenfreundlicher Politik gestellt werden. Nur Länder, deren Spar- und „Reform“-Eifer als ausreichend eingeschätzt wird, würden im Krisenfall Zahlungen aus dieser angeblichen Stabilisierungskasse bekommen.

Die massiven Eingriffe in die Haushaltssouveränität der nationalen Parlamente sollen erklärter Maßen durch eine stärkere demokratische Legitimierung auf europäischer Ebene kompensiert werden. Aber eben nur erklärter Maßen, nicht tatsächlich. Wie bereits dargestellt, soll es nur um Scheinlegitimität gehen. Zu sagen haben – im Sinne von entscheiden – sollen die europäischen Parlamentarier nichts.

Warum die stärkere demokratische Legitimierung – von Kontrolle wird aus gutem Grund nicht geredet – aus Sicht der Euro-Eliten ein Lippenbekenntnis bleiben muss, macht der Mannheimer Wirtschaftsprofessor Hans Peter Grüner in einem Gastkommentar im Handelsblatt (23.7.) überdeutlich. Er warnt, der Vorschlag eines Parlaments für den Euroraum habe Tücken, denn „nach der aktuellen Straßburger Sitzaufteilung hätten die Abgeordneten der hochverschuldeten Euro-Staaten eine komfortable Mehrheit. Man darf also Zweifeln, ob dies zu mehr Austerität führt.“ Stattdessen wirbt Grüner dafür, dem Ziel „mehr Austerität“ mit Sanktions- und Anreizmechanismen für die nationalen Regierungen näher zu kommen. Das scheint genau der Ansatz der fünf Präsidenten zu sein, wenn man den Bericht liest.

Steuerpolitik? Unwichtig für einen Luxemburger

Interessant ist auch, was nicht, oder nur sehr kurz in dem Bericht auftaucht. Am wenigsten überraschend ist, dass Jean-Claude Juncker, der langjährige Finanzminister und Regierungschef des windigsten Steuerparadieses in Europa, Luxemburg, in dem Bericht nur genau eine Zeile für die Koordinierung der Steuerpolitik reserviert, als Teil einer Aufzählung dessen, was man irgendwann später auch noch angehen könnte. Das heißt: einer der wichtigsten Gründe für die schlechte Entwicklung der Steuereinnahmen und damit die Defizitentwicklung von Ländern wie Griechenland, die massive Steuerflucht der Konzerne mithilfe von halblegalen Steuerparadiesen wie Luxemburg, wird nur im Vorübergehen ganz kurz touchiert. Das sieht so aus, als ginge es nur darum es einmal erwähnt zu haben, damit keiner sagen kann, man habe das Thema ignoriert.

Banken: Weiter so, nur zentral von Frankfurt aus

Was die Banken angeht, wird so getan, als sei es schon die Lösung für die bisher völlig falsche Regulierung, dass diese jetzt von der EZB auf europäischer Ebene weitergeführt wird. Den Regierung soll die Bankenregulierung und -aufsicht entzogen werden, denn die Taschen der meisten nationalen Regierungen sind nicht mehr groß genug , um die Megabanken zu retten, wenn es nötig ist. Deshalb sollen die Banken auch zur Einlagensicherung auf die tieferen Taschen des europäischen Steuerzahlers insgesamt zurückgreifen können, der über eine europäische Einlagensicherung und über direkte Hilfen vom Rettungsschirm ESM haften soll.

Den Geist dieser Vorschläge zeigt am besten der Vorschlag im Fünfpräsidentenbericht, dass für die Bankenrettung eine stehende Kreditlinie des ESM zur Verfügung stehen soll, den Steuerzahler nichts kosten soll, weil sie im Nachhinein durch nachträgliche Abgaben der Finanzbranche wieder hereingeholt werden soll. Wenn diese Krise und die extrem teuren Bankenrettungen darin irgend etwas gezeigt haben, dann dass man im Nachinein von einem geschwächten Bankensektor unmöglich derartige Summen eintreiben kann, wie diese Rettungsaktion. Draghi und seine vier Mitpräsidenten tun so, als wüssten sie davon nichts.

Und was die Kapitalmärkte angeht, so wird diesen in dem Bericht wieder genau so absichtsvoll naiv wie früher eine zentrale Rolle bei der Risikostreuung und damit der Erhöhung der Robustheit der Finanzmärkte und der Währungsunion zugedacht , als wäre dieser marktfundamentalistische Optimismus durch die Krise in keiner Weise diskreditiert worden (Siehe auch Annex.)

Fazit

Zusammengefasst sieht die Vision der fünf Präsidenten für den Euroraum so aus: Die Kommissionsbürokraten und die Technokraten von der EZB bestimmen, was gute Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik ist. Im Wesentlichen ist das Schuldenabbau beim Staat und angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die gute Gewinnchancen für private Unternehmen mit dem allgemeinen Wohl gleichsetzt. Mit Sanktionen und finanziellen Anreizen werden die Mitgliedsländer dazu gebracht, diese Politik zu verfolgen.

P.S.: EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Cœuré hat seinen französischen Landsleuten in einem Zeitungsinterview (deutsch) das postdemokratische Fünfpräsidenten-Projekt unter anderem mit folgenden schönen Worten nahegebracht, in denen er „Solidarität“ umdeutet in:

Es mangelt an kollektiver Wachsamkeit, aber auch an Solidarität. Denn Solidarität ist, wenn man seinen Nachbarn davor warnt, dass die Ungleichgewichte in seinem Land ihm unter Umständen schaden könnten. Gleichermaßen können sich Regierungen von Reformen inspirieren lassen, die sich in anderen Ländern bewährt haben. Warum nicht von diesem gemeinsamen Erfahrungsschatz profitieren?

Annex: Die Lügen des Mario Draghi

Da diese Analyse des Fünfpräsidentenmachwerks jetzt schon ziemlich lang geraten ist, habe ich die mit erkennbarer Täuschungsabsicht konstruierte Rechtfertigung für angemahnte Stärkung der internationalen Kapitalmärkte (also der großen Banken und sonstigen internationale tätigen Finanzinstitute) in einen Annex für die besonders Neugierigen ausgelagert. Der Bericht selbst enthält fast keine Begründungen dafür.

Die Begründungen werden in einer Rede des ehemaligen Goldman-Sachs-Managers und heutigen EZB-Chefs Mario Draghi von November 2014 in Helsinki ausgeführt. Diese Rede nennt die Kommission neben der schon erwähnten Rede des ehemaligen Goldman-Sachs-Managers Carney und einem noch separat zu behandelnden Bericht des EU-Parlaments als eines der für den Fünfpräsidentenbericht wichtigen programmatischen Werke.

Die grenzüberschreitenden Kapitalmärkte sind für Draghi eminent wichtig, um im Falle negativer wirtschaftlicher Entwicklungen einen Teil der Belastung aus dem besonders betroffenen Land in andere Länder zu exportieren. Insbesondere der Aktienmarkt sei sehr wichtig dafür, aber auch mehr Kreditvergabe an die Unternehmen über die Anleihemärkte, wie in den USA.

Draghi nennt ausdrücklich die USA als positives Beispiel und beruft sich auf eine „bekannte Studie, die herausgefunden hat, dass in den USA etwa zwei Drittel der ökonomischen Schocks über integrierte Finanzmärkte äbsorbiert werden.“ Dagegen würden Studien zum Euroraum zeigen, dass hier die Kapitalmärkte viel weniger effektiv seien, bei der Glättung der Einkommen. Wie so oft, bei Fußnoten in solchen Texten scheint sich Darghi darauf zu verlassen, dass keiner nachliest, was dort tatsächlich steht.

In der in der Fußnote aufgeführten Studie, einem Arbeitspapier, steht nämlich:

„Der höhere Anteil ungeglätteter Schocks ist vor allem ein Ergebnis der geringeren  Glättung über die Kreditmärkte, und hier insbesondere des weniger ausgeprägten prozyklischen Sparverhaltens der Regierungen, und nicht des Privatsektors.“

Mit anderen Worten: Gezeigt wird, das es vor allem daran liegt, dass in Europa die Regierungen der Staaten ihre Kreditaufnahme im Aufschwung weniger stark zurückfahren und im Abschwung weniger ausdehnen als die Bundesstaaten der USA. Der Kern des Problems hat also nach der von Draghi zitierten Studie überhaupt nichts mit der Intergration der Aktiienmärkte und der grenzüberschreitenden Kreditvergabe an Unternehmen über die Anleihemärkte zu tun, sondern mit der guten alten antizyklischen Finanzpolitik (Balli Sorensen 2007).

In den zitierten Studien findet man auch die Aussage:

Seit der Krise jedoch war der Effekt des Kapitalmarktkanals das Gegenteil von Glättung. Das deckt sich mit jüngsten Ergebnissen von Furceri und Zdzienicka. (2013). (siehe auch IWF 2013 a), die in finanziellen Krisenzeiten negative Glättung gleicher Größenordnung feststellen.“

Die angeführte Literatur betont also genau die Schockverstärkungs- und –ausbreitungsfunktion integrierter Finanzmärkte, die jeder Halblaien während der Finanzkrise leicht beobachten konnte. Dabei wird die krisenverstärkende Wirkung auf die erhöhten Zinszahlungen an das Ausland zurückgeführt, die die Peripherieländer in Krisenzeiten plötzlich leisten mussten.

Draghi verweist auf diese Studien und tut dabei so, als würden sie das Gegenteil dessen belegen, was darin steht, als würden integrierte Kapitalmärkte den Krisenländern in einer Krise helfen. Diese dreist unredliche Verdrehung stellt erkennbar die Basis dessen dar, was in dem Fünfpräsidentenbericht zum Thema Stärkung und Integration der Finanzmärkte steht.

Noch zum Thema:Wie Martin Schulz mit dem Fünfpräsidentenbericht sein Parlament verraten hat

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