Leicht zu übersehen, deshalb wohl auch kaum beachtet, hat die Bundesagentur für Arbeit am 30. Januar 2020 erklärt: „Von Oktober 2019 bis Januar 2020 waren insgesamt 67.000 Ausbildungsstellen noch zum sofortigen Beginn gemeldet, die besetzt werden sollten. Davon waren im Januar noch 11.000 unbesetzt. Gleichzeitig waren 64.000 Bewerberinnen und Bewerber gemeldet, die weiterhin, erneut oder erstmalig eine Ausbildung zum sofortigen Eintritt suchten. Insgesamt waren im Januar 2020 – zum Ende der Nachvermittlung – noch 27.000 gemeldete Bewerberinnen und Bewerber unversorgt sowie weitere 19.000 trotz vorhandener Alternative weiterhin auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle.“ (1)
Das ist ziemlich verwirrend formuliert, deshalb in unseren klareren Worten: Trotz des dauernden Geredes von Fachkräftemangel fehlen heute mindestens 35.000 Ausbildungsplätze für ausbildungswillige und gemeldete Jugendliche.
Versäumnisse der Vergangenheit
Bei der Recherche zu einem noch unveröffentlichten Artikel bin ich auf Zahlen des Jahres 2007 gestoßen und formuliere: „Nach Angaben vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) standen noch im Jahre 2007 den 734.000 Ausbildungsplatzbewerbern nur 516.000 Ausbildungsplätze gegenüber (https://www.bibb.de/de/16623.php), obwohl öffentlich schon vor Fachkräftemangel gewarnt wurde.“ Die damals überwiegend 15 bis 20-Jährigen Jugendlichen könnten heute 28 bis etwa 33-Jährige Fachkräfte sein.
Schulgeld ausgerechnet in Mangelberufen
Erst 2017 wurde im Pflegeberufegesetz festgelegt „Zukünftig wird kein Schulgeld mehr gezahlt werden.“ Noch Mitte 2019 mussten die Gesundheitsminister der Länder bei ihrer Konferenz in Leipzig das Bundesgesundheitsministerium daran erinnern. (vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/gesundheitsminister-abschaffung-schulgeld-gesundheitsberufe-pflege-100.html vom 6.6.2019), U.a. das Land Mecklenburg-Vorpommern übernahm inzwischen in Eigenbezahlung ab dem Schuljahr 2019/2020 das Schulgeld wenigstens für Pflegeberufe. „Neun Bundesländer haben das Schulgeld schon abgeschafft“ zitiert die Süddeutsche am 24.10.2018 einen Politiker. Ist das Wort „schon“ angesichts des jahrelang bekannten Defizits nicht eigentlich ein Skandal?
„Schulgeldfreiheit für Erzieherinnen- und Erzieherausbildung diskutiert“ titelt die GEW am 10.7.2019 und weiter im Artikel: „Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) hat angekündigt, das Schulgeld für die Ausbildung von Erzieherinnen und Erzieher abschaffen zu wollen.“ Wundert so der Mangel? Von den zukünftig zu erwartenden Löhnen lässt sich eine spätere Rückzahlung der Schulgeld-Schulden kaum bewältigen.
Versäumnisse von heute mit Wirkung für morgen
Heute gibt es ständig Meldungen über zu wenige Lehrer, fehlende und kaputte Schulgebäude, wie „Schulen platzen aus allen Nähten“, Kölner Stadt-Anzeiger 4.2.2020. Zusammen mit den oben aufgezeigten Ausbildungsplatzdefiziten scheinen wir den Mangel der nächsten Jahrzehnte vorzubereiten. Dafür wird dann sicherlich wie heute die Demografie verantwortlich gemacht und nicht das heutige Sparen in Bildung, Ausbildung und bei den Löhnen.
Mit den genannten Argumenten wird nicht verneint, dass in einzelnen Berufen und Regionen ein Defizit an Fachkräften vorliegt. Er ist aber überwiegend selbst verschuldet und betrifft bei weitem nicht alle Berufe- und Regionen, wie eine Analyse der Bundesagentur für Arbeit („Engpassanalyse“) belegt. Die Konsequenzen aus der (angeblichen?) Angst vor dem Fachkräftemangel sind bei Weitem nicht ausreichend.
Fußnote: (1) Presseinfo Nr. 06, Der Arbeitsmarkt im Januar, s. Anlage S. 2,
Gerd Bosbach lehrt Statistik, Mathematik und Empirie an der Fachhochschule Koblenz und lebt in Köln. Tiefen Einblick in die amtliche Statistik und den Umgang der Politik mit diesen Daten erhielt er bei seiner mehrjährigen Tätigkeit im Statistischen Bundesamt, für das er verantwortlich Finanz-, Wirtschaftsministerium und die wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestages beriet. Er ist Ko-Autor mit Jens Jürgen Korff von „Die Zahlentrickser“ und „Lügen mit Zahlen“. Website: www.luegen-mit-zahlen.de